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"Ich spürte nur einen dumpfen Schmerz"

Auf der Migrationsroute von Mittelamerika über Mexiko in die USA sterben jedes Jahr rund 1000 Menschen

Von Kathrin Zeiske *

Migration ist kein Zuckerschlecken. Was prinzipiell gilt, gilt insbesondere für die Reise der zentralamerikanischen Migranten ohne Papiere durch das Transitland Mexiko. Amnesty International deklarierte sie zu einer der gefährlichsten Reisen der Welt.

Es ist stockdunkel. Ein Feldweg abseits der Landstraße, Pfützen voller Schlamm, ein Schienenstrang im Gras. Plötzlich ist das Licht zu sehen, erst klein, dann gleißend hell. Noch lange ist nichts anderes zu hören als das durchdringende Zirpen der Grillen und das Quaken vereinzelter Frösche in der Dunkelheit. Der Güterzug ist leise; er kommt ohne Getöse heran. Erst als die Lok mit ihrem blendenden Scheinwerfer vorbeifährt, erfüllt das Rattern der Waggons die Luft. Wie ein Spuk fährt der Zug vorbei; und nur wenn man genau hinsieht, macht man die zusammengekauerten Gestalten auf dem Dach aus.

Sie nennen den Zug die Bestie

Der gerade in Deutschland angelaufene Kinofilm »Sin Nombre« (Ohne Namen) beleuchtet die zwei vorrangigen Lebensperspektiven der meisten Heranwachsenden in Zentralamerika: Der Gang in die Jugendbanden, die sogenannten Maras, oder aber die Auswanderung in die USA sind die einzigen Fluchtwege aus Armut und Chancenlosigkeit. Der »American Dream« ist in Guatemala, Honduras und El Salvador allgegenwärtig, und die Realität der Migration nach Norden steht der Brutalität des Kinofilms in nichts nach. Auf dieser Migrationsroute sterben jedes Jahr schätzungsweise 1000 Menschen, mindestens 300 werden jährlich in Unfällen mit Güterzügen verkrüppelt; denn sie sind das Haupttransportmittel der klandestinen Reisenden.

La Bestia, die Bestie, nennen die Migranten den Zug wegen der Menschenleben, die er frisst. Trotzdem bietet er zumindest eine gewisse Sicherheit vor der Migrationspolizei. Denn die Landstraßen Südmexikos sind mit finanzieller Hilfe der USA seit dem Jahr 2001 mit Kontrollposten überzogen worden. Busse werden grundsätzlich angehalten und nach Reisenden aus dem Süden kontrolliert; Autos stichprobenweise. Die Angehörigen der mexikanischen Migrationspolizei (INM) nutzen ihre Uniform zumeist zur persönlichen Bereicherung und verlangen Geld von den Migranten, um sie zu »übersehen«. Doch Mexiko ist groß, und kaum jemand der Reisenden aus den zentralamerikanischen Ländern kann es sich leisten, jeden Beamten auf den vier- bis fünftausend Kilometern zwischen Süd- und Nordgrenze zu schmieren. So bleiben nur die Güterzüge als Reisemittel; und die sind gefährlich.

»Die Maras haben mich vom Zug geworfen«, sagt Mario, der auf einem alten Krankenhausbett in der Herberge Buen Pastor liegt. Er wickelt eine saubere Bandage um den Stumpf, der von seinem linken Unterschenkel geblieben ist. »Die Bandenmitglieder gingen die Zugdächer entlang und verlangten Geld von den Migranten. Als sie die beiden Frauen erspähten, die mit uns reisten, wollten sie sie vergewaltigen. Ich ging dazwischen. Es gab ein Gemenge, und sie packten mich, zählten laut, dann ließen sie mich zwischen die Waggons auf die Zuggleise fallen. Ich spürte nur einen dumpfen Schmerz, als ich aufprallte und der Zug über mein Bein rollte.«

Mario Justino Alonso aus dem honduranischen Olancho ist seit zwei Wochen in der Herberge, die im Bundesstaat Chiapas diejenigen aufnimmt, die auf ihrem Weg Richtung Norden scheitern. Dennoch, wer es bis in die flachen hellgelben Bauten in einem Außenviertel von Tapachula schafft, hat zumindest überlebt. Und Mario hat Glück gehabt, dass er nicht wie so mancher andere irgendwo an den Zuggleisen verblutet ist. »Mein Fuß hing halb abgetrennt an meinem Bein. Die beiden Migrantinnen, die abgesprungen waren, um den Maras zu entkommen, stützten mich, und so liefen wir zwei Stunden durch dichtes Gestrüpp.«

Schließlich kam Mario in das Öffentliche Krankenhaus von Villahermosa, Tabasco. »Warum bist du nicht dort geblieben, wo du herkommst?«, empfing ihn der diensthabende OP-Arzt abweisend. Mario ist sich bis heute nicht sicher, ob man seinen Fuß noch hätte retten können. »In sehr vielen Fällen wird eine schnelle Amputation einer aufwendigeren Rekonstruktion vorgezogen; gerade, wenn es sich um Migranten handelt«, berichtet Dr. Joel Barcelot Díaz, der seit drei Jahren als Arzt in der Herberge Buen Pastor arbeitet. »Auch wenn so viele Mexikaner selbst als Migranten in die USA gehen; der Rassismus gegen die südlichen Nachbarn macht jede Regung von Solidarität zunichte.«

