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Stagnation oder Aufbruch?

Analyse. Myanmar vor den Wahlen

Von Uta Gärtner *

Am 7. November 2010 ist die Bevölkerung Myanmars zur Stimmabgabe gerufen. Anders als bei den letzten Wahlen 1990, als die Erinnerung an den »Demokratiesommer« 1988 noch lebendig und die Tochter des Nationalhelden Aung San, Daw Aung San Suu Kyi, Hoffnungsträgerin gegen die Militärherrschaft war, sind die Erwartungen jetzt gering, und Boykottaufrufe seitens der Gegner der Abstimmung bewirken zumindest Unsicherheit: Lohnt es sich zu wählen? Kann der Urnengang einen Weg aus der Sackgasse eröffnen oder sollte er besser nicht stattfinden, weil er auf Legitimierung der gegenwärtigen Machtverhältnisse abzielt?

Diese Wahlen sind der fünfte Schritt des »Sieben-Punkte-Programms der Regierung zur Demokratie« (Road Map), das am 30. August 2003 von Premier General Khin Nyunt, bis kurz zuvor Erster Sekretär des Staatsrats für Frieden und Entwicklung (SPDC), vorgestellt wurde. Anliegen war ganz offensichtlich, der Welt zu beweisen, daß das Militär sein Versprechen einlösen will, Voraussetzungen für den Übergang zu demokratischen Verhältnissen zu schaffen. Es hatte am 18. September 1988 als Staatsrat für die Wiederherstellung von Ruhe und Ordnung (SLORC) die Macht ergriffen mit der Begründung, das Land vor politischem und wirtschaftlichem Zusammenbruch zu bewahren, der nach dem Aufbegehren des Volkes gegen die restriktive Politik und die Verschlechterung der Lebenslage drohe. Schon in seiner ersten Verlautbarung hatte er die Forderung nach Mehrparteienwahlen aufgegriffen und diese am 27. Mai 1990 durchgeführt. Dann aber bestand der Militärrat darauf, daß es die Aufgabe der gewählten Abgeordneten sei, eine neue Verfassung auszuarbeiten, um einer auf deren Grundlage gebildeten Regierung die Macht anvertrauen zu können. Die von Aung San Suu Kyi geführte Nationale Liga für Demokratie (NLD), die mit 60 Prozent der Stimmen 80 Prozent der Parlamentssitze gewonnen hatte, verweigerte sich diesem Verfahren und hielt ihre Forderung nach sofortiger Übergabe der Macht aufrecht. Mit der Einberufung der Nationalversammlung ab 9. Januar 1993 leitete der Militärrat eigene Schritte zur Vorbereitung der Verfassung ein. Der Prozeß war 1996 ins Stocken geraten, nachdem die NLD im November 1995 ihre Mitarbeit in der Nationalversammlung aufgekündigt hatte, und wurde erst mit der »Road Map« fortgesetzt. Bisher verwirklicht sind die Wiedereinberufung der Nationalversammlung 2004 – mit überproportionaler Beteiligung der ethnischen Minderheiten, Ausarbeitung des Verfassungstextes sowie der Annahme der Verfassung durch ein landesweites Referendum im Mai 2008.

Widerstreitende Staatskonzepte

Zu wählen sind am Sonntag (7. Nov.) die Volkskammer Pyithu Hluttaw (das Unterhaus) und die Nationalitätenkammer Amyotha Hluttaw (das Oberhaus), die das Unionsparlament – Pyidaungsu Hluttaw – bilden, sowie die Parlamente der vorwiegend von der ethnischen Mehrheit Bamar bewohnten Provinzen (künftig Regionen) und der vorwiegend von ethnischen Minderheiten bewohnten Unionsstaaten. Die Bildung einer Regierung durch die stärkste Partei ist nicht vorgesehen; vielmehr erfolgt sie durch den Präsidenten, der vom Unionsparlament zu bestimmen ist. 25 Prozent der Sitze in allen Parlamenten sind Angehörigen der Streitkräfte vorbehalten, die vom Oberkommandierenden berufen werden. Sie gelten als Ordnungsfaktoren, um ein Gegengewicht zu möglichen Fraktionskämpfen zwischen zivilen Parteien zu bilden. Ähnliche Vorkehrungen trifft auch die neue Verfassung Thailands von 2007, derzufolge 74 der 150 Abgeordneten im Oberhaus (Senat) zu ernennen sind.

