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"Wir sind keine Schafe"

Die Protestbewegung des mexikanischen Oppositionsführers López Obrador ist sehr auf seine Person zugeschnitten. Demokratische Strukturen angemahnt

Von Gerold Schmidt *

Gut drei Monate sind seit den mexikanischen Präsidentschaftswahlen vom 2. Juli vergangen. Juristisch sind alle Proteste gegen das Wahlergebnis abgeschmettert worden. Es kam, wie es letztendlich erwartet worden war. Das mexikanische Bundeswahlgericht erklärte den konservativen Kandidaten Felipe Calderón trotz aller Ungereimtheiten und Manipulationsvorwürfe Anfang September zum gewählten Präsidenten des Landes. Die politische Courage oder den Willen, mit einer Annullierung des Urnengangs vom 2. Juli einen Präzedenzfall zu schaffen oder mit der Anordnung einer kompletten Nachzählung aller Stimmen für mehr Klarheit zu sorgen, brachten die Richter nicht auf. Nach Kleinstkorrekturen lautet das Ergebnis: 35,71 Prozent für Calderón von der regierenden Partei der Nationalen Aktion (PAN) und 35,15 Prozent für seinen mit einem sozialdemokratischen Programm angetretenen Konkurrenten Andrés Manuel López Obrador, kurz AMLO, von der Partei der Demokratischen Revolution (PRD). In absoluten Zahlen ausgedrückt, bedeuten die Prozentangaben einen Vorsprung von 233000 Stimmen. Nach wie vor zweifeln große Teile der Bevölkerung das Resultat an. Das politische und ökonomische Establishment Mexikos atmet vorerst auf; das Schreckgespenst Andrés Manuel López Obrador scheint gebannt. Verschwunden ist es deswegen nicht. Im Gegenteil: Fast auf Schritt und Tritt wird Felipe Calderón, der sein Amt am 1.Dezember antreten soll, von seinen Gegnern an den vermeintlichen oder tatsächlichen Wahlbetrug erinnert. Zuletzt sogar von Volksorganisationen in Honduras, auf seiner Vorstellungsreise durch Lateinamerika. In Mexiko selbst, so sagt ihm sein Gegenspieler voraus, werde er sich aufgrund der Ablehnung durch die Bevölkerung nur im Hubschrauber und abgeschirmt von Leibwächtern bewegen können.

So wird es wohl nicht kommen. Aber »die Bewegung gegen den Wahlbetrug behält eine bemerkenswerte Vitalität und Mobilisierungsfähigkeit«, kennzeichnet Luis Hernández Navarro, Kolumnist der Tageszeitung La Jornada, die aktuelle Situation. Der offizielle Verlierer AMLO hat noch lange nicht aufgegeben. Er setzt nun auf eine längerfristige Strategie mit einer inner- und außerparlamentarischen Opposition. In der Wortwahl ist er dabei nicht zimperlich. »Zum Teufel mit den Institutionen«, schleuderte er dem klerikal-konservativen Regime vor seinen Anhängern auf dem Zocalo, dem Versammlungsplatz vor dem Nationalpalast im historischen Zentrum von Mexiko-Stadt, entgegen.

Der Demokratische Nationalkonvent

Doch wie radikal ist seine Systemopposition wirklich? Geht es López Obrador am Ende nur darum, früher oder später doch auf den Präsidentensessel zu kommen, oder will er ehrlich eine von seinen ursprünglich moderaten Vorstellungen abweichende grundsätzliche Transformation der mexikanischen Gesellschaft? Welche Eigendynamik kann die Bewegung gegen die Wahlmanipulationen erlangen? Welchen Spielraum hat sie? Die Einschätzungen darüber gehen weit auseinander. Für eine Antwort, so meinen viele, ist es noch zu früh. Wegweiser wird dabei sicherlich die Entwicklung des Demokratischen Nationalkonvents (CND) sein.

