Ist das schon der Krieg? - Der Nahe Osten nach dem Selbstmordattentat von Jerusalem
Israelische Friedensbewegung Gush Shalom: "Die Besatzung tötet uns alle."
Die Zahl der Toten, die bei dem Anschlag in einem Schnellrestaurant ("Sbarro") in Jerusalem am 9. August ums Leben kamen, hat sich mittlerweile (10. August) auf 19 erhöht. Darunter befinden sich auch einige Kinder. Der Selbstmordanschlag, zu dem sich die radikale Palästinenserorganisation Islamu Dschihad (Heiliger Krieg) bekannt hat, ist der schwerste seit dem fürchterlichen Attentat vor der Diskothek in Tel Aviv am 1. Juni. Damals starben 21 Jugendliche. Auch wenn in der Folgezeit unter starkem internationalen Druck ein Waffenstillstand zwischen Israel und den Palästinensern ausgehandelt wurde - er wurde am 13. Juni unterzeichnet -, gingen die gewaltsamen Auseinandersetzungen beinahe unvermindert weiter. Auf palästinensischer Seite häuften sich die Akte individuellen Terrors gegen beliebige militärische und zivile Ziele, die israelische Seite übte sich überwiegend in Akte gezielter Hinrichtungen abgeblicher oder "potenzieller" Terroristen sowie in Angriffen auf palästinensische Polizeistationen im Gazastreifen und in der Westbank. Beide Seiten berufen sich in ihren todbringenden Aktionen auf "historisches Recht", auf das "Recht" auf "Vergeltung", auf das "Recht", sich gegen den Terror der jeweils anderen Seiten mit Waffengewalt schützen zu dürfen. Dabei ist nie genau auszumachen gewesen, welche Mordtat die Aktion und welche die Reaktion war. Nach dem Gesetz der Rache gebiert jede Tat eine neue Tat.
Viele Israelis warten auf den finalen Vergeltungsschlag
Seit Wochen hält sich in Israel und in den Palästinensergebieten das Gerücht, Ministerpräsident Scharon bereite sich auf einen großen militärischen Schlag gegen die Autonomiebehörde vor. Die ultrarechten Kräfte in Israel fordern geradezu einen finalen Vernichtungsschlag gegen Arafat, den man nach wie vor als Drahtzieher und Verursacher jeglicher Gewalt gegen Israel ansieht. Und Hamas, "Heiliger Krieg" und andere radikale Palästinensergruppen, deren Arm bis in die Fatah-Organisation von Arafat hinein reicht, handeln bereits so, als befänden sie sich mitten im Krieg. Dabei verletzen sie mit ihren willkürlichen Anschlägen auf unschuldige zivile Opfer selbst alle Regeln des "humanitären Kriegsrechts". Es ist ein vollkommen aus den Fugen geratener, entgrenzter Gewaltkonflikt, der sich schon seit langem aus seiner eigenen Gewaltspirale speist.
Hass und Verblendung sind die am weitesten verbreiteten und gefährlichsten Regungen der Eiferer auf beiden Seiten. "Tod den Arabern" rufen die einen, "Tod den Israelis" die anderen. Das Gefährliche an der Situation ist, dass der Ruf der Israelis auf offene Ohren im israelischen Kabinett stößt und dass der nach wie vor eher mäßigende Palästinenserpräsident Arafat auf immer weniger Rückhalt in der von ihm vertretenen Bevölkerung in den besetzten Gebieten rechnen kann. Ähnlich dürfte es Außenminister Peres im israelischen Kabinett gehen. Der Friedensnobelpreisträger kritisierte in den letzten Wochen nur noch leise und selten die militärisch bestimmte Linie Scharons. Nach dem verheerenden Anschlag auf die Pizzeria wurde er im Fernsehen nach den Zukunftsaussichten gefragt. Seine Antwort ist ein Musterbeispiel für seinen Zustand innerer Zerrissenheit: "Hoffnung und Realismus schließen sich nicht gegenseitig aus: Ich hoffe, dass es bald Frieden geben wird, und realisiere, dass das wahrscheinlich nicht möglich ist." (Zit. n. netzeitung, 10.08.2001)
Was Botschafter Stein unter "Präventivmaßnahmen" versteht
Über eines konnte man sich - auch in Israel - klar sein: Die staatliche Politik der "Vergeltungsschläge" und der Liquidationen hat schon immer unerwünschte, heftige Reaktionen der Gegenseite hervorgerufen. In Erinnerung ist beispielsweise die palästinensische Reaktion auf die Ermordung des Hamas-Aktivisten Jehie Ajasch vor fünf Jahren. Der mutmaßliche Terrorist und "Bomben-Ingenieur" Ajasch wurde vom israelischen Geheimdienst nach allen Regeln der Kunst in die Luft gesprengt. Innerhalb von nur zehn Tagen erfolgten daraufhin zwei Selbstmordattentate auf eine Jerusalemer Buslinie - nicht weit von der Pizzeria "Sbarro" entfernt - sowie ein Sprengstoffanschlag vor dem Dizengoff-Zentrum in Tel Aviv. Insgesamt 60 Israelis, vorwiegend Zivilisten, waren dabei ums Leben gekommen. Der Jerusalemer Bürgermeister mochte daran gedacht haben, als er nach dem gestrigen Anschlag auf die Pizerria vor Racheakten warnte und feststellte: "Es gibt Terroranschläge, die nicht verhindert werden können." (Zit. n. FAZ, 10.08.2001)
