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Handstreich in Mexiko

Präsident Calderón löst staatliche Stromgesellschaft LFC auf

Von Gerold Schmidt, Mexiko-Stadt *

Es war kurz vor Mitternacht. Innerhalb weniger Minuten ließ die mexikanische Regierung am vergangenen Samstag handstreichartig fast alle der gut hundert Gebäude und Büros der staatseigenen Stromgesellschaft LFC durch Polizei und Militär besetzen. Die LFC versorgt die Metropole Mexiko-Stadt sowie große Kommunen mehrerer umliegender Bundesstaaten mit Strom. Kurz nach der Besetzung veröffentlichte die Regierung ein von Präsident Felipe Calderón unterschriebenes Dekret, in dem die Stromgesellschaft mit ihren 41 000 Beschäftigten für aufgelöst erklärt wird. »Nachgewiesene operative und finanzielle Ineffizienz« führt die Regierung als Hauptargument für ihre drastische Entscheidung an. Auch wenn die LFC aus verschiedensten Gründen tief in den roten Zahlen steckt und Effizienz nicht ihr Markenzeichen ist, sind die Motive vor allem politischer Art.

In der LFC hat die Gewerkschaft der Mexikanischen Elektrizitätsarbeiter (SME) ein weitgehendes Mitbestimmungsrecht. Die SME ist eine der wenigen großen unabhängigen und vor allem streitbaren Arbeiterorganisationen. Der konservativen Regierung ist sie seit langem ein Dorn im Auge und ein Hindernis für eine stärkere Öffnung des Stromsektors gegenüber der Privatwirtschaft. Die mit ihrer über 90jährigen Geschichte älteste mexikanische Industriegewerkschaft hat sich immer auch als eine politische Gewerkschaft verstanden. In den vergangenen Jahren beteiligte sie sich aktiv an verschiedenen gesellschaftlichen Bündnissen gegen eine neoliberale Politik.

Der Moment für den Überraschungsschlag war aus Regierungsperspektive günstig. Durch Auseinandersetzungen zwischen dem im Frühjahr knapp wiedergewählten SME-Vorsitzenden Martín Esparza und seinem früheren Schatzmeister Alejandro Muñoz, der das Wahlergebnis anficht, war die Gewerkschaft in den vergangenen Monaten praktisch gespalten. Indem das mexikanische Arbeitsministerium Esparza die Anerkennung, die normalerweise als eine reine Formsache durchgeht, verweigerte, schürte es den Konflikt weiter. Begleitend führte die Mehrheit der Massenmedien eine gegen die SME gerichtete Kampagne, in der viel von angeblicher Korruption und unverdienten Privilegien die Rede war. Verschiedene Unternehmergremien fielen in diesen Chor ein. Daß gerade die SME mit ihren regelmäßigen Versammlungen, internen Abstimmungen und intensiv geführten Diskussionen eine Ausnahme im mexikanischen Gewerkschaftspanorama darstellt und mit vergleichsweise hohen Lohnabschlüssen den Arbeitern einen würdigen Lebensstandard sicherte, wurde verschwiegen. Präsident Calderón nannte das in einer landesweit übertragenen Ansprache am Sonntag abend abwertend »kostspielige Leistungen«.

Nun sollen die LFC-Beschäftigten mit überdurchschnittlich hohen Abfindungszahlungen geködert werden, die sie bis Mitte November »freiwillig« akzeptieren können. Die vom Präsidenten in Aussicht gestellte Wiedereinstellung einer »möglichst hohen Zahl« von Arbeitern unter dem Dach der in den übrigen Landesteilen operierenden Bundesstromgesellschaft CFE wurde von Finanzminister Agustín Carstens umgehend relativiert. Zehntausend Einstellungen seien eine realistische Zahl. Felipe Calderón versichert, die Gesellschaft werde nicht privatisiert. Allerdings hat es die Regierung in den letzten Jahren beim staatlichen Ölkonzern PEMEX vorgemacht, wie durch die Auslagerung von immer mehr Dienstleistungsbereichen eine schleichende Privatisierung vonstatten gehen kann.

In den vergangenen Tagen protestierten bereits Tausende SME-Mitglieder auf der Straße gegen die Regierung. Für Donnerstag ist eine Großkundgebung angekündigt. Der SME-Vorsitzende und sein interner Opponent haben vorerst ihre Divergenzen zurückgestellt. Noch muß sich zeigen, inwieweit auch andere unabhängige Gewerkschaften in Mexiko das Vorgehen des Präsidenten als Kampfansage an sich selbst sehen. Vom Parlament kann die SME keine größere Unterstützung erwarten, obwohl die Regierungspartei dort in der Minderheit ist. Der wirtschaftsliberale Flügel der oppositionellen Revolutionären Institutionellen Partei (PRI), die im Parlament fast die absolute Mehrheit besitzt, hat sich bereits auf die Seite Calderóns geschlagen. Doch es gibt eine Menge Stimmen, die durch die Konfrontation mit der Gewerkschaft die Gefahr eines sozialen Flächenbrandes wachsen sehen.

