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Ausnahmezustand in der Mongolei

Nach den Wahlen zur Großen Staatsversammlung brach zerstörerische Gewalt aus

Von Renate Bormann, Ulan-Bator

Scheiben klirrten, Häuser und Fahrzeuge brannten, Steine, Flaschen, Eisen- und Holzteile wurden gegen Polizisten geschleudert. Fünf Tote und mehr als 300 Verletzte wurden registriert. Einen Gewaltausbruch wie an diesem 1. Juli hat es in der Mongolei noch nicht gegeben.

Für vorerst vier Tage wurde der Ausnahmezustand ausgerufen: Kundgebungen und Demonstrationen sind verboten, in den Straßen patrouillieren bewaffnete Soldaten, Ulan-Bators Zentrum ist für den Fahrzeugverkehr gesperrt, auf der Straße des Friedens steht drohend ein Panzerwagen. Nachts herrscht Ausgangssperre, Verkauf und Ausschank alkoholischer Getränke sind untersagt.

Anlass für die Ausschreitungen war die Unzufriedenheit der Verlierer mit den Ergebnissen der Wahlen zur Großen Staatsversammlung am Sonntag. Dabei liegen die offiziellen Resultate noch gar nicht vor. Trotz vieler Beschwerden über Unregelmäßigkeiten hatte die Wahlkommission den ordnungsgemäßen Verlauf der Abstimmung konstatiert, internationale und einheimische Beobachter bestätigten sie darin.

Dann aber sickerten erste Zahlen durch: Jeder der beiden Hauptkonkurrenten, die regierende Mongolische Revolutionäre Volkspartei (MRVP) und die oppositionelle Demokratische Partei (DP), beanspruchte den Sieg für sich. Die MRVP verkündete, sie habe mehr Mandate gewonnen, als erwartet worden war: 38 von 56 auf dem Lande, mindestens 5 in Ulan Bator. Das reichte für die Mehrheit im 76-köpfigen Parlament. Die DP wäre demnach auf etwa 28 Mandate gekommen, Unabhängige und kleine Parteien sahen ihre Erwartungen bitter enttäuscht.

Schon am Montagabend formierten sich die ersten Demonstrationen auf dem Suche-Bator-Platz. Es kam zu Rangeleien mit Polizisten, die Fortsetzung von Protesten wurde angekündigt.

Am Dienstag (1. Juli) um 12 Uhr gab der DP-Vorsitzende Tsakhia Elbegdorsh eine Pressekonferenz, die im Fernsehen übertragen wurde. Sichtlich enttäuscht konstatierte er, das Volk habe noch einmal vier Jahre Armut, Korruption und Stillstand gewählt. Das Ergebnis sei jedoch nicht auf ehrliche Weise zustande gekommen, die Machthaber hätten es manipuliert: Stimmen seien gekauft worden, Wahlzettel gefälscht. Elbegdorsh forderte eine Wiederholung der Auszählung in allen Wahlkreisen und die Bestrafung derer, die Betrügereien zu verantworten hätten. Ein Bündnis der DP mit den kleinen Parteien und Bürgerbewegungen verkündete Elbegdorsh jedoch nicht. Ohnehin handelt es sich bei den meisten um Abspaltungen der DP, die ihrerseits alles andere als einig ist. Ihr Chef Elbegdorsh ist einerseits ein begnadeter, weltgewandter Redner, trägt andererseits aber selbst den Spaltpilz in seine Partei. Nach seiner Pressekonferenz gesellte er sich zu den vielleicht 50 Demonstranten auf dem Suche-Bator-Platz, zog mit ihnen zum Regierungspalast und schloss sich ihrer Meinung an: »Wenn wir weitere vier Jahre verlieren, verlieren wir unser Mutterland.«

Eine andere Gruppe zog da schon zur MRVP-Zentrale. Von Vertretern kleinerer Parteien über Lautsprecher angefeuert, forderten die Demonstranten den MRVP-Vorsitzenden Sanjaa Bayar auf, als Ministerpräsident zurückzutreten. Die Menge wuchs auf etwa 8000 Menschen an, darunter Frauen, Kinder, Rentner, Arrivierte und Unterprivilegierte. Ihre Anführer verlangten lautsprecherverstärkt nicht nur eine Neuauszählung der Stimmen, sondern Neuwahlen. Die ersten Steine flogen, die Eingangstür des MRVP-Gebäudes wurde zertrümmert, Brandflaschen wurden geworfen, Blut floss. Überforderte Polizisten kapitulierten vor der gewaltbereiten Menge und zogen sich zurück. Binnen weniger Stunden waren Büros und Geschäfte in dem Gebäude geplündert. Die wieder aufmarschierte Polizei setzte Tränengas, Signalpistolen und Schlagstöcke ein, scharf geschossen wurde jedoch nicht. Als eine randalierende Meute, die zuvor mit sichtlicher Zerstörungsfreude alles in der Umgebung kurz und klein geschlagen hatte, gegen 23 Uhr das Polizeigebäude im Suche-Bator-Stadtbezirk anzuzünden versuchte und wenig später die im Kulturpalast befindliche Philharmonie und die Gemäldegalerie in Brand setzte, rief Staatspräsident Nambaryn Enkhbayar den Ausnahmezustand aus. Zuvor war der Nationale Sicherheitsrat zusammengetreten.

Alle politischen Kräfte der Mongolei äußerten inzwischen ihr Bedauern über die »erschreckenden Gewaltausbrüche«. Sie seien ein Schlag gegen die Demokratie im Lande. Ministerpräsident Bayar erklärt DP-Chef Elbegdorsh freilich für mitschuldig am Ausbruch der Ausschreitungen. Der wiederum beschuldigt die Behörden, dem Geschehen zunächst tatenlos zugesehen und dann den Ausnahmezustand ausgerufen zu haben, als befände sich die Mongolei im Krieg.