Das ist die eine Säule, die der Realisierung des Verfassungsgrundsatzes dient, daß die Streitkräfte weiterhin führend an der nationalen Politik zu beteiligen sind. Die andere ist die auf der Verfassung von 2008 beruhende Wahlgesetzgebung. Sie läßt die Entschlossenheit der regierenden Kreise erkennen, unerwünschte Ergebnisse, wie sie bei direkter Anwendung westlicher Modelle liberaler Wahlen in der Vergangenheit aufgetreten sind, von vornherein auszuschließen.

1960 hatte das Militär unter General Ne Win nach zweijähriger Treuhandregierung zur Überwindung der Destabilisierung, die infolge Fraktionskämpfen innerhalb der regierenden Partei eingetreten war, verfassungskonform allgemeine Wahlen durchgeführt und die Staatsgewalten an den Sieger übergeben. Das war die Unionspartei des langjährigen Premiers U Nu, im Volk beliebt als frommer Buddhist und Kampfgefährte des »Vaters der Unabhängigkeit« der britischen Kolonie Burma, General Aung San. Bald destabilisierte sich die Lage erneut. Vor allem befürchtete die im Bürgerkrieg erstarkte Militärführung, daß U Nu dem Föderalismuskonzept der Eliten ethnischer Minderheiten nachgeben könnte. Dieses beinhaltete eine drastische Reduzierung der Vollmachten der Zentralregierung sowie den Zusammenschluß der vorwiegend von Bamar bewohnten Provinzen zu einem einzigen Unionsstaat mit gleichen Rechten wie jeder der anderen sieben Unionsstaaten, was zu einer erheblichen Benachteiligung der ethnischen Mehrheit geführt hätte. Mit der Begründung, den Bestand der Union zu sichern, den das Militär von Anfang an als Unterpfand der Unabhängigkeit betrachtete, leitete es am 2. März 1962 die Phase seiner Herrschaft ein. Zwar trug diese nach Inkraftsetzung der Verfassung von 1974 ein ziviles Gewand, doch die Machtausübung im System der »Partei des Burmesischen Weges zum Sozialismus« (BSPP), in deren Apparat ehemalige Militärs bestimmend waren, blieb autokratisch, und die Wahlen waren dirigistisch.

Die Anberaumung von Mehrparteienwahlen war Punkt 5 im Befehl »1/88«, dem ersten des SLORC. Im Rahmen des dafür 1989 erlassenen Gesetzes entstanden über 200 Parteien, viele von ihnen eher Interessengruppen, meist ohne Programm, abgesehen von einem allgemeinen Bekenntnis zu Demokratie. 93 davon nahmen an der Wahl vom Mai 1990 teil. Aber deren Ergebnis lief dem Staatskonzept der Militärs zuwider. Ihre Weigerung eingedenk der Erfahrungen von 1960, im weiteren den Gepflogenheiten liberaler Demokratie Folge zu leisten und die Macht der NLD zu übergeben, führte international zur Ächtung und zu einem dauerhaften Konflikt mit empfindlichen Konsequenzen für die wirtschaftliche und politische Entwicklung. Der Sieben-Punkte-Plan im allgemeinen und die anstehenden Wahlen im besonderen zielen darauf ab, diesen Zustand zu beenden, indem formal den Forderungen nach Reformen Genüge getan wird: allgemeine Wahlen sowie eine Verfassung, die Gewaltenteilung und Grundrechte festschreibt.

