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Wahlen in Mexiko im Schatten der Gewalt

Allmähliches Abgleiten des Staates in die Unregierbarkeit

Von Albert Sterr *

Nach dem Mord an einem ranghohen Politiker kurz vor den Gouverneurswahlen in Mexiko hat Präsident Calderón zu einer »gemeinsamen Front« gegen das organisierte Verbrechen aufgerufen. Er forderte die politische Klasse und die Zivilgesellschaft zu einem »nationalen Dialog« auf.

Ein Gouverneurskandidat ermordet, einer wegen mutmaßlicher Verbindungen zur Drogenmafia inhaftiert, fünf weitere Kandidaten mit dem Tode bedroht: die Teilwahlen vom 4. Juli, die in 14 Bundesstaaten und vielen Kommunen Mexikos stattfinden, werden kurz vor dem Urnengang von düsteren Wolken der »Unsicherheit und des schmutzigen Krieges« überschattet, so die Tageszeitung »El Universal«. Die Angst vor der Gewalt der Drogenbanden sei »die beste Verbündete der Institutionellen Revolutionspartei (PRI)« analysiert das Magazin »Proceso«.

Diese Angst, die den Alltag vor allem in den nördlichen Grenzregionen zu den USA sowie in jenen Bundesstaaten prägt, die als umkämpfte Drogentransitrouten dienen, ist nur allzu begründet. Laut »El Universal« waren allein im ersten Halbjahr 5655 Drogenmorde zu verzeichnen, gegenüber dem Vorjahr erneut eine Steigerung um etwa 50 Prozent. Seit Amtsantritt der autoritär-neoliberalen Regierung von Präsident Felipe Calderón Hinojosa, der vor drei Jahren den »Krieg gegen die Drogen« zum Regierungsprogramm erklärte und dazu 45 000 Soldaten auf die Straße holte, starben bereits 25 000 Menschen, Tendenz steigend.

Vom Abgleiten immer größerer Teile Mexikos in Unregierbarkeit und Gewalt profitiert die im Jahr 2000 abgewählte langjährige Staatspartei PRI. Sie hat weiterhin die vergleichsweise größte Stammwählerschaft, etwa acht Millionen von gut 60 Millionen Wahlberechtigten, einen weit verzweigten Parteiapparat und sieben oder wie im Falle des Bundesstaates Oaxaca sogar acht Jahrzehnte Erfahrung in der ununterbrochenen Ausübung staatlicher Macht. Diese Fakten zählen umso mehr, als die Wahlbeteiligung gering ist und insbesondere Junge sowie städtische Wechselwähler, also die numerisch entscheidenden Potenziale, kaum noch an die Urnen zu bringen sind. Diese wenden sich von der Parteipolitik ab.

Bei den Zwischenwahlen zum Nationalparlament im vergangenen Jahr konnte die PRI wieder die Mehrheit der Sitze erringen. Sowohl die regierende Nationale Aktionspartei (PAN) als auch die Mitte- Links-Opposition um die Partei der Demokratischen Revolution erlitten schwere Niederlagen. Um den Durchmarsch der PRI bei den bevorstehenden Teilwahlen zu verhindern, der nach übereinstimmenden Einschätzungen auch die Rückkehr an die Macht im Jahr 2012 präjudizieren würde, schlossen die inhaltlich verfeindeten Rechten und die Mitte-Links-Parteien in fünf Bundesländern taktische Allianzen. Das alleinige Bindemittel: die Ablehnung der PRI. Das Ziel: möglichst viele Sitze und Posten zu erringen und - damit verbunden - die Kontrolle über Staatsgelder.

Diese allein auf zahlenmäßige Effekte schielenden Wahlkoalitionen sind heftig umstritten. Der derzeitige Innenminister Gómez Montt trat aus seiner Partei PAN aus, und die Gründer und früheren Präsidentschaftskandidaten der Linken, Cuauhtémoc Cárdenas und López Obrador, lehnten sie wegen der inhaltlichen Unvereinbarkeiten als »schweren Irrtum« scharf ab. Aus den unterschiedlichsten Lagern wird der Machtopportunismus angeprangert, der »jegliche Ethik der politischen Klasse vermissen lässt«, so der Historiker Lorenz Meyer. »Die Wahlen verloren ihren Wert als Quelle der Legitimität. Heute handelt es sich nur noch um einen Kampf verschiedener Fraktionen der politischen Klasse um die öffentlichen Gelder. Wir befinden uns in einem Prozess der Desillusion und der Dekadenz«, urteilte Meyer. Bis zum Ende der Amtszeit Calderóns zeichnet sich, ähnlich wie bei seinem Parteifreund und Amtsvorgänger Vicente Fox Quesada, eine lähmende Stagnation ab, da auch er im Parlament auf die Stimmen der Konkurrentin PRI angewiesen ist.

* Aus: Neues Deutschland, 3. Juli 2010


In Mexiko eskaliert die Gewalt

Morde vor Regionalwahlen am Sonntag. Atenco-Aktivisten freigelassen

Von Andreas Knobloch **


Der oberste Gerichtshof Mexikos (SCJN) hat am Mittwoch (30. Juni) die sofortige Freilassung von zwölf noch inhaftierten sozialen Aktivisten aus Atenco angeordnet, die seit 2006 im Gefängnis gesessen hatten. Als es im Mai 2006 im zentralmexikanischen San Salvador Atenco zu Protesten kam, weil Dutzenden Blumenhändlern der Verkauf ihrer Waren auf dem Wochenmarkt der Stadt verboten worden war, blockierten Aktivisten die Bundesstraße von Texcoco nach Lechería. Bei der folgenden brutalen Räumung durch Polizeieinheiten wurden zwei Menschen getötet und Hunderte geschlagen, mißhandelt und festgenommen, mindestens 27 inhaftierte Frauen wurden vergewaltigt. Verfolgt wurden jedoch nicht die Beamten, sondern die Aktivisten. Die drei führenden Ignacio del Valle, Héctor Galindo und Felipe Álvarez sowie neun weitere Beteiligte wurden zu Haftstrafen zwischen zwölf und 112 Jahren Gefängnis verurteilt. Das oberste Gericht stellte nun jedoch fest, daß die damaligen Urteile aufgrund »falscher und haltloser Prämissen« und »illegaler Beweismittel« gefällt wurden.

Bis heute (3. Juli) warten die Bewohner von San Salvador Atenco auf Wiedergutmachung, während die Täter und Verantwortlichen in Polizei und Politik straffrei geblieben sind. Allerdings ist kaum zu erwarten, daß der mexikanische Staat gerade jetzt gegen die involvierten Bundespolizisten vorgehen wird. Er braucht die Polizei in dem von Präsident Felipe Calderón initiierten »Krieg gegen die Drogen«, denn der eskaliert - kurz bevor am Sonntag 15 von 32 Regionalparlamenten neu gewählt und in zwölf Bundesstaaten über die Gouverneursposten abgestimmt wird. Erst am Montag waren der Favorit für den Gouverneursposten im nordmexikanischen Bundesstaat Tamaulipas, Rodolfo Torre Cantú von der PRI (Partei der Institutionalisierten Revolution), und acht Begleiter von mutmaßlichen Auftragsmördern der Drogenkartelle hingerichtet worden. Torre Cantú hatte ersprochen, gegen die Drogenkartelle vorzugehen.

Bereits im Mai war der frühere Präsidentschaftskandidat der Regierungspartei PAN, Diego Fernández de Cevallos, verschleppt worden. Von