Neue Nahostpolitik im Schatten des Afghanistan-Krieges?
Die USA stoßen auf Gegenwehr bei Scharon. Ein Artikel von Uri Avnery (Israel)
Im Oktober hielt der große kritische Publizist Israels Uri Avnery Vorträge in den USA. Einen davon dokumentieren wir im Folgenden in der deutschen Übersetzung, die von der Wochenzeitung "Freitag" angefertigt wurde. Er erschien im Freitag unter dem Titel "Taub sind die Krieger". Uri Avnery fragt nach den Motiven für eine neue Nahostpolitik der USA und den Hindernissen dafür in der israelischen Regierungspolitik.
Praktisch über Nacht unterwarf die Bush-Administration nach dem 11.
September ihre Nahostpolitik einer gründlichen Inventur - bis dahin hieß es
in Washington: Lasst sie bluten, lasst sie sich gegenseitig töten. Wenn
auf beiden Seiten genug Leute umgebracht wurden, bleibt immer noch
genügend Zeit für eine Intervention. Bereits am Tag nach den Anschlägen
von New York und Washington hatte Außenminister Colin Powell auf einer
Pressekonferenz zum nicht geringen Erstaunen vieler Israelis die
Notwendigkeit betont, den israelisch-palästinensischen Konflikt zu lösen.
Den Amerikanern war vermutlich noch am 11. September die Verknüpfung
zwischen den Attentaten, der Stimmung in der arabischen Welt und dem
israelisch-palästinensischen Konflikt klar. Plötzlich sprach auch Präsident
Bush von "der Vision eines palästinensischen Staates". Vor der
UN-Vollversammlung war von ihm ein Plädoyer "für zwei Staaten - Israel
und Palästina" zu hören, erstmals in der Ära Bush wurde damit Palästina
öffentlich die Eigenstaatlichkeit zugestanden. Außenminister Powell hatte
schon im Vorfeld der Generalversammlung keinen Zweifel an seiner
Forderung gelassen: Der Konflikt muss gelöst werden. Schließlich bat der
"wichtigste Sprecher" der amerikanischen Politik, Großbritanniens Premier
Tony Blair, Yassir Arafat nach London, um ihm zu bedeuten, dass die
Palästinenser die Unabhängigkeit erreichen müssten.
Das alles ergab sich als logische Konsequenz aus der US-Politik nach
dem 11. September. Denn wenn man den Terrorismus bekämpfen will,
braucht man eigentlich weder Artillerie noch Langstrecken-Bomber - allein
erfolgversprechend ist es, die den Terrorismus umgebende öffentliche
Meinung für sich zu gewinnen, um die Terroristen zu isolieren.
In jungen Jahren gehörte ich zur Untergrundorganisation Irgun. Wir nannten
uns "Freiheitskämpfer", während die britische Mandatsregierung in
Palästina auf "Terroristen" plädierte. In der Zwischenzeit habe ich
verstanden, dass es eigentlich nur den einen Unterschied zwischen
Freiheitskämpfern und Terroristen gibt: Erstere sind auf meiner Seite -
letztere auf der gegnerischen. Ich glaube jedoch, dass ich dank dieser
Erfahrung sehr viel über Terrorismus und dessen Bekämpfung lernen
konnte. Eine terroristische Struktur kann sehr klein sein, es gilt das
Prinzip: je kleiner, desto effektiver. Sollte es also der US-Armee gelingen,
die Taleban zu stürzen und Osama bin Laden zu töten, dürfte der
Terrorismus dadurch nur effektiver werden - nicht zuletzt deshalb, weil er
nicht mehr von einem publizitätssüchtigen, saudischen Millionär angeführt
wird, sondern von pragmatischen Drahtziehern. Bin Laden ist eigentlich "zu
gut, um wahr zu sein". Er entspricht genau dem, was sich vermutlich
Regisseure in Hollywood unter einem Terroristenführer vorstellen.
Attraktiver Mann, schwarzer Bart, subtile Rhetorik, gute mediale Präsenz.