Im Rahmen der Einheit

Kernstück des Regelwerks für die anstehenden Wahlen, das im März 2010 erlassen wurde, sind das Gesetz über die Registrierung der Parteien und seine Durchführungsbestimmungen. Mittels detaillierter Vorgaben organisatorischer, politischer und finanzieller Art garantieren sie, daß die Anzahl der Parteien begrenzt bleibt, daß sie Mindestanforderungen hinsichtlich der Mitgliederzahl und finanziellen Fonds erfüllen und daß ihre Tätigkeit sich im vorgegebenen Rahmen bewegt, dessen Eckpunkte die Unverbrüchlichkeit der Union und der nationalen Eintracht sowie Loyalität gegenüber dem Staat und den Streitkräften sind. Wahlpropaganda in den Medien muß mindestens eine Woche im voraus bei der Wahlkommission unter Vorlage des Manuskripts beantragt werden. Ähnliches gilt für öffentliche Veranstaltungen. Die Parteien nutzen dennoch die Gelegenheit, ihre Konzepte zu präsentieren.

Von diesen Bedingungen profitiert die Partei für Stabilität und Entwicklung der Union (USDP), der Ministerpräsident U Thein Sein, bis April 2010 General, vorsteht. Ihr folgt quantitativ die Partei der Nationalen Einheit (NUP); sie ist die Nachfolgerin der Partei des Burmesischen Weges zum Sozialismus (BSPP), die bei den Wahlen 1990 über 25 Prozent der Stimmen, aber nur zehn Sitze gewonnen hatte, und gilt als regierungsnah. Nur diese beiden Parteien sind in der Lage, Kandidaten in allen Wahlkreisen und für alle Parlamente aufzustellen, insgesamt über 2000, während die übrigen 35 zugelassenen Parteien nur in einer jeweils begrenzten Zahl von Wahlkreisen agieren können. Bei der USDP kommt hinzu, daß sie aus der 1993 gegründeten Massenorganisation »Assoziation für Stabilität und Entwicklung der Union« (USDA) mit offiziell 24 Millionen Mitgliedern hervorgegangen ist und deren unionsweite Strukturen sowie finanziellen Mittel nutzen kann. Ihr mag teilweise auch zugute kommen, daß zumindest manche ihrer Ortsgruppen getreu dem Statut zum Wohle ihrer Gemeinde aktiv waren und Vertrauen genießen, sie also nicht auf die Schlägertruppen reduzierbar ist, die bei der Niederwerfung der Möchsunruhen im September 2007 unrühmlich bekannt wurden.

Gleichsam als Illustration seines Willens, die Weichen dauerhaft in seinem Sinne zu stellen, hat der SPDC am 21. Oktober Gesetze zur Staatsflagge, zum Staatswappen und zur Nationalhymne erlassen, wie in der Verfassung von 2008 verfügt. Die neue Staatsflagge, deren Gestaltung an die der Unabhängigkeitsbewegung in den 1930er/1940er Jahren anknüpft, wurde am 22. Oktober, 15 Uhr, zeremoniell auf den offi­ziellen Gebäuden gehißt. Entgegen internationalen Medienkommentaren steht das im Einklang mit der Verfassung, deren Artikel 443 den SPDC im Sinne einer Treuhandregierung befugt, sie zu realisieren, solange sie noch nicht durch das zu wählende Parlament in Kraft gesetzt ist.

Bei dieser Sachlage scheint das Ergebnis des anstehenden Urnengangs programmiert. Die Frage, an der sich die Geister scheiden, ist, ob man solche Wahlen, die von den international üblichen Normen erheblich abweichen, boykottieren oder durch Beteiligung unterstützen soll.