Bayar erklärte, die MRVP fürchte sich nicht vor Neuwahlen, diese wären aber ein Zugeständnis an Elemente, die die Mongolei destabilisieren wollten und den Willen der Wähler missachteten. Außenministerin Sanjaasuren Oyun (Bürgermutpartei) tritt für eine Neuauszählung der Stimmen in besonders strittigen Wahlkreisen ein. Erst dann könne eine Aussage über die Rechtmäßigkeit der Wahlen getroffen werden.

Auf einer Regierungspressekonferenz am Mittwoch wurde darüber informiert, dass kriminelle Gewalt fünf Tote gefordert habe, über 200 Demonstranten und Polizisten seien verletzt worden, ein japanischer Journalist liege im Koma. Als Initiatoren der Ausschreitungen wurden namentlich Kandidaten genannt, die kein Mandat gewinnen konnten.

Zu den Ursachen des unerwarteten Gewaltausbruchs gehört sicherlich die Unzufriedenheit vieler Mongolen mit ihrer wirtschaftlichen Lage wie mit korrupten und inkompetenten Politikern und Beamten. Nicht auszuschließen ist aber auch, dass ein Ministerpräsident Sanjaa Bayar, der seine Politik zielstrebig umzusetzen gedenkt und am Ausbau der mongolisch-russischen Kooperation interessiert ist, einigen Kräften im In- und Ausland schlecht ins Konzept passt. Die Mongolei ist durch ihren Rohstoffreichtum zu einem Objekt der Begierde geworden

* Aus: Neues Deutschland, 3. Juli 2008


Ausgangssperre verhängt

Mongolei: Tote und Verhaftungen bei schweren Ausschreitungen nach Parlamentswahl. Regierungspartei bietet Neuauszählung an

Von Hellmuth Vensky **


Bei Ausschreitungen in der mongolischen Hauptstadt Ulan Bator sind in der Nacht zum Mittwoch nach Angaben des Justizministeriums fünf Menschen gestorben, rund 220 wurden verletzt. Kabinett und Parlament traten am Mittwoch zu Sondersitzungen zusammen. Präsident Nambaryn Enkbayar verhängte für vier Tage den Ausnahmezustand -- erstmals in der Geschichte der demokratischen Mongolei. Nach Darstellung der staatlichen Presseagentur waren die meisten Randalierer betrunken und wurden verhaftet, um auszunüchtern.

Die Proteste hatten sich nach der Bekanntgabe von Teilergebnissen der Parlamentswahl vom Sonntag entzündet. Nach Angaben der Wahlkommission kann die regierende MRVP mit 46 der 76 Mandate im Parlament, dem Großen Volkshural, rechnen. Die Opposition hatte ein besseres Ergebnis für sich erwartet und beschuldigt die MRVP der Wahlfälschung. Agenturberichten zufolge gingen in der Nacht bis zu 6000 Menschen auf die Straße. Anhänger der Opposition setzten das Parteigebäude der MRVP in Brand, zündeten Amtsgebäude, die Gemäldegalerie und den Kulturpalast an. Sondereinsatzkräfte konnten die Lage auch mit Hilfe von Tränengas, Gummigeschossen und Wasserwerfern erst am Morgen unter Kontrolle bringen.

Nach Angaben von Justizminister Tsend Munkhorgil wurden 718 Menschen festgenommen. Seiner Schilderung zufolge stürmten Demonstranten auch das Polizeihauptquartier und rüsteten sich mit Schußwaffen aus. Er beorderte Grenzschützer und Soldaten in die Hauptstadt. Am Mittwoch blieb es zunächst ruhig. Für die Nacht zum heutigen Donnerstag wurde eine Ausgangssperre verhängt. Ein Kontaktmann in der mongolischen Hauptstadt sagte, die Innenstadt sei von Polizei und Panzerfahrzeugen abgesperrt. Die Ausschreitungen beschrieb er als »sehr, sehr gewalttätig«.

Die regierende reformkommunistische Mongolische Volkspartei (MRVP) und die größte Oppositionspartei, die Demokratische Partei (DP), unterscheiden sich in ihren Programmen kaum. Sie überschlugen sich nach Angaben örtlicher Gewährsleute im Wahlkampf vor allem in Versprechungen, wie viele Millionen Tögrög jeder Bürger aus der Ausbeutung der Bodenschätze bekommen soll. MRVP und DP streiten über den Staatsanteil an den Bodenschätzen, vor allem Kupfer, Kobalt und Kohle. Einig sind sich beide Parteien, daß 51 Prozent der Bodenschätze in mongolischer Hand bleiben sollen, die DP will sie aber privaten mongolischen Firmen zuteilen, die MRVP in der Hand des Staates halten. Die hohen Marktpreise haben die Armut der Mongolei in jüngster Zeit gelindert; ein großer Teil ist noch nicht erschlossen.

Für die von den Protestierenden ins Feld geführte Wahlfälschung gebe es indes keine Indizien, sagen Beobachter vor Ort. Allerdings wurde das Wahlsystem vor dem Urnengang -- der vierten Parlamentswahl seit Ende des kommunistischen Systems Anfang der 1990er Jahre -- geändert. Experten im Land beschreiben es als sehr kompliziert. Präsident Enkbayar, Mitglied der MRVP, hat der Opposition angeboten, Manipulationsvorwürfe gemeinsam zu klären und, wenn nötig, einzelne Bezirke unter internationaler Beobachtung neu auszuzählen.

** Aus: junge Welt, 3. Juli 2008


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