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Mexiko: Schwarzer Freitag

Polizeitruppen nach Oaxaca. Drei Tote bei Angriff von Paramilitärs. Innenminister stellt Ultimatum

Von Gerold Schmidt (npl), Mexiko-Stadt *

Drei Tote und mindestens zwei Dutzend Verletzte – das ist die vorläufige Bilanz nach einem Überfall auf die Stadt Oaxaca im Süden Mexikos am Freitag nachmittag. Nach Berichten aus der seit fünf Monaten besetzten Stadt hatten Paramilitärs und Polizisten Mitglieder der Selbstverwaltung angegriffen. Zwei Mexikaner und ein US-amerikanischer Journalist wurden dabei getötet. Auf Anordnung von Präsident Vicente Fox wurden am Samstag mehrere tausend Bundes- sowie Militärpolizisten entsandt, um vor Ort »Ordnung und Frieden« wiederherzustellen.

Oaxaca wird seit Mai dieses Jahres von der »Volksversammlung der Dörfer von Oaxaca« (APPO) dominiert. Der politische Konflikt mit Gouverneur Ulises Ruiz Ortiz von der »Partei der Institutionellen Revolution« (PRI), die Mexiko bis 2000 rund 71 Jahre autokratisch beherrscht hatte, begann zunächst mit einem Streik der Lehrergewerkschaft SNTE. Nachdem Ruiz die Polizei gegen die Demonstranten aufmarschieren ließ, eskalierte die Situation. Mit Unterstützung sozialer Organisationen und linker Gruppen, die sich in der APPO zusammengeschlossen hatten, wurden Ruiz und die Sicherheitskräfte des Staates aus der Stadt vertrieben. Die APPO führt die Verwaltung seither in Eigenregie fort, betonte jedoch immer wieder, die Macht an die Regierung zurückgeben zu wollen, sofern der Gouverneur zurücktrete und ihre sozialen Forderungen erfüllt würden.

Kein Ende in Sicht

Die am Samstag abend von Enrique Rueda, dem Vorsitzenden der Lehrergewerkschaft Oaxacas, für den heutigen Montag angekündigte Wiederaufnahme des Unterrichts nach fünfmonatigem Streik ist nach Angriff und Truppenmobilisierung nun unsicher. Trotz der breiten Volksbewegung gegen seinen weiteren Amtsverbleib weigerte sich Gouverneur Ulises Ruiz Ortiz auch am Wochenende beharrlich, zurückzutreten. Deutlich wurde, daß der Konflikt – anders als von Nachrichtenagenturen im Wochenverlauf voreilig gemeldet – längst nicht zu Ende ist.

Am Freitag war die Lage eskaliert, als Polizisten und Mitglieder der in Oaxaca regierenden PRI simultan mehrere Barrikaden der APPO in Oaxaca-Stadt und Vororten angriffen. Dabei setzten die paramilitärisch organisierten Unterstützer des Gouverneurs scharfe Munition ein. Die aufständische Bevölkerung wehrte sich mit Steinen, Molotow-Cocktails und handgefertigten Waffen. Bei den Attacken starben neben einem Lehrer und einem Gemeindebauern der New Yorker Kameramann Bradley Will durch Schüsse in Brust und Bauch. Will arbeitete für den unabhängigen Medienverbund Indymedia. Weil zudem mindestens zwei mexikanische Journalisten unter Beschuß genommen wurden, wird über einen gezielten Angriff auf Medienvertreter spekuliert. Unklar war am zweiten Tag nach dem Angriff die genaue Zahl der verschleppten Lehrer und APPO-Mitglieder. Möglicherweise hat es weitere Morde gegeben.

Unklarheit herrschte in der Nacht zum Sonntag ebenfalls über das weitere Vorgehen der bis dahin auf dem Flughafen von Oaxaca-Stadt konzentrierten Polizei- und Armeeinheiten. Laut Innenminister Carlos Abascal sollen sie »Sicherheit bieten«. Gleichzeitig stellte Abascal der APPO ein Ultimatum zur Freigabe von Straßen und blockierten Gebäuden. Die APPO lehnte dies ab und verurteilte die Intervention. Im Rahmen eines neun Punkte umfassenden Aktionsplanes erklärte sie sich jedoch zu weiteren Gesprächen mit der Bundesregierung bereit. Sie wies ihre Mitglieder an, der direkten Konfrontation mit der Bundespolizei aus dem Weg zu gehen. Eine Intervention der Bundestruppen mit weiteren Toten war zu Redaktionsschluß nicht auszuschließen.

Rücktritt gefordert

Mitglieder der Lehrergewerkschaft und der APPO betonten in verschiedenen Erklärungen ihre Aktionseinheit. Der Abbruch des Lehrerstreiks werde die Bewegung nicht spalten. Hauptziel bleibe nach wie vor der Rücktritt des Gouverneurs. Präsident Fox traf sich am Samstag ohne Ulises Ruiz Ortiz mit Gouverneuren anderer Bundesstaaten. Ein wichtiges Zeichen, denn auch aus Fox’ Partei, der rechtsklerikalen »Nationalen Aktion« (PAN) mehren sich Stimmen, die Ruiz Ortiz zum Rücktritt auffordern. In konkreten Druck hat sich dies aber offenbar noch nicht umgesetzt. Die PRI, auf deren Stimmen die PAN in der Bundespolitik angewiesen ist, stellte sich am Wochenende erneut hinter Oaxacas Gouverneur.

* Aus: junge Welt, 30. Oktober 2006

Allianz des Schreckens

Mexikos Zentralgewalt schützt korrupten Gouverneur vor dem Volk

Von Gerold Schmidt


Vor sechs Jahren kamen Mexikos konservativer Präsident Vicente Fox und dessen PAN (Partei der Nationalen Aktion) an die Regierung, weil auch Linke ihn wählten. Fox erschien damals einem breiten Bevölkerungsteil als die einzig realistische Option, um die 71jährige Vorherrschaft der korrupten Partei der Institutionellen Revolution (PRI) zu brechen. Nun beendet der Präsident knapp einen Monat vor der offiziellen Amtsübergabe an seinen Parteifreund Felipe Calderón seine Amtszeit möglicherweise mit einem Blutbad im Bundesstaat Oaxaca, weil er sich zur Geisel eben jener PRI hat machen lassen. Nach den Präsidentschaftswahlen vom 2. Juli dieses Jahres, deren Ergebnisse nach wie vor in Zweifel stehen, ist die PAN auf die PRI angewiesen, will sie sich gegen eine unter dem Oppositionsführer Andrés Manuel López Obrador erstarkte parlamentarische Linke behaupten. Felipe Calderón muß sich seine angekratzte Legitimation durch die PRI bestätigen lassen.

In Oaxaca hat sich PRI-Gouverneur Ulises Ruiz Ortiz seit Beginn seines Regierungsantritts vor knapp zwei Jahren der Verfolgung der Opposition und der Versorgung einer kleinen Günstlingsclique gewidmet. Von Menschenrechtsorganisationen und sozialen Bewegungen im Bundesstaat wird er für mehrere Dutzend Morde verantwortlich gemacht – als intellektueller Urheber. Ruiz Ortiz hat wiederholt bewiesen, daß für ihn die Menschenwürde antastbar ist. In seinem Vorgehen – zuerst gegen den seit fünf Monaten andauernden Lehrerstreik, dann gegen die seinen Rücktritt fordernde viel breitere Volksbewegung – ist er sich treu geblieben. Am vergangenen Freitag waren die Mörder wieder einmal identifizierbare Polizisten und Mitglieder der PRI-Administration.

Selbst in der PAN mehren sich inzwischen die Stimmen, die den Rücktritt des Gouverneurs fordern. Doch in der Praxis hält die perverse Allianz. Alles deutet darauf, daß die Entsendung von mehr als 5 000 Bundespolizisten der Niederschlagung der Bevölkerungsrebellion gegen den Gouverneur gilt, nicht der Entmachtung der örtlichen Sicherheitskräfte. Das Ultimatum der Zentralregierung zur Kapitulation richtete sich an die Volksbewegung, nicht an Ruiz Ortiz. Im schlimmsten Fall wird sich Präsident Fox in die Liste seiner Amtsvorgänger einschreiben, die mit einem Massaker als Hypothek aus dem Amt scheiden.

* Aus: junge Welt, 30. Oktober 2006




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