Pro und kontra

In konsequenter Fortsetzung ihrer konfrontativen, unversöhnlichen Politik hat die NLD sich am 29. März 2010 gegen die Registrierung und somit Teilnahme an den Wahlen entschieden, nachdem ihre Generalsekretärin Daw Suu Kyi deren Vorbereitung als zutiefst undemokratisch verurteilt und Boykottierung empfohlen hatte. Als Hauptgrund wurde die Vorschrift im Parteienregistrierungsgesetz genannt, daß den Parteien keine rechtskräftig verurteilten Häftlinge angehören dürfen. Ein Indiz, daß dies auf die NLD-Generalsekretärin nicht zutrifft, ist ihre Aufnahme in die Wählerlisten, die seit 20. September ausgelegt wurden: Sie befindet sich unter Hausarrest, nicht im Gefängnis. Zuvor hatte eine unionsweite Umfrage geteilte Meinungen der Mitglieder ergeben. Der Beschluß wurde vom Exekutivkomitee in einer offenen Abstimmung gefaßt. Mit ihm war das Ende der NLD als politische Partei besiegelt. Es ist nicht zu erwarten, daß der Klage, die Daw Suu Kyi dagegen beim Obersten Gericht eingereicht hat, stattgegeben wird. Das Schicksal teilen vier weitere der seit 1990 existierenden zehn Parteien, die keine Fortsetzung ihrer Registrierung beantragten und von der Wahlkommission für aufgelöst erklärt wurden. Die NLD-Anhänger propagieren jetzt vor allem das Recht, keine Stimme abzugeben; laut Exilpresse will Frau Suu Kyi, deren Hausarrest am 13. November offiziell endet, davon Gebrauch machen.

Ein Teil der ehemaligen NLD-Führungskräfte, Mitglieder und Sympathisanten hat sich in der neuen Partei »National-demokratische Front« (NDF) zusammengefunden, deren Gründung von Daw Suu Kyi und ihren Mitstreitern als »undemokratisch« heftig verurteilt und bekämpft wird. Auch international ist von Abtrünnigen, Renegaten und Spaltern die Rede. Die Gründer der NDF betonen ihre Verantwortung, als politische Kraft für die Interessen des Volkes einzutreten und dabei den Idealen der NLD treu zu bleiben. Hinsichtlich der Kandidatenzahl nimmt sie mit 163 den dritten Rang ein; ihre Aktionsgebiete sind die Großstädte Yangon und Mandalay. In kurzem Abstand mit 157 Kandidaten folgt die Shan Nationalities Democratic Party (SNDP), die vor allem im Shan- und im Kachinstaat aktiv ist.

Ungefähr zwei Drittel der Parteien werden von ethnischen Minderheiten gebildet und vertreten deren Interessen. Sie erhoffen sich mehr Selbstbestimmung im Ergebnis der Wahlen. Beeinträchtigt wird der Prozeß durch die fortdauernden Probleme in den Grenzgebieten insbesondere mit Thailand und der VR China, wo noch Kämpfe stattfinden. Ein Teil der Waffenstillstände, die die Zentralregierung seit 1989 mit 17 militärischen Organisationen ethnischer Minderheiten vereinbart hat, droht an der Forderung zu zerbrechen, sich verfassungsgemäß dem Oberkommando der nationalen Streitkräfte zu unterstellen. Folge der Situation ist, daß die Wahlkommission für eine Reihe von Stimmbezirken die Wahlen aus Sicherheitsgründen ausgesetzt hat. Das betrifft etwa zwei Prozent der Stimmberechtigten.

Manche Exilorganisationen brandmarken die Vertreter der konstruktiven Opposition als Handlanger und Propagandisten des Militärregimes, wie es etwa im Zusammenhang mit einem Rundtischgespräch geschah, das die Friedrich-Ebert-Stiftung Mitte September in Berlin veranstaltete. Sie lehnen Verfassung und Wahlen vehement ab, vermögen aber nicht, Alternativen zu benennen.

Szenarien

Wenn die nicht regierungsnahen Parteien die Mehrheit der Sitze gewinnen, hängt das Weitere davon ab, wie sie sich miteinander sowie mit dem Militär und seinen Organisationen arrangieren. Das setzt ein enges Zusammenwirken dieser Parteien voraus. Die großen Hürden, die aus der Wahlgesetzgebung erwachsen, könnten die Überwindung des üblichen Partikularismus fördern, und es gibt Anzeichen für Bündnisse, bei denen vor allem die NDF integrierend wirkt. Prognosen für die konkrete Politik lassen sich aus den Wahlprogrammen nicht ableiten. Dafür sind die Zielstellungen zu allgemein: Demokratie, freie wirtschaftliche Betätigung, Schutz der Menschenrechte und bürgerlichen Freiheiten, Förderung von Bildung, Gesundheitsfürsorge sowie andere soziale Belange, Gleichberechtigung der Ethnien. Wenn das Arrangement mit den jetzt herrschenden Kreisen gelingt, werden diese auch weiterhin erheblichen Einfluß ausüben, zumindest die Kontrolle behalten. Gelingt es nicht, ist zu befürchten, daß die militärischen Eliten einen Grund finden, die Ergebnisse anzufechten. Das wäre ein ungünstiges Szenario, denn es würde alle aus der Sackgasse führenden Lösungen blockieren.