Als ich seinerzeit bei Irgun war, wusste ich nicht, wer meine
Kommandeure sind. Ich habe sie nie gesehen, nie von ihnen gehört, nie
auch nur ihre Namen erfahren. Nach diesem Kodex der Anonymität wird
eine Untergrundorganisation geführt. Wird bin Laden getötet, werden ihn
andere, diskretere Führer ersetzen.
Allerdings kann eine kleine Untergrundorganisation nur dann erfolgreich
sein, wenn sie von einem großen Teil der Bevölkerung getragen wird. Sie
braucht Geld, sie braucht Leute, die ihre Botschaften verbreiten, sie
braucht ein Rekrutierungsfeld für neue Kämpfer. Sie braucht Leute, die
bereit sind, Terroristen notfalls zu verstecken - sie braucht vor allem ein
dem Terroristen gegenüber positiv eingestelltes Umfeld.
Mao hat die Kämpfer seiner Volksbefreiungsarmee einst mit Fischen
verglichen: Das Wasser, in dem sie schwimmen könnten, sei die
Bevölkerung. Mit anderen Worten, fällt die Unterstützung der arabischen
Massen für die Terroristen, verlieren die sofort an Wert. Deshalb muss der
wirkliche "Krieg" um die öffentlichen Meinung der arabischen und
muslimischen Welt geführt werden. Aber um die überhaupt anzusprechen,
sollte es für den israelisch-palästinensischen Konflikt zumindest
Anzeichen einer Lösung geben, damit die Stimmung der Araber nicht
weiter vergiftet wird.
Deshalb ist Bush zu einer aktiven Nahostpolitik zurückgekehrt, und genau
deshalb kreuzen Amerikaner und Israelis augenblicklich auf Kollisionskurs.
Ariel Scharon lehnt einen möglichen Frieden ab, was aber nicht heißt,
dass er gegen den Frieden ist, nur will er dafür eben keinen Preis zahlen
müssen. Dieser Preis steht weitgehend fest und unterteilt sich wie folgt:
Die Bildung eines palästinensischen Staates, der neben Israel existieren
kann; Israel muss auf die Grenzen zurück, wie sie vor dem
Sechs-Tage-Krieg von 1967 bestanden. Jerusalem muss geteilt werden;
Ostjerusalem wird die Hauptstadt des palästinensischen Staates,
Westjerusalem die Israels. Alle israelischen Siedlungen müssen geräumt
werden, es sei denn, beide Seiten können sich auf einen adäquaten
Gebietsabtausch einigen. Schließlich wird eine gerechte und praktikable
Lösung der Flüchtlingsfrage gebraucht.
Nur will Ariel Scharon diesen Frieden nicht, in keinem der genannten
Punkten ist er kompromissfähig, schon gar nicht in der Frage eines
lebensfähigen palästinensischen Staates. Er ist bestenfalls bereit, den
Palästinensern vier oder fünf Enklaven zuzubilligen, die jeweils von
israelischen Siedlungen umkreist wären. Und er ist auf keinen Fall bereit,
über den Status von Jerusalem zu diskutieren.
Jeder Friedensvorstoß, den Washington unternimmt, widerspricht der
Politik des Kabinetts Scharon, so dass sich auch die amerikanischen
Juden in Kürze wohl fragen müssen, inwieweit sie die jetzige Politik Israels
noch mittragen wollen. Dies bedeutet nicht - davon bin ich im Innersten
überzeugt -, dass sie zwischen den USA und Israel wählen müssen. Ich
glaube vielmehr, dass ein solcher Friede, wie er nun angestrebt wird, den
wirklichen Interessen Israels entspricht, weil das Vorgehen Scharons auf
lange Sicht eine Gefährdung Israels darstellt. Die amerikanische Regierung
sollte beschleunigt eine internationale Friedenskonferenz einberufen,
ähnlich der vor zehn Jahren in Madrid - sie sollte damit nicht bis zum Ende
dieses Krieges warten, weil es kein Ende dieses Kriegs gibt.
Aus: Freitag, Nr. 47, 16. November 2001
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