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Keine Gerechtigkeit für Brad Will

Mexiko: Massive Zweifel an offizieller Darstellung des Mordes an US-Journalisten in Oaxaca

Von Andreas Knobloch *

Täter gefaßt, Fall abgeschlossen. So wäre es dem mexikanischen Staat am liebsten. Doch es bestehen erhebliche Zweifel an der offiziellen Version, nach der der mutmaßliche Mörder des US-amerikanischen Journalisten Bradley Roland Will allein gehandelt habe. Als »Scherz« bezeichnete der Lokalabgeordnete der Arbeiterpartei (PT), Flavio Sosa Villavivencio, entsprechende Verlautbarungen. »Das glauben Sie doch selbst nicht?« wies er die Darstellung von Generalstaatsanwalt Manuel de Jesús López zurück, wonach es zwar einen Todesschützen, aber keine Hinweise auf »intellektuelle Köpfe« hinter der Tat gebe.

Der unabhängige Dokumentarfilmer und Anarchist Brad Will war im Oktober 2006 nach Oaxaca gereist, um für das alternative Mediennetzwerk Indymedia die sozialen Auseinandersetzungen in Oaxaca zu dokumentieren. Ein von der lokalen Lehrergewerkschaft im Mai 2006 initiierter Streik war zu einer von weiten Teilen der Bevölkerung getragenen siebenmonatigen Volkserhebung angewachsen, die sich in der Asamblea Popular de los Pueblos de Oaxaca (APPO) organisierte und den Rücktritt von Gouverneur Ulises Ruiz Ortiz verlangte, dem Korruption und Erpressung vorgeworfen wurden. Während der Auseinandersetzungen und bei der gewaltsamen Niederschlagung des Aufstandes durch die Polizei gab es mindestens 18 Tote. Will wurde am 27. Oktober in der Nähe einer Barrikade von zwei Schüssen getroffen und verstarb kurz darauf. Mit ihm verloren auch Esteban Zurita López und der Lehrer Emilio Alonso Fabián ihr Leben.

Ende vergangener Woche war Lenin Emelio Osorio Ortega der Öffentlichkeit als mutmaßlicher Mörder von Will präsentiert worden – fast sechs Jahre nach den Geschehnissen. Nach bisherigen Informationen gehörte Osorio Ortega weder der Polizei noch irgendeiner anderen Organisation an. Zwischenzeitlich hatte die Generalstaatsanwaltschaft sogar die APPO selbst beschuldigt, für den Tod Wills verantwortlich zu sein. Im Oktober 2008 wurde der APPO-Sympathisant Juan Manuel Martínez Moreno festgenommen. Erst nach 16 Monaten Haft kam er aus Mangel an Beweisen wieder frei.

Die nun von der Staatsanwaltschaft präsentierte Version der Ereignisse »entfernt uns von der historischen Chance, Gerechtigkeit walten zu lassen«, erklärte Sosa Villavicencio in einem Kommuniqué, das von der Tageszeitung El Universal zitiert wird. Er gehörte der provisorischen Führungsspitze der APPO an und war deren Sprecher. Zwischen 2006 und 2008 war er wegen seiner Beteiligung an der sozialen Erhebung inhaftiert. »Wenn es sich um einen ›Einzeltäter‹ handelt heißt das, daß er isoliert und auf eigene Initiative handelte. Dann fehlen aber immer noch die anderen ›Einzelschützen‹, staatliche Agenten, die schon vor längerer Zeit mit Namen und Nachnamen identifiziert wurden« und an dem Angriff beteiligt waren, bei dem Brad Will starb.

Auch der Anwalt der Familie Will äußerte Zweifel an der Einzeltäterthese. Er bat die Behörden, den Fall noch nicht abzuschließen.

* Aus: junge Welt, Freitag, 1. Juni 2012


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