Siegt die USDP, bleiben im wesentlichen die gleichen Kräfte wie bisher an der Macht, und alles hängt davon ab, wie sich ihre inneren und äußeren Kontrahenden dazu stellen. Wenn sie sich überwinden können, die stark personalisierte Auseinandersetzung um die bloße Macht zu ersetzen durch den Wettstreit um die erfolgreichste Entwicklungspolitik, entstünde eine tragfähige Handlungsbasis für alle Seiten. Anknüpfungspunkte sind vorhanden: Das ambitionierte Entwicklungsprogramm des Militärrats seit 1988 läßt erkennen, daß er in Anlehnung an das traditionelle Staatskonzept Legitimation durch Gedeihen des Landes erreichen will. Schwerpunkt ist der Ausbau der lange vernachlässigten Infrastruktur als Voraussetzung für wirtschaftliche Entwicklung, aber auch für die Annäherung der Völker des Landes: Straßen, Brücken, Eisenbahnlinien, aber auch Staudämme, Schulen und Universitäten, Krankenhäuser (siehe jW-Thema vom 7.9.2009). Legitimierend wirksam allerdings werden solche Maßnahmen erst mit ihrer Anerkennung im nationalen und internationalen Rahmen. Als diese ausblieb und nach der Aufhebung des Hausarrestes von Daw Suu Kyi im Juli 1995 der innere und äußere Druck auf die Regierung sogar verschärft wurde, zeichnete sich eine Hinwendung zu repräsentativen Formen der Selbstlegitimation ab.

Eindrucksvoll illustriert der Kult um die weißen Elefanten diese Tendenz: Wie die Regierungsmedien ausführlich darstellen, treten sie nur in Erscheinung, wo die buddhistische Lehre gedeiht und die Herrscher gerecht regieren. Vier wurden in den Bergen des Unionsstaats ­Rakhine (Arakan) seit 2001 gefunden. Daß gerade jetzt ein fünfter auftauchte, wird als Omen interpretiert, daß die Union und das ganze Volk sich wachsenden Fortschritts erfreuen können. Obwohl es für den Bau der neuen Hauptstadt NayPyiTaw in Zentralmyanmar und der IT-Hochburg »Cyber City Yadanabon Neustadt« östlich von Mandalay durchaus rationale Gründe gibt, spielt auch Selbstlegitimation eine wesentliche Rolle: Die herrschenden Kreise schaffen sich die angestrebte moderne entwickelte Nation als Mikrokosmos und leben in ihm, wahrscheinlich, ohne die Notlage im Lande wahrzunehmen. Die vielkritisierte Aufstockung der Streitkräfte und ihrer Ausstattung ist auch eine Reaktion auf fortwährende Bedrohung, potentiell angesichts der Ereignisse im Irak und in Afghanistan, konkret in Auseinandersetzung mit bewaffneten Organisationen ethnischer Minderheiten, die wiederum vom westlichen Ausland protegiert werden.