* Aus: junge Welt, 14. Oktober 2009


40 000 Arbeiter auf der Straße

Gewaltsame Schließung eines Stromversorgers bereitet Privatisierung vor

Von Albert Sterr **


Die Beschäftigten des mexikanischen Energieerzeugers Luz y Fuerza del Centro wollen sich gegen die überraschende Schließung des staatlichen Unternehmens wehren.

In einer Nacht-und-Nebel-Aktion haben am Sonntag rund 5000 Bundespolizisten den Firmensitz des Stromversorgers Luz y Fuerza del Centro in Mexiko-Stadt besetzt. Sie sperrten die gesamte Umgebung ab, brachten die Mitarbeiter aus dem Gebäude und verhinderten, dass die gewerkschaftlich organisierten Angestellten zum Schichtwechsel ihre Arbeit antreten konnten. In einem Dekret gab die konservative Regierung von Präsident Felipe Calderón die »Liquidierung des Unternehmens« wegen angeblicher Ineffizienz bekannt. Die rund 40 000 Beschäftigten stehen auf der Straße.

Luz y Fuerza, einer der beiden großen staatlichen Stromerzeuger, beliefert rund 25 Millionen Kunden vor allem im Großraum Mexiko-Stadt und im Zentrum des Landes. Gleichzeitig ist es eine Bastion der Gewerkschaft der Elektrizitätsarbeiter (SME), die seit Jahrzehnten ihre Unabhängigkeit von Regierungen wahren konnte und zu den bestorganisierten und kämpferischsten Gewerkschaften des Landes gehört. Die SME hat in den vergangenen Jahren große Anstrengungen unternommen, um im Energiesektor sowie mittels von ihr initiierter Bündnisse wie dem »Nationalen Dialog« auch darüber hinaus den Privatisierungskurs zu stoppen. Mit der Schließung des Unternehmens stünde auch die Grundlage der Gewerkschaftsorganisation zur Disposition.

Wenige Stunden nach der Polizeiaktion, die ähnlich auch an mehreren anderen Standorten ablief, protestierten bereits 15 000 Mitarbeiter gegen die Schließung. Für Donnerstag ist eine weitere Großdemonstration geplant. SME- Sprecher Fernando Amezcua sagte: »Uns erwartet ein langwieriger Kampf, aber ich kann versichern, dass sie uns das Unternehmen nicht wegnehmen werden.« Auch juristisch soll dagegen vorgegangen werden. Der Gewerkschaftssitz wird von Mitgliedern geschützt, weil eine Besetzung durch die Polizei befürchtet wird.

Die Gewerkschaft sieht die Schließung als Element der neoliberalen Wirtschaftspolitik der Regierung, die auch von der größten Oppositionspartei, der ehemaligen Staatspartei PRI, mitgetragen wird. »Die Regierung will die Stromversorgung privatisieren und diese zusammen mit dem Glasfasernetz an transnationale Konzerne übergeben«, kritisiert Gewerkschafter Amezcua. Wie der Erdölsektor, dessen versuchte Privatisierung im vergangenen Jahr mit einer breiten Mobilisierung weitgehend blockiert werden konnte, ist in Mexiko laut Verfassung die Stromversorgung Staatsangelegenheit.

Tage vor der Polizeiaktion hatte sich das Arbeitsministerium geweigert, die Wiederwahl von SME-Generalsekretär Martín Esparza Flores anzuerkennen. Es habe bei der Wahl »Defizite und Unregelmäßigkeiten« gegeben. Die Nichtanerkennung bedeutet automatisch die Blockade der gewerkschaftseigenen Bankkonten und die Unterbrechung des Einzugs der Mitgliedsbeiträge. Auch bei der Minenarbeitergewerkschaft, die langwierige Arbeitskonflikte durchzufechten hat, ging die Regierung Calderón nach diesem Muster vor. Die durch interne Konflikte und das Wahldebakel vom vergangenen Juli stark geschwächten Mitte-Links-Parteien erklärten ihre Solidarität mit den unter Druck stehenden Gewerkschaftern.

** Aus: Neues Deutschland, 14. Oktober 2009


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