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Keine Zuflucht für Rohingya

Die Odyssee der "Boat People" auf dem Weg von Myanmar über Thailand nach Malaysia

Von Lee Yu Kyung, Kuala Lumpur, Penang, Bangkok *

Seit zweieinhalb Jahren hat Myanmar (Burma) einen zivilen Präsidenten. Das zuvor verschlossene Land öffnet sich politisch und wirtschaftlich. Für die muslimische Minderheit der Rohingya aber ist das ohnehin schwere Leben zur Hölle geworden, der sie zu entkommen suchen.

Jani Alam, 25 Jahre alt, kann sich nur mit Schmerzen auf seinen geschwollenen Füßen bewegen. Die einzige Therapie für Jani sind »Übungen« und die »Schlangenölmassage« des 60-jährigen traditionellen Heilers Guramia Saiyid. Beide, Jani und Guramia, sind staatenlose Rohingya aus dem Rakhaing-Staat (Arakan) an der Küste Myanmars. Jetzt leben sie in Malaysia, Guramia seit elf Jahren, Jani erst seit vier Monaten.

»In den letzten Monaten sind fast täglich Dutzende Flüchtlinge angekommen, im Mai wurden es etwas weniger«, sagt Jamar Udin, ein 41-jähriger Nachbar, auch er ein Rohingya. Viele der Neuankömmlinge hätten Schwierigkeiten beim Gehen. Die Ursache ist Mangel an körperlicher Bewegung.

Jani war im vergangenen November von Arakan über den Grenzfluss Naf nach Bangladesch geflohen und hatte dort ein Flüchtlingsboot bestiegen. Seither hat er seine Beine monatelang kaum ausstrecken können. Sieben Tag dauerte allein die Überfahrt. Täglich seien zwei bis drei Mitreisende gestorben, erzählt er. An der Küste Thailands gelandet, wurden die Flüchtlinge von Schleusern in Toyota-Pick-ups gestapelt, einer über den anderen, zum Ersticken eng war es.

Vom Boot auf den Laster, von der See in den Dschungel, von Bangladesch über Thailand nach Malaysia – stets waren die Flüchtlinge bedingungslos den Menschenschmugglern ausgeliefert. Schreckliche Qualen erlitten sie, bevor die Überlebenden in Penang an der Nordwestküste Malaysias »ausgeladen« wurden.

Warum hatten sie sich das angetan? »Buddhisten, bewaffnet mit Pfeilen, Macheten und Knüppeln, kamen in unser Dorf und zerstörten alles. Die NASAKA, die Grenzpolizei von Arakan, die alles mit angesehen hatte, begann, auf uns zu schießen, als wir die Feuer zu löschen versuchten. Meine Eltern erlagen ihren Schusswunden nach drei Tagen.« Jani beschreibt die erste Welle von Überfällen radikaler Buddhisten auf Rohingya-Dörfer im Juni vergangenen Jahres. Als er sah, dass sich die Angriffe im Oktober auch gegen andere Muslime richteten, einschließlich der Kaman, die als eine der 135 »nationalen Ethnien« Myanmars anerkannt sind, beschloss er, das Land zu verlassen.

Salim Bin Gulban, ein 48-jähriger Geschäftsmann, gehört zur Ethnie der Kaman. Er landete Mitte Januar in Malaysia. Als er im Oktober einen ersten Fluchtversuch unternehmen wollte, hätten Sicherheitskräfte in Kyawkpyu sechs Boote in Brand gesetzt, berichtet Salim. Später sei er in seinem eigenen Boot gemeinsam mit 74 weiteren Gefährten direkt von Arakan nach Malaysia aufgebrochen. Verglichen mit anderen »Boat People« habe man wenig Not gehabt. »Wir haben vier Tage nach unserer Abfahrt ein indisches Marineschiff getroffen. Sie haben uns den Weg nach Malaysia gezeigt und uns mit Trinkwasser versorgt.«

Salims Gruppe wurden von der malaysischen Küstenwache entdeckt und auf die Insel Langkawi gebracht. Dort gab man ihnen zu essen und unterzog sie einer ersten Gesundheitsuntersuchung. Einige aus der Gruppe, darunter Salim, wurden Mitte Mai nach einer Befragung durch das UN-Flüchtlingskommissariat freigelassen.

Die UN schätzt, dass seit dem Ausbruch der religiösen Unruhen in Myanmar vor gut einem Jahr rund 20 000 Menschen übers Meer geflohen sind. Ungewöhnlich sei, dass sich auch Frauen und Kinder auf die gefährliche Reise begeben.