Mexikos Bevölkerung hat kaum Mitleid

Die rassistischen Vorurteile der örtlichen Bevölkerung scheinen durch die massenweisen Abschiebungen noch verstärkt zu werden. »Im Jahr 2005 wurde in Tapachula das größte Abschiebegefängnis Lateinamerikas gebaut, die 'Migrationsstation 21. Jahrhundert'«, konstatiert Fermina Rodríguez, Direktorin des Menschenrechtszentrums Fray Matías de Córdova. »Die genauso euphemistisch benannte 'Sichere und geordnete Wiederbeheimatung'« erfolgt in Bussen, die täglich Hunderte von zentralamerikanischen Migranten zunächst von Abschiebestation zu Abschiebestation bis nach Tapachula herunterfahren und schließlich bis an die Grenze des jeweiligen Herkunftslandes zurückschieben.

»Ich bin schon neunmal abgeschoben worden«, erzählt José Alberto aus Guatemala-Stadt. Mit einem kleinen Rucksack steht er an den Gleisen. »Ich gebe trotzdem nicht auf. Irgendwann muss ich es doch bis in die USA schaffen. Das Schlimme sind nur die vielen Überfälle auf der Strecke, jeder nimmt die Migranten aus, denn wir können ja keine Anzeige erstatten. Aber am schlimmsten sind die Zetas, die uns entführen und foltern«, sagt der hagere Mann mit der Baseballkappe und schaudert sichtlich.

Das Drogenkartell der Zetas hat seinen Einflussbereich erst in den letzten Jahren nach Südmexiko ausweitet. Die einstige Eliteeinheit der mexikanischen Polizei wurde Ende der 90er Jahre vom Golfkartell um Osiel Cárdenas aufgekauft. Als seine Privatarmee wurden sie so mächtig, dass sie sich schließlich verselbstständigte. Heute stellen die Zetas in der Landenge von Tehuantepec in Oaxaca die stärkste Macht im Staat dar. Dort kontrollieren sie nicht nur den Drogenhandel, sondern nehmen auch die Ärmsten der Armen aus, die den Istmus auf ihrem Weg nach Norden durchqueren.

»Die Zetas haben uns gefasst, als wir in Ixtepec vom Zug sprangen; unsere ganze Gruppe, gut 40 Leute«, berichtet Imelda. »Sie waren schwer bewaffnet und brachten uns auf eine abgelegene Ranch. Die Männer sperrten sie in einen großen Raum, alle zwei Stunden gingen ein paar von ihnen rein und prügelten sie mit Holzplanken grün und blau; solange, bis sie die Telefonnummern ihrer Verwandten preisgaben. Wir waren nur sieben Frauen. Uns vergewaltigten sie abwechselnd, jede Nacht.« Der alleinerziehenden Mutter aus El Salvador mit den langen schwarzen Haaren stehen die Tränen in den Augen. »Manchmal schrie ich und wehrte mich, denn ich ertrug es nicht mehr, doch dann drohten sie, dass sie das gleiche auch mit meinem Sohn machen würden. Da war ich still; das wäre zu schrecklich gewesen.«

Die Polizei ist Teil der Kriminalität

»Vor Gott sind alle Menschen gleich; aber nicht in Mexiko«, sagt Pater Alejandro Solalinde, der vor drei Jahren die Migrantenherberge in Ixtepec gegründet hat. »Migranten werden hier nicht als Menschen wahrgenommen, sondern als Geldquelle. Für sie gibt es keine Rechte; es herrscht absolute Straflosigkeit. Die Polizei schaut nicht weg; sie ist Teil der organisierten Kriminalität im zerfallenden Staatsapparat.« Der kleine drahtige Mann, der sonst so sanft spricht, redet jetzt sehr laut.

Am 23. April reichte Pater Solalinde gemeinsam mit einer Reihe mexikanischer Nichtregierungsorganisationen eine Anzeige vor der Interamerikanischen Kommission für Menschenrechte in Washington ein. In den letzten vier Jahren wurden rund 18 000 Migranten entführt und gefoltert; ihre Verwandten in den USA um Geldbeträge von schätzungsweise 50 Millionen Dollar erpresst. »Das ist ein humanitäres Desaster«, sagt Pater Solalinde und schaut dem rostbraunen Güterzug hinterher, der Ixtepec diesen Nachmittag Richtung Norden verlässt. Auf dem Dach haben sich Männer, Frauen und Kinder niedergelassen und hoffen, dass er sie in ein besseres Leben trägt. Nur für ein paar von ihnen wird dieser Traum in Erfüllung gehen.

* Aus: Neues Deutschland, 31. Mai 2010


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