Weniger von der Situation vor Ort dürfte der israelische Botschafter in Berlin, Shimon Stein, verstanden haben. Das Attentat, so ließ er verlauten, zeige, dass die "Präventivmaßnahmen" Israels in den vergangenen Monaten gerechtfertigt gewesen seien. "Wir tun dies, um unsere Bürger zu schützen." (ngo-online, 10.08.2001) Wenn unter "Präventivmaßnahmen" die militärische Abriegelung von Palästinensergebieten, die staatliche verordneten Exekutionen mutmaßlicher palästinensischer Terroristen und die gezielten Panzer- und Raketenangriffe auf reguläre Polizeistationen der Autonomiebehörde gemeint sind, dann wurde hier der Begriff der "Prävention" geradezu in sein Gegenteil verkehrt: Nicht Vermeidung von Gewalt war das Ergebnis, sondern eine Steigerung der Gewalt, nicht der "Schutz der Bürger" wurde erreicht, sondern das Risiko erhöht, überall im Land von einer Bombe in die Luft gesprengt zu werden - auf der Straße, im Supermarkt, im Restaurant, in einem Bus oder in einem Taxi.
Abdulla Franghi ist zwar kein Botschafter, sondern nur der Generaldelegierte Palästinas in der Bundesrepublik, aber er kommt der Wahrheit des Wirkungsmechanismus' der Gewalt im Nahen Osten viel näher als sein Gegenspieler Shimon Stein. Franghi gab der israelischen Regierung die Schuld am Attentat. Der "große Fehler" Israels sei es gewesen, "palästinensische Führungskräfte zu exekutieren".
Besetzung des Orient-Hauses: Eine Art Kriegserklärung
Franghis Hoffnung indessen, Scharon werde nun die "Lehren ziehen" und die israelische Besatzungspolitik ändern, dürfte zunächst nicht aufgehen. Einen Tag nach dem Terroranschlag in Jerusalem reagiert er nämlich wie gehabt: Im Westjordanland zerstörte die Liuftwaffe das Hauptquartier der palästinensischen Polizei in Ramallah; vor der Stadt Jenin fuhren Panzer auf; über Bethlehemm kreisten Hubschrauber und am Grenzübergang Karni im Gazastreifen zerstörten israelische Panzer einen Polizeistützpunkt der Palästinenser. Als schicksalsschwerste "Vergeltungs"-Maßnahme dürfte sich aber die Schließung des Büros der Palästinensischen Autonomiebehörde in Jerusalem herausstellen. Bereits in der Nacht zum 10. August besetzte israelische Polizei das so genannte "Orient-Haus", das auch als Sitz der PLO in Jerusalem dient. Nach der Besetzung beschlagnahmte sie zahlreiche Akten und - der Gipfel der Provokation - hisste auf dem Gebäude die israelische Fahne. Diese Aktion mag überraschend gekommen sein, sie war aber nach Einschätzung der Experten von langer Hand vorbereitet. Es ist der Beginn einer Entwicklung, von der die Israelis in der letzten Zeit immer häufiger gesprochen haben: Die palästinensische Autonomiebehörde sollte in ihrem Zentrum getroffen, vielleicht sogar völlig ausgeschaltet werden, und Arafat und seine Leute würden wieder dahin geschickt, wo sie her kämen: ins Exil. Das Orient-Haus ist für die Palästinenser mit so vielen bedeutungsschweren Symbolen behaftet (siehe dazu die Erläuterungen weiter unten), dass dessen Verlust einer Kriegserklärung gleich kommt.
Entsprechend reagierten in Jerusalem auch jene arabischen und israelischen Kräfte, denen am Frieden gelegen ist. Dutzende Friedensaktivisten, Palästinenser und linkksgerichtete Israelis haben am Nachmittag des 10. August versucht, das Orient-Haus zu besetzen. Die französische Nachrichtenagentur AFP meldete, dass unter den sechs Demonstranten, die bei der Aktion festgenommen wurden, auch Deutsche gewesen seien. Die Tagesschau der ARD sprach von etwa 100 Demonstranten und zeigte Bilder von selbst gemalten Plakaten und Transparenten: "Beendet die Besetzung", "Unterdrückung bringt Wut hervor", "Kein Frieden ohne Ende der terroristischen Besatzung", waren einige davon. Zu Demonstrationen kam es auch in anderen palästinensischen Städten (z.B. Ramallah, Nablus)
Erklärung der israelischen Friedensbewegung Gush Shalom
In einer Stellungnahme des zur Zeit aktivsten Teils der israelischen Friedensbewegung, des Friedensblocks Gush Shalom, vom 9. August heißt es:
"Nach dem terroristischen Anschlag in Jerusalem fordert Gush Shalom einmal mehr internationale Beobachter. Der Kreislauf von Rache, Vergeltung und Präventivschlägen, die ihrerseit gerächt werden müssen, kann vielleicht noch gestoppt werden, bevor die ganze Region in Flammen aufgeht.