Salima Nora Ahmad (25), eine Rohingya, floh schon im April 2011, noch bevor im folgenden Jahr die Massaker begannen. Sie war überzeugt davon, dass das Leben für Rohingya in Myanmar nichts wert ist. Ihr Mann, Mohamad Tandamia, war bereits 2006 nach Malaysia aufgebrochen, wo Salima ihn wiederzutreffen hoffte. »Wir haben keine Staatsbürgerschaft, keine Bewegungsfreiheit. Und die Regierung hat das Land beschlagnahmt, auf dem ich unser Haus gebaut habe. Also gehe ich fort«, hatte Mohamad gesagt.

Salima folgte ihm fünf Jahre später. Drei Tage lang hatte sie in Teknaf gewartet, der Stadt auf der bengalischen Seite der Grenze, bevor sie in das Fischerboot stieg, das sie in vier, fünf Stunden in internationale Gewässer des Golfs von Bengalen bringen sollte. Dort wechselte sie auf eine größere Barkasse, auf der vielleicht 50 Leute Platz gehabt hätten. Das Schiff fuhr jedoch erst los, als 250 Menschen an Bord waren. Der Kapitän war aus Bangladesch, die Mannschaft bestand aus Thais, auch ein Paar Burmesen waren dabei. Alle hatten Pistolen oder Gewehre, versichert Salima, die sich in der Enge 18 Tage lang kaum rühren konnte. In dieser Zeit starben 18 Passagiere. »14 waren in der Tiefe des Schiffes erstickt. Die anderen vier wurden von Besatzungsmitgliedern über Bord geworfen, nachdem sie um Trinkwasser gebeten hatten. Alles junge Männer«, erzählt sie.

Überlebende berichten häufig von derartigen Vorfällen. Im Gegensatz zu Männern wurden Frauen mit Wasser und Nahrung gelockt – und schließlich vergewaltigt. Auch Nurul Hassan (41), der Myanmar im Januar verließ, weiß von Vergewaltigungen auf seinem Schiff, auf dem sich 750 Menschen befanden. »Die Crew befahl Frauen, auf dem Oberdeck zu bleiben, wo sich sonst keiner aufhalten durfte. Wir hörten oft die Geräusche von Vergewaltigungen. Muslim-Frauen würden jedoch nicht zugeben, dass sie vergewaltigt wurden.«

Wie viele andere glaubte Hassan, dass man sie nach Malaysia bringen würde, stattdessen landete das Schiff zunächst an der thailändischen Küste. Von dort nahm der Menschenhandel seinen Fortgang. Alle dazu Befragten sagen aus, dass sie von »uniformierten Männern« in Empfang genommen wurden. Im Falle Salimas war es die Schiffsbesatzung, die irgendwen anrief, worauf – wie sie sagt – »die Armee« eintraf. »Die Armee kam und kontrollierte uns. Sie verteilte uns zu fünft oder sechst auf kleine Boote, die uns in den Dschungel brachten. Von dort fuhren uns Thailänder in weiteren vier bis fünf Stunden per Pick-up in ein anderes Gebiet.«

Es scheint, als sei das »letzte« Dschungelcamp so etwas wie das Hauptlager gewesen, in das die Asylsuchenden gebracht wurden, bevor man über ihre Freilassung verhandelte. Die Schleuser riefen Familienangehörige oder Freunde der Flüchtlinge in Malaysia an und verlangen 5500 bis 6000 Ringgit (etwa 1400 Euro). Salimas Mann Mohamad Tandamia erinnert sich noch des Moments, als er einen Anruf erhielt. Er brauchte 14 Tage, um sich das Geld für seine Frau zusammenzuborgen.

Die Frage stellt sich, wer die »uniformierten Männer« waren, die immer wieder in den Erzählungen auftauchen. Es hieß, die thailändischen Streitkräfte seien mehrfach in die Sache mit den »Rohingya-Booten« verwickelt gewesen. Die bestreiten das freilich. In einer E-Mail an die Autorin heißt es: »Im Falle der Entdeckung eines Rohingya-Bootes leistet der Marineoffizier, wenn sich das Schiff außerhalb der Territorialgewässer befindet, humanitäre Unterstützung durch Übergabe von Nahrung und Wasser.« Außerdem würden Empfehlungen für den Kurs gegeben. »Wenn die Rohingya versuchen, die Territorialgewässer zu befahren, werden sie den zuständigen Behörden zugeführt. Die ganze Prozedur basiert auf humanitären Rechtsgrundsätzen.«