Faktisch hat der Versuch, das Ende der Militärherrschaft zu erzwingen, zu deren Zementierung geführt. Als einziger produktiver Ausweg aus der festgefahrenen Situation bleibt das Eingehen auf das politische Konzept des Militärrats: die Road Map. Diese Möglichkeit hat es schon immer gegeben: Das Verständnis des Militärrats von Demokratie entspricht dem in den »Asiatischen Werten«, die von den damaligen Regierungschefs Malaysias und Singapurs Anfang der 1990er Jahre formuliert wurden, enthaltenen Grundsatz, daß es Verantwortung der Landesväter ist, Wohlfahrt des Landes und seiner Bürger zu sichern, und diese ihr dafür Loyalität schulden. Diese Loyalität schließt im myanmarischen Verständnis Mitwirkung an der Umsetzung der Entwicklungsprogramme ein. Auch Daw Suu Kyi wurde bei Gesprächen auf höchster Ebene wiederholt zur Kooperation eingeladen. Ihren Idealen der liberalen Demokratie und Unterstützern im In- und Ausland verpflichtet, vermochte und vermag sie nicht, darauf einzugehen.

Chancen

Schwerpunkt der regierungsseitigen Wahlwerbung sind Berichte über Entwicklungsleistungen wie z.B. die neue Brücke, die mit einer Länge von etwa fünf Kilometern bei Pakokku den Ayeyawady überspannen und Bestandteil der internationalen Fernverkehrsstraße Indien–Myanmar–Thailand sein wird, der Tiefseehafen in Yangon, diverse Fabriken. Aber auch weniger repräsentative Maßnahmen wie berufliche Ausbildung für Jugendliche in den Grenzgebieten, Bewässerungsanlagen, Versorgung mit sauberem Trinkwasser in der Trockenzone und ähnliches werden thematisiert. In der Wahrnehmung der Bevölkerung allerdings dominieren die Stromausfälle, galoppierenden Preise, Willkür von Machthabern aller Ebenen und ähnliche Belastungen.

Indem die anderen Parteien neben bürgerrechtlichen auch soziale Ziele artikulieren, tragen sie dem Rechnung, ohne den vorgegebenen Rahmen durch politische Polemik zu verletzen. Nach vollzogener Wahl und Regierungsbildung wollen sie die parlamentarischen Möglichkeiten für eine dem Land dienende Politik ausschöpfen und Transparenz erzielen. Vor allem aber können sich unter den veränderten Bedingungen die Freiräume außerparlamentarischer Kräfte erweitern, und zivilgesellschaftliches Engagement kann Auftrieb erhalten. Bereits jetzt existiert eine beträchtliche Zahl von Organisationen, in denen Bürger gemeinschaftlich ihre Interessen verwirklichen und demokratische Praktiken trainieren. Sie sind die Hoffnungsträger für die Überwindung der »Kultur des Autoritarismus«, die auch auf tradierten Auffassungen basiert, denen zufolge Regieren Sache der Obrigkeit und nicht des Volkes sei.

International kann die Anerkennung der Legitimität der aus den Wahlen hervorgegangenen Gremien Anlaß geben, die Blockaden und Sanktionen aufzuheben und die Beziehungen auf Augenhöhe zu gestalten, wie es auch mit anderen Ländern geschieht, die den Idealen westlicher Demokratie nicht gerecht werden. Anknüpfend an die veröffentlichten Zielstellungen und deren Umsetzung, könnte mit internationaler Hilfe der schon lange eingeleitete Übergang von der Agrargesellschaft zu einem modernen Agrar-Industrie-Staat forciert werden. Die Orientierung auf Marktwirtschaft als Motor wird weitere soziale Differenzierung und Konflikte mit sich bringen, aber auch Aussicht auf Dynamik, wie sie für den wirtschaftlichen Aufschwung nötig ist. Dieser wiederum ist Voraussetzung für Fortschritte in den sozialen Bereichen, bei der Überwindung der ethnischen Konflikte sowie für das Heranreifen von Kräften, die nachhaltige Demokratisierungsprozesse zu tragen vermögen.

Mit großer Wahrscheinlichkeit werden die (ehemals) militärischen Eliten weiterhin die Teilhabe an der politischen Führung beanspruchen, wie sie in Artikel 6 der Verfassung festgeschrieben ist. Fortschritte werden also nur gemeinsam mit ihnen erreichbar sein, nicht gegen sie.

* Uta Gärtner ist Myanmaristin. Sie war bis Mai 2007 Mitarbeiterin am Institut für Asien- und Afrikawissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin.

Aus: junge Welt, 3. November 2010



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