Der Selbstmordanschlag heute hat auf eine schmerzliche und schreckliche Art unter Beweis gestellt, dass die Politik der Gewalt fehlgeschlagen ist. Es hat sich - für alle sichtbar - herausgestellt, dass die Serie von "Liquidationen", die von der israelischen Regierung in den letzten Wochen durchgeführt wurde, dem Terrorismus kein Ende gesetzt haben. Im Gegenteil: Diese Hinrichtungen haben vielmehr die Enttäuschung und den Hass der palästinensischen Seite weiter gestärkt. Noch härtere Gewaltaktionen, welche die Scharon-Regierung heute wahrscheinlich beschließen wird, werden dasselbe Resultat haben und die Spirale des Blutvergießens wird sich weiter drehen und immer mehr Opfer fordern. Die Besatzung tötet uns alle: Die israelische Besatzung der Westbank und des Gazastreifens ist die Hauptursache von Gewalt und Hass. Solange die Besatzung bestehen bleibt, wird das Blutvergießen weitergehen und zunehmen.
Gush Shalom rufen die Vereinigten Staten und die anderen ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrats auf, ihre abwartende Haltung, deren Preis Menschenleben sind, aufzugeben und unverzüglich eine internationale Beobachtermission in die besetzten Gebiete zu schicken, um einen Waffenstillstand durchzusetzen. Das ist der einzige Weg die Eskalation zu stoppen und einen totalen Krieg zu verhindern, der die ganze Region in Brand setzen würde."
Dem ist nichts mehr hinzuzufügen.
Pst
Symbol für den Anspruch auf ganz Palästina
(Das Orient-Haus) war die Vertretung von Jassir Arafats
Palästinensischer Befreiungsorganisation (PLO). Als Büro für
internationale Beziehungen war es eine Art palästinensisches
Außenministerium. Es war Sitz einer Organisation, die Palästinensern half, in
Ost-Jerusalem Häuser zu bauen, und es barg eine
Dokumentation über israelischen Siedlungsbau im arabischen
Teil Jerusalems. Schließlich beherbergte es auch die von seinem letzten
Besitzer, dem kürzlich verstorbenen PLO-Funktionär Faisal
al-Husseini gegründete Arab Studies Society. Das
Orient-Haus war vor allem aber Symbol für den historischen
Anspruch der Palästinenser nicht nur auf Jerusalem, sondern
auf das ganze Land Palästina.
Das prächtige Gebäude wurde 1897 als Privatvilla von Ismael
Mussa al-Husseini, einem Vorfahren Faisal al-Husseinis,
errichtet. Es war die Zeit, in der sich in Europa der Zionismus
als nationale Bewegung der Juden formierte und in der die
erste jüdische Einwanderungswelle Palästina erreichte.
Palästina war damals noch ein Teil des Osmanischen
Vielvölkerstaates. Im Orient-Haus empfingen die Husseinis – eine der
angesehensten Familien Palästinas – den deutschen Kaiser
Wilhelm II., die Söhne des Sherifen von Mekka und den Kaiser
von Äthiopien. Nach dem Tod des Erbauers wurde das Domizil
1945 von seinen Erben unter dem Namen "New Orient
Hause" zum Hotel.
Zum Symbol des Kampfes zwischen Juden und Arabern wurde
das OrientHaus in den achtziger Jahren. Damals besetzten
die Israelis die Räume der Arab Studies Society in
Ost-Jerusalem. Faisal al-Husseini zog mit seiner Gesellschaft
in das Haus seiner Vorfahren. Mit Mitteln aus einigen Golfstaaten und der PLO renovierte er das Haus. Den Israelis ist es seitdem ein politischer Stein des
Anstoßes. Sie hatten Ost-Jerusalem nach dem
Sechs-Tage-Krieg von 1967 völkerrechtswidrig annektiert.
Während der ersten palästinensischen Intifada, die von 1987
bis 1993 dauerte, war das Orient-Haus weitgehend
geschlossen.
Im Orient-Haus empfingen die Palästinenser ausländische
Gäste. Wer nicht nur die israelische Version der Ereignisse
hören wollte, versuchte – trotz israelischer Proteste – auch
das Orient-Haus zu besuchen. Wahrheitswidrig behaupteten die Israelis stets, der Status des Orient-Hauses sei mit den Verträgen von Oslo nicht
vereinbar. Der 1993 abgeschlossene Grundsatzvertrag von Oslo
bestimmt jedoch, dass bestehende palästinensische
Einrichtungen in Ost-Jerusalem bleiben, neue allerdings bis zu
einem endgültigen Frieden nicht hinzukommen dürfen.
Heiko Flottau in der Süddeutschen Zeitung vom 11. August 2001
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