Es sei sehr schwierig zu ergründen, wer die »Uniformierten« sind, räumt Chris Lewa ein. Sie ist Direktorin des Arakan-Projekts (Arakan Project), einer Menschenrechtsorganisation, die sich der Rohingya angenommen hat. »Ich habe keine eindeutigen Beweise dafür, dass thailändische Behörden in den Menschenhandel verstrickt sind.« Auf jeden Fall handle es sich um irgendeine Art von Miliz. Zu Berichten, wonach Boote zurück aufs Meer gestoßen wurden, nachdem der Motor gewaltsam entfernt wurde, sagt sie: »So etwas würde niemand ohne Befehl eines hochrangigen Kommandos tun.«

Solange sie im Dschungelcamp festgehalten werden, machen die Flüchtlinge schreckliche Erfahrungen. »Wenn wir Geräusche verursachten, wurden wir misshandelt«, erzählt Jani. Während seiner Gefangenschaft im Dschungel wurden zehn Personen getötet, darunter vier, die zu fliehen versucht hatten. Jani verbrachte fast zwei Monate dort, weil er niemanden in Malaysia kannte, der ihn hätte freikaufen können. Schließlich half ihm sein Onkel aus Myanmar.

Nurul Hassan wurde dank eines Freundes in Malaysia nach vier Tagen freigelassen. Als er das Dschungelcamp verließ, blieben dort rund 300 Flüchtlinge zurück.

Und was passierte mit denen, die nicht bezahlen konnten? Sehr wahrscheinlich wurden sie als moderne Sklaven auf thailändische Fischereischiffe verkauft. Im jüngsten Jahresbericht des US-State Department über Menschenhandel heißt es: »Es gab Berichte, wonach Rohingya-Asylbewerber, die Thailand auf dem Weg nach Malaysia passierten, zur Zwangsarbeit auf thailändischen Fischerbooten verkauft wurden, den Berichten zufolge mit Unterstützung thailändischer Militärs.«

Aber selbst die Hoffnung auf ein gewaltfreies Leben im islamisch geprägten Malaysia trügt: Inzwischen kommt es auch dort zu Konflikten zwischen verschiedenen Migranten-Gemeinden aus Myanmar. Malaysias Polizei stellte fest, dass die Unruhen in Myanmar auf Malaysia übergreifen. »Ich habe gerade gehört, dass ein Rohingya im Gebiet Ampang in Kuala Lumpur getötet wurde. Aber es wäre für mich zu gefährlich, das jetzt dort zu überprüfen«, sagt Zafar Ahmad, Präsident der in Malaysia ansässigen Rohingya-Organisation MEHROM. am Telefon. »Es gibt keinen Ort, wo wir uns frei bewegen können, weder in Myanmar noch in Malaysia«, klagt er.

Chris Lewa bestätigt das: »Sie können nirgendwohin. Niemand in der Region will sie. Ich wünschte, die Medien würden die Situation im Arakan-Staat stärker beleuchten. Wenn Sie sähen, wie die Rohingya dort leben, mein Gott, Sie würden auch in ein Boot steigen!«

[Übertragung aus dem Englischen: Detlef D. Pries]

* Aus: neues deutschland, Montag, 15. Juli 2013

Von niemandem gewollt

Die Rohingya im Vielvölkerstaat

135 »nationale Ethnien« zählt der Vielvölkerstaat Myanmar offiziell. Die größte Volksgruppe sind die buddhistischen Bamar, von deren Bezeichnung der Staatsname Myanmar, aber auch Burma oder Birma abgeleitet sind. Sie stellen etwa 70 Prozent der Bevölkerung.

Die muslimischen Rohingya, die vor allem im nördlichen Teil des Rakhaing-Staates (ehemals Arakan) an der Grenze zu Bangladesch leben, werden dagegen nicht als einheimische Volksgruppe anerkannt. Nach offizieller Lesart handelt es sich um die Nachfahren illegaler Einwanderer aus dem Nachbarland, denen die Staatsbürgerschaft Myanmars verwehrt wird.

Die Rohingya selbst – in Myanmar heute etwa eine Million – beanspruchen dagegen, bereits seit Langem im Rakhaing-Staat ansässig und vor Jahrhunderten zum Islam übergetreten zu sein. In den vergangenen Jahrzehnten der Unabhängigkeit Myanmars kam es immer wieder zu Konflikten zwischen muslimischen und buddhistischen Bewohnern des Rakhaing-Staates, mindestens eine Million Rohingya leben inzwischen als Flüchtlinge in Bangladesch und anderen Ländern Asiens. Ausgerechnet nach Beginn der Demokratisierung Myanmars, das jahrzehntelang vom Militär beherrscht wurde, gehen radikale Buddhisten mit offener Gewalt gegen die Rohingya vor, die von den Vereinten Nationen als die »am meisten verfolgte Minderheit der Welt« eingestuft werden. nd-Pries




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