Von einer Million Delegierten des Konvents ließ sich López Obrador am 16. September, dem mexikanischen Unabhängigkeitstag, auf dem Zocalo als »legitimer Präsident« akklamieren. Das ursprüngliche Ziel waren gut 400000 Teilnehmer. Am 20. November, als Tag der Revolution ein weiteres symbolisches Datum in Mexiko, will AMLO vor seinen Anhängern den Präsidenteneid ablegen. Damit kommt er Calderón zuvor, der die Präsidentenschärpe am 1. Dezember von seinem Vorgänger Vicente Fox übernehmen soll. López Obrador beruft sich auf den Artikel 39 der mexikanischen Verfassung. Darin heißt es: »Die nationale Souveränität wohnt essentiell und originär dem Volk inne. Jede öffentliche Gewalt entspringt dem Volk und wird zu dessen Nutzen eingerichtet. Das Volk hat jederzeit das unveräußerliche Recht, seine Regierungsform zu ändern oder zu modifizieren.« In diesem Sinne soll AMLOs Parallelregierung ein eigenes Kabinett mit Sitz in Mexiko-Stadt haben. Gedacht ist jedoch mehr an eine »reisende Regierung«, die mit López Obrador an der Spitze das gesamte Land besucht und für ihre Ideen wirbt. Ein Aktionsprogramm von fünf Punkten wurde vom Demokratischen Nationalkonvent verabschiedet. Zusammengefaßt hat es folgende recht allgemein gehaltene Ziele: Bekämpfung von Armut und Ungleichheit, das Erbe der Nation gegen die Privatisierungen verteidigen, das Recht auf Information der Öffentlichkeit durch Medien durchsetzen, die die Wiedergabe aller gesellschaftlichen Ausdrucksformen garantieren, den Patrimonialstaat und seine Korruption zurückweisen und für die tiefgreifende Erneuerung der Institutionen im Ramen eines verfassungsgebenden Prozesses kämpfen.

Gemäßigte AMLO-Anhänger wie der Schriftsteller Juan Villoro befürchten, der beratungsresistente »legitime Präsident« verlasse sich zuviel auf seine Eingebungen, auch wenn sie ihm oft Recht gegegeben hätten. »Er verwechselt das Tragische mit dem Historischen.« Villoro merkt auch vorsichtig an, daß die mehrfachen Massenmobilisierungen nicht zwangsläufig mit einer Mehrheit gleichzusetzen sind. Eine Wahl­enthaltung von 40 Prozent und das Stimmenergebnis von 35 Prozent– selbst, wenn es ohne alle Manipulationen um einiges besser gewesen wäre – sind Belege dafür. Von links kommt Kritik an der bisher wenig demokratischen Struktur des CND. Die Massenakklamation lasse keinen Platz für kritische Stimmen, die stark auf AMLO zugeschnittene Organisation sei keine Lösung. Adolfo Gilly kritisiert die »fehlende Übereinstimmung zwischen Erklärungen und Taten, fehlende Klarheit über Ziele und die Wege, sie zu erreichen«. Ähnlich befürchtet mit Gilberto López y Rivas ein weiterer früherer PRD-Politiker, der Widerstand könne sich »in der Alltäglichkeit, dieser fürchterlichen Feindin jedes alternativen Projektes, verlaufen«.

Fragliche Unterstützung

Eine weitere Unwägbarkeit ist der parlamentarische Weg der PRD und ihrer Verbündeten aus der Partei der Arbeit und der Demokratischen Konvergenz. Als »Koalition zum Wohle aller« gemeinsam bei Präsidentschafts- und Parlamentswahlen angetreten, ist die Allianz trotz aller Unkenrufe nicht auseinandergebrochen. Im Gegenteil: Unter dem Namen »Breites Fortschrittliches Bündnis« (FAP) wollen die drei Parteien in den kommenden Jahren gemeinsame Politik in Senat und Abgeordnetenhaus machen. Nach der Wahlgesetzgebung muß sich das FAP ausgerechnet bei der Wahlbehörde Instituto Federal Electoral registrieren lassen, also jener Institution, der von López Obrador und der Konvention ausdrücklich jegliche Legitimität abgesprochen wird. Das Bündnis ist darauf ausgerichtet, als zweitstärkste Kraft nach der regierenden PAN die institutionellen Spielräume im Parlament zu nutzen. Besonders die Partei der Demokratischen Konvergenz dürfte ein ständiger Wackelkandidat sein.

Unklar ist, was aus der PRD selbst wird. Deren Neugründung unabhängig von der Beibehaltung oder Änderung des Namens wird von vielen als unerläßlich angesehen. Süffisant weisen beispielsweise immer wieder die aufständischen Zapatisten aus dem Bundesstaat Chiapas auf die wenig rühmliche politische Vorgeschichte vieler Abgeordneter und Senatoren der PRD in der Partei der Institutionalisierten Revolution (PRI) hin. Letztere hat sich als dritte Kraft klar auf die Seite der PAN geschlagen. Ob alle Mandatsträger der PRD der von López Obrador vorgegebenen Linie folgen werden, Calderón am 1. Dezember die Anerkennung zu versagen, ist keineswegs garantiert. Hinter den Kulissen hat die entsprechende Wühlarbeit der PAN längst begonnen.

Den amtierenden PRD-Gouverneuren in den Bundesstaaten Baja California Sur, Zacatecas, Michoacán und Guerrero ist das Hemd ebenfalls näher als die Hose. Ihre Unterstützung für AMLO kann nicht anders als lauwarm bezeichnet werden. Vor einem allzu heftigen Konflikt mit der zukünftigen »gewählten Regierung«, von deren Finanzzuweisungen sie zu einem großen Teil abhängen werden, scheuen sie zurück. Und geradezu ein Trauerspiel war der jüngst gezeigte Korpsgeist der vier PRD-Gouverneure im Fall der seit Monaten andauernden Volksrebellion im Bundesstaat Oaxaca. Zusammen mit ihren Kollegen von PAN und PRI unterschrieben sie eine Solidaritätserklärung für Gouverneur Ulises Ruiz, der durch sein Festklammern an seinem Amt schlicht unhaltbar geworden ist. Kaum denkbar, wie mit diesen PRD-Politikern ein – alternativer– Staat zu machen ist. Insofern ist die Anmerkung von Hernández Navarro zum Verhältnis und Spagat von Parteien und Bewegung fast schon überholt: »Noch ist unklar, ob diese Beziehung zwischen Aktion in den Straßen und parlamentarischer Vertretung sowie Lokalregierungen sich halten kann, oder im Gegenteil, wie es ein um das andere Mal in der Vergangenheit geschah, Abgeordnete und Regierende nach ihren eigenen Interessen handeln werden.«

Spannungsverhältnis zu Zapatisten

Betrachtet man das Vorgehen von López Obrador in den zurückliegenden Monaten, so scheint er den Aktionen der Zapatistischen Armee der Nationalen Befreiung (EZLN) einiges abgeschaut zu haben: ein Nationalkonvent, der Versuch, eine dauerhafte und in ihrem Fall wirklich systemkritische Massenbewegung zu etablieren sowie die Taktik, mit gezielten Einzelaktionen oder Kampagnen immer wieder die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen – alles das war und ist Bestandteil der bald dreizehnjährigen zapatistischen Aufstandsgeschichte. Trotz oder vielleicht wegen dieser Ähnlichkeiten ist die Distanz zwischen EZLN und AMLO jedoch groß. Zu Recht haben die Zapatisten immer wieder betont, in entscheidenden Augenblicken von der PRD alleingelassen oder – wie im Fall des sogenannten Indigena-Gesetzes im Jahr 2001 – verraten worden zu sein. Ende September machte Subcomandante Marcos, der weiße Sprecher der in überwältigender Mehrheit indigen geprägten EZLN, in mehreren langen Kommuniqués noch einmal deutlich. »Wir teilen mit ihnen weder den Weg noch das Ziel«, schreibt er, obwohl auch die EZLN vom Wahlbetrug überzeugt ist. Der zapatistische Weg besteht derzeit in der vor gut einem Jahr angestoßenen »anderen Kampagne«. Abseits vom Parteiensystem und nach wie vor ohne Anspruch auf die Macht ist diese Aktion der erneute Anlauf, »links und antikapitalistisch von und für unten« die systemoppositionellen Kräfte im Land zu bündeln. Das Kampagnenbild, ihr »Gesicht«, wie Marcos es selbst eingestehen muß, erscheint aber immer noch sehr diffus.

Die Zapatisten zeigen durch Marcos die Schwachstellen der Protestbewegung von López Obrador zielsicher auf. Wenn sie anklagen, AMLO gehe es nur darum, seine Option auf das Präsidentenamt für 2012 oder im günstigsten Fall früher zu konsolidieren, werden ihnen die kommenden Jahre möglicherweise recht geben. Die überwiegend abwertenden Bemerkungen über die Protestbewegung als Ganzes dürften dem zapatistischen Anspruch, mit ihrer Kampagne zu summieren, nicht auszugrenzen, aber genauso wenig dienen wie eine undifferenzierte Intellektuellenschelte. Wenn die früher von Marcos hochgeschätzte Schriftstellerin Elena Poniatow­ska nun wegen ihrer Unterstützung für López Obrador als »kleine Elena« bezeichnet wird, trifft das auch die über den Wahlbetrug empörte Basis, die mit Überzeugung auf dem Demokratischen Nationalkonvent war, aber den Sympathien für die Anliegen der EZLN deswegen nicht abschwört. Ohne daß sie namentlich vom Subcomandante erwähnt werden, ist der Fall ähnlich bei der inzwischen fast 80jährigen Menschenrechtlerin Rosario Ibarra und dem Historiker und Krimiautor Paco Ignacio Taibo II. Ibarra, 1994 Präsidentin des zapatistischen Konvents, ist in der neuen Legislaturperiode PRD-Senatorin. Nicht einmal zwei Jahre ist es her, als Taibo II zusammen mit Marcos den Krimi »Unbequeme Tote« als Fortsetzungsroman in La Jornada veröffentlichte. Taibo II gehört sicher nicht zu denjenigen, die López Obrador anhimmeln. Dennoch engagiert auch er sich stark in dessen Bewegung.

In seiner Erläuterung der »anderen Kampagne« gibt Marcos selbst zu, daß diese in ihrer mittelfristigen Strategie auf eine AMLO-Präsidentschaft ausgerichtet war. Dessen enttäuschte Anhänger sollten etwa 2009 für das antikapitalistische Alternativprojekt gewonnen werden. Vorerst wird nicht nachgeprüft werden können, ob dieses gewagte Rechenspiel aufgegangen wäre.

Wohin bewegt sich die Basis?

Den vielen skeptischen Anmerkungen zu López Obrador stehen auf der anderen Seite anhaltende Wut und Engagement von dessen Basis gegenüber. Mögen die wochenlangen und erst seit dem Konvent aufgehobenen Protestblockaden im Zentrum von Mexiko-Stadt manchen braven Bürger verschreckt haben, es gilt dennoch: Weder ist AMLOs Popularität deswegen kleiner geworden noch die Bewegung. Für viele, die Tage und teilweise auch Nächte auf dem zwölf Kilometer langen Protestkorridor vom Zocalo vor dem Nationalpalast bis zum Ende der Avenida Reforma verbrachten, waren die ständigen Diskussionen und Veranstaltungen im Gegenteil eine politische und soziale Schule. Taibo II machte dort »eine enorme Bereitschaft zum Widerstand« aus, »die nicht so einfach gebrochen werden kann«. Noch hat dieser Widerstand ganz eindeutig in López Obrador seine Kristallisationsfigur. Doch gerade Elena Poniatowska machte auf dem Nationalkonvent auch klar: »Wir sind keine Schafe.« Eine emanzipierte Bewegung könnte sehr schnell über die begrenzte Vision der Parteien und über López Obrador hinauswachsen.

* Aus: junge Welt, 10. Oktober 2006


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