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Subcomandante Marcos rechnet ab

Erfolge in Chiapas sind durch militärische Einkreisung und politische Isolierung gefährdet

Interviews mit Subcomandante Marcos, dem mythenumrankten Sprecher der Zapatistischen Befreiungsarmee (EZLN), sind rar. Der mexikanischen Journalistin Laura Castellanos ist es geglückt. Im Mai erschien in Mexiko ihr Interviewbuch »Abrechnung« über Subcomandante Marcos.* Mit Castellanos sprach für das Neue Deutschland in Mexiko-Stadt Luz Kerkeling.**



ND: Wie kam es zu dem Band über Subcomandante Marcos?

Castellanos: Ich schreibe für die kolumbianische Zeitschrift »Gatopardo«. Wir wollten zum 14. Jahrestag des Aufstands der Zapatistischen Befreiungsarmee (EZLN) eine Reportage bringen. Über einen Kontakt bat ich um das Interview. Diese Person kannte mein Buch über die mexikanische Guerrilla und mein Interview mit EZLN-Kommandantin Ramona von 1994. Marcos akzeptierte. Er akzeptierte zudem erstmalig, für eine Titelseite zu posieren. Das Interview war lang und nur ein Teil wurde veröffentlicht. Daher entschieden Ricardo Trabulsi, der Fotograf der Reportage, und ich, ein Buch mit den kompletten Texten und Fotos zu veröffentlichen und dem Zapatismus in diesem Moment der Unsichtbarkeit einen Raum zu geben. Alle Gewinne fließen an die zapatistischen Selbstverwaltungsräte.

Wie waren die Reaktionen auf die Veröffentlichungen?

Die Nummer von »Gatopardo« war die meistverkaufte in ihrer achtjährigen Geschichte. Auch die Medien haben mit einer gewissen Offenheit reagiert. Nachdem die EZLN mit der institutionellen Linken gebrochen hatte, gab es einen Einbruch der medialen Aufmerksamkeit. Aber es gibt offenbar die Notwendigkeit, die komplette Version von Marcos bezüglich dieses Bruchs kennenzulernen. Nach drei Wochen war die erste Auflage von 2.000 Exemplaren ausverkauft. Unsere Homepage www. cortedecaja.org hatte im ersten Monat Aufrufe aus 58 Ländern.

Wie beurteilen Sie die Situation des Zapatistmus im Jahr 2008? 1994 hatte sich die Bewegung für »Land und Freiheit!« erhoben...

In den Gemeinden gibt es wichtige Fortschritte im Bereich der Lebensqualität, der Gesundheits- und Bildungsprojekte und einen graduellen kulturellen Wandel, was die Geschlechterverhältnisse angeht. Die jungen Frauen sind im Widerstand aufgewachsen und haben eine große Klarheit über ihren Platz und ihre Verantwortung in den Dörfern. Der größte Erfolg ist die neue zapatistische Generation, Männer und Frauen, die sich der Zukunft der Bewegung verpflichtet fühlen. Medial ist dies kaum sichtbar, aber wenn man die Gemeinden besucht, sieht man eine bis dato unbekannte soziale Erfahrung, die nicht nur für Mexiko, sondern auch für die Welt eine Lehre sein kann.

Wie steht es um die Repression gegen die Zapatisten?

Die Aufstandsbekämpfung wird immer aggressiver. Dahinter stehen Kapitalinteressen. Dies läuft nicht nur über Hilfsprogramme an regierungstreue Gemeinden. Es geht auch um die Plünderung von Ländereien, die sich die Zapatistas angeeignet haben. Mehr als 70 000 Hektar sind bedroht. Eine weitere Gefahr ist die Reaktivierung der Paramilitärs. Dazu kommt die hohe Militär- und Polizeipräsenz. Im Moment provozieren die Sicherheitskräfte die EZLN auf eine so direkte Weise, wie seit zehn Jahren nicht mehr. Die Zivilgesellschaft, die Intellektuellen und die Führer der Linksparteien, die zuvor die Zapatistas unterstützt hatten, äußern sich nicht, um diese Übergriffe zu stoppen. Es herrschen Apathie und Uninformiertheit. Die größte Unterstützung kommt aus den USA und Europa, wo eine Karawane vorbereitet wird, die noch im Sommer nach Mexiko kommt.

2005 lancierte die EZLN ihre »Sechste Erklärung aus der Selva Lacandona«, einen Vorschlag für ganz Mexiko: eine neue linke, antikapitalistische Verfassung, die eine Überwindung jedweder Ausgrenzung und Ausbeutung ermöglichen soll. Wie steht es um diese streng außerparlamentarische und pazifistische Mobilisierung?

Die Sechste Erklärung ist ein avantgardistischer Vorschlag auf politischer, sozialer und humanistischer Ebene und darüber hinaus. Sie ist ein integrierender Vorschlag, der horizontal und kollektiv ist, aber auch die Ebene des persönlichen Bewusstseins beinhaltet. Es geht auch um tiefen Respekt vor dem Planeten. Im Gegensatz zu vielen Bewegungen handelt es sich hier um einen längeren, aber tiefergehenden Prozess. Ich sehe dafür eine Zukunft. Vor allem nach den Wahlen von 2006 verstehen die Menschen in Mexiko immer mehr, dass die politischen Parteien nur für ihre Interessen und um die Macht kämpfen. Eine Bewegung, die nicht nach der Macht strebt, öffnet Räume für alle Menschen, die sich von den übrigen politischen Projekten nicht repräsentiert fühlen und in einer besseren Welt leben möchten.

Welchen Eindruck haben Sie von Marcos - als Aktivist, als Mensch?

Ich hatte ihn zuvor nur einmal im Jahr 1994 gesehen, während des Interviews mit Ramona im Kontext der Friedensverhandlungen in Chiapas. Damals schien er mir machistisch. Jetzt wollte ich ein Interview mit dem Menschen hinter der Maske - mit seinen Fehlern und Tugenden - machen. Ich sprach mit einem Mann, der reifer und ernsthafter war als 1994, mit einem intelligenten Mann.

Mich hat seine Traurigkeit überrascht. Er erwähnte, dass - obwohl die zapatistische Kommandantur viermal von Militärposten auf der Autobahn angehalten wurde - die Medien nicht berichteten und die Zivilgesellschaft nicht mobilisierte. Er sagte mir offen, dass sie als Bewegung dabei sind zu analysieren, wohin sie sich orientieren sollen - auch er als Person, als Sprecher der EZLN.

Ich habe ihn über seine Rolle als Protagonist befragt und er sagte mir dreimal, dass - wenn er etwas ändern könnte - es diese Angelegenheit wäre. Er würde nicht wieder so protagonistisch sein wollen. Er erläuterte mir, dass vor allem die Umstände zu dieser Rolle geführt haben.

Ich erhielt einen sehr umfassenden Eindruck seiner Persönlichkeit. Danach scheint es mir in sich schlüssig, was er in diesen 14 Jahren seit dem Beginn der Erhebung 1994 gesagt und getan hat.

* Der Band erscheint im Januar 2009 im Unrast-Verlag, Münster.*** Die Übersetzung liefert die Gruppe B.A.S.T.A aktuelle Informationen: www.chiapas98.de

** Aus: Neues Deutschland, 24. Juni 2008

*** Das Buch erschien 2008 im Nautilus Verlag unter dem Titel "Subcomandante Marcos - Kassensturz"


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