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"Wir wollen sie lebend zurück"

Mexiko: Im September 2014 sind 43 Studenten "verschwunden". Seitdem suchen ihre Eltern und Kommilitonen nach ihnen. Gespräch mit Omar García und Eleucadio Ortega Carlos *


Omar García ist Student an der Pädagogischen Landschule »Raúl Isidrio Burgos« von Ayotzinapa. Er war mit seinen Mitschülern am 26. September in Iguala und hat den Angriff der Polizei überlebt. Eleucadio Ortega Carlos ist der Vater von Mauricio Ortega Valerio, einem der 43 »Verschwundenen« sind. Sie informieren derzeit in Europa über den Fall.

Am 26. September 2014 sind in der mexikanischen Stadt Iguala im Bundesstaat Guerrero 43 Studenten der Pädagogischen Landschule von Ayotzinapa »verschwunden«, nachdem sie von der Polizei attackiert worden waren. Tausende demonstrierten weltweit gegen staatliche Gewalt und für die Suche nach den Vermissten. Medien berichteten monatelang über den Fall. Heute hört man darüber kaum etwas. Gibt es die Protestbewegung noch?

Omar García (O. G.): Ja, natürlich. Am 27. Januar hat zwar die Generalstaatsanwaltschaft ihre Version der Ereignisse bekräftigt und damit den Fall de facto zu den Akten gelegt: Die Studenten sollen auf einer Müllhalde in Cocula in Guerrero von einer kriminellen Bande verbrannt worden sein. Danach berichteten die Medien immer weniger. Aber es gibt immer noch Demonstrationen und weltweite Aktionstage. Wir bekommen aus allen möglichen Ländern Unterstützung sowie aus den verschiedenen Bundesstaaten in Mexiko. Am 26. jedes Monats gibt es Solidaritätsveranstaltungen, wir organisieren Karawanen von Angehörigen und Mitstudenten in Europa, aber auch in den Vereinigten Staaten und Kanada.

Wie bewerten Sie als Vater eines der »Verschwundenen« die offizielle Untersuchung?

Eleucadio Ortega Carlos (E. O. C.): Die Behörden haben von Anfang an nicht nach Überlebenden gesucht. Sie haben statt dessen zahllose Massengräber gefunden am Berg Cerro Gordo bei Iguala. Die Regierung hat behauptet, die Studenten seien tot und verbrannt, die Asche soll in den Fluss San Juan geworfen worden sein. Argentinische Experten haben aber ebenfalls Untersuchungen angestellt, uns Verwandten Blut abgenommen und Tests durchgeführt. Sie widersprechen der Version der Generalstaatsanwaltschaft. Deswegen suchen wir weiter nach unseren Kindern, wir wollen sie lebend zurück.

Die Hochschüler wollten sich an den Aktivitäten zum 2. Oktober beteiligen, dem Jahrestag eines Massakers an Studenten in Mexiko-Stadt 1968. Dafür haben sie in Iguala Spenden gesammelt. Sie waren mit Ihren Kommilitonen ebenfalls dort?

O. G.: Ja, ich habe überlebt, was dort an diesem Tag passiert ist. Wir waren insgesamt über 90 Studenten, fast 50 leben noch und sind nicht »verschwunden«, aus ganz verschiedenen Gründen: Die Kugeln haben uns nicht getroffen oder wir sind der Polizei entkommen.

Eine der wichtigsten Losungen der Bewegung für die 43 Studenten lautet: »Es war der Staat«. Welches Interesse hat dieser daran, gegen diese Kommilitonen von Ihnen vorzugehen?

O. G.:Es gab kein besonderes Interesse, genau diese 43 »verschwinden« zu lassen. In Mexiko gab es fast 30.000 »Verschwundene« innerhalb von zehn Jahren. Es ist das Resultat eines Krieges der Regierung gegen den Drogenhandel, der sich in Wirklichkeit gegen sozialen Protest richtet. Das Problem ist, dass die Behörden gar nicht beim Namen nennen, was in Iguala passiert ist, sondern es als organisierte Kriminalität abtun. Nein, das ist »Verschwindenlassen«. Die Generalstaatsanwaltschaft wird niemals gegen den Staat ermitteln. Sie schiebt die Schuld auf drei, vier Individuen. Unsere Mitstudenten waren keine Mitglieder einer subversiven Gruppe. Wir sind einfache Lehrer, die den Analphabetismus bekämpfen wollen. Die Studenten an den Pädagogischen Landschulen sind politisch sehr aktiv. Wir stellen Forderungen auf, solidarisieren uns mit sozialen Kämpfen, mit Bauern in Guerrero oder in Chiapas, Minenarbeitern in Chihuahua, protestieren gegen Frauenmorde in Juárez. Was am 26. September passiert ist, verstehen wir aber nicht, es gab zu dem Zeitpunkt nicht einmal eine große Studentenbewegung.

E. O. C.: Dem Staat sind die Pädagogischen Landschulen ein Dorn im Auge: Dort werden die Jugendlichen ausgebildet, die Schulabgänger sind kluge Jungs. Aus diesen Universitäten sind viele sehr mutige und kämpferische Männer hervorgegangen. Es sind Schulen für die Armen, für uns Bauern. Wir schicken unsere Kinder dorthin. Die Söhne und Töchter der Reichen besuchen bessere Schulen, wo die Jugendlichen beschützt werden.

Wie behandelt der Staat die Angehörigen der »Verschwundenen«?

E. O. C.: Es gab zahlreiche Zusammenkünfte mit den Behörden. Als wir uns am 29. Oktober mit dem Präsidenten getroffen haben, hat er uns sehr viel versprochen, uns aber nicht weiter unterstützt. Die Regierung hat uns eine Entschädigung angeboten, das haben wir nicht angenommen. Wir wollen unsere Kinder zurück und kein Geld. Die Regierung, die Bezirksbürgermeister, die Gouverneure, das sind Kriminelle und Drogenhändler. Wir werden nicht zulassen, dass diese Regierung das Land weiter regiert.

O. G.: Die Familienangehörigen mussten sehr viel aufgeben, um nach den »Verschwundenen« zu suchen – ihre Arbeit, ihre Häuser, sie konnten sich kaum um ihre anderen Kinder kümmern und nicht ihre Ernten einholen. Das sind Familien, die fast alles verloren haben. Für sie ist die Suche nach den 43 zur zentralen Aufgabe geworden.

Hier sprechen viele Medien bereits von 43 »Ermordeten«. Warum hält die Protestbewegung so sehr daran fest, dass sie lebend gefunden werden sollen?

O. G.: Wir dürfen sie nicht für tot erklären, solange das nicht bewiesen ist. Die Argentinierin Estela de Carlotto von den Großmüttern der Plaza de Mayo hat 36 Jahre nach dem Sohn ihrer während der Militärdiktatur ermordeten Tochter gesucht und erst im vergangenen Jahr ihren inzwischen erwachsenen Enkel wiedergefunden. Menschen in Mexiko suchen acht, zwölf oder 15 Jahre nach ihren »Verschwundenen«. Sie werden sie nie für tot erklären. Wenn jemand einen Angehörigen aufgrund eines natürlichen Todes verliert, fühlt er sich sehr schlecht. Der Schmerz ist tausendmal so groß, wenn man jemanden auf eine Weise verliert wie wir die 43. Wie soll ein Vater damit abschließen, der sein Kind nicht noch einmal berühren kann? Wenn wir sie aufgeben und aufhören zu kämpfen, werden wir immer daran denken müssen, was sie dazu sagen würden, wenn sie noch leben.

Wie ist im Moment die Atmosphäre in Guerrero?

E. O. C.: Wir kämpfen weiter. Als die Leute erfahren haben, was passiert ist, haben sie sich gegen die Regierung aufgelehnt. Auf die sind insbesondere die Studenten und Lehrer wütend. Für letztere ist die Situation auch aus anderen Gründen schwierig: Einigen wurde der Lohn nicht rechtzeitig ausgezahlt. Es ist übrigens nicht der erste Fall von staatlicher Gewalt in der Gegend: 1995 haben die Sicherheitskräfte bei Aguas Blancas in Guerrero 17 Bauern umgebracht; 1998 wurden weitere elf Indigene in einer Schule in El Charco getötet. Welche Hoffnung sollen wir also in die Regierung setzen?

Wie ist die Stimmung derzeit in der Universität?

O. G.: Wir haben das Semester so gut, wie es ging, bewältigt und unsere Prüfungen abgelegt. Unser Protest in diesem Semester ist etwas Neues, weil die Lehrer einverstanden sind mit dem, was wir für die »Verschwundenen« tun. Einige widersetzen sich, das ist aber die Minderheit und die müssen sich eben fügen. Es geht schließlich nicht um Infrastruktur, sondern um Menschenleben. In den Pädagogischen Landschulen ist klar, dass dieser Kampf gerade im Vordergrund steht.

Welche Veränderungen wären denn notwendig, dass so etwas wie in Iguala nicht noch einmal passiert?

O. G.: Das »Verschwindenlassen« ist Teil der Staatspolitik, die wesentlich an ausländischen Investitionen orientiert ist. In Mexiko sind viele Menschen getötet oder verschleppt worden, weil sie sich bestimmten Vorhaben im Interesse der USA oder der EU entgegengestellt haben. Wenn jemand wie Coca-Cola die Quelle privatisieren will, die eine ganze Gemeinde versorgt, wird sich diese natürlich zur Wehr setzen. Dann kommt die Polizei und nimmt die Organisatoren als Gefangene mit. Die, die kein Glück haben, werden gleich umgebracht. Eine der Forderungen der Eltern der 43 ist die nach einer Garantie, dass sich so etwas nicht wiederholt. Dieses Anliegen kann nicht an die gleichen Stellen gerichtet sein, von denen heute Menschenrechtsverletzungen ausgehen. Was müssen wir angesichts dessen verändern? Sehr viel, fast alles. Die Produktionsverhältnisse, die persönlichen Verhältnisse.

Was kann die Solidaritätsbewegung in Deutschland beitragen? Was soll sie fordern?

O. G.: Die BRD hat eine gewisse Verantwortung für die sozialen Konflikte in Ländern wie in Mexiko. Deutsche Waffen sind dort weit verbreitet Staatliche Abkommen legen eigentlich fest, dass sie nicht in Gebiete gelangen dürfen, wo es große soziale Konflikte gibt. Sie kommen dort trotzdem an – beim organisierten Verbrechen oder bei der Polizei, die damit in Verbindung steht. Als Konsequenz gibt es Morde, es »verschwinden« Menschen. 2011 hat die Polizei zwei unserer Mitschüler bei einer politischen Aktion mit deutschen Gewehren erschossen, die Täter sind heute frei. Dieser Waffenhandel muss aufhören.

Interview: Lena Kreymann

* Aus: junge Welt, Donnerstag, 7. Mai 2015


Der Fall Ayotzinapa - Chronik

2014

26.9.: Polizisten greifen Pädagogikstudenten aus Ayotzinapa nach einer politischen Aktion in der mexikanischen Stadt Iguala an. Nach der Attacke sind sechs Tote, 25 Verletzte und 57 »Verschwundene« zu beklagen.

28.9.: Die Staatsanwaltschaft von Guerrero beschuldigt 22 verhaftete Polizisten des Angriffs. In den Ermittlungen wird der Fall als lokales Problem korrupter Beamter und örtlicher Banden dargestellt.

30.9.: Der Bürgermeister von Iguala, José Luis Abarca, und seine Frau María de los Ángeles Pineda Villa, die mit einem Drogenkartell in Verbindung steht, flüchten. 14 der »Verschwundenen«, die sich aus Angst versteckt hatten, tauchen wieder auf, 43 werden weiter vermisst.

1.10.: Überlebende, Angehörige und Unterstützer beginnen mit Demonstrationen.

4.10.: Bei Iguala werden sechs Massengräber mit 28 Leichen gefunden. Später werden viele weitere entdeckt, die Studenten bleiben aber verschollen.

8.10.: Erster weltweiter Aktionstag für die »Verschwundenen«.

22.10.: Die Generalstaatsanwaltschaft erklärt, Abarca habe die Attacke auf die Studenten angeordnet. Knapp zwei Wochen später werden er und seine Frau verhaftet.

7.11.: Der Staatsanwalt gibt bekannt, dass drei Personen den Mord an den 43 gestanden hätten. Ihre Leichen sollen auf einer Müllhalde in Cocula verbrannt worden sein. Eltern bezweifeln diese Version. Sie gehen davon aus, dass ihre Kinder noch leben und fordern deren Freilassung.

8.11.: Während eines Protests wird der Regierungspalast von Guerrero in Chilpancingo in Brand gesetzt.

11.11.: Argentinische Experten, die die Ermittlungen unterstützen, geben bekannt, dass die DNA bisher entdeckter menschlicher Überreste nicht mit der der Vermissten übereinstimmt.

12.11.: Die Funde aus Cocula werden zur Identifikation an die Universität Innsbruck geschickt.

20.11.: Großdemonstration in Mexiko-Stadt. 15 Personen werden festgenommen. Die Repression gegen Aktionen für die »Verschwundenen« wächst.

22.11.: Die Eltern beginnen, selbst nach den Vermissten zu suchen.

6.12.: Die Staatsanwaltschaft gibt bekannt, dass Knochenreste aus Cocula dem Studenten Alexander Mora zugeordnet werden konnten. Damit gilt der Tod eines der 43 Vermissten als bewiesen.

2015

14.1.: Chefermittler Tomás Zerón erklärt seine Möglichkeiten für erschöpft und kündigt so das Ende der Ermittlungen an.

27.1.: Die Staatsanwaltschaft hält an ihrer Version fest.

8.2.: Argentinische Experten sprechen von Versäumnissen bei den Ermittlungen.

26.3.: Großdemonstration in Mexiko-Stadt sechs Monate nach dem »Verschwinden« der Studenten.

(TeleSur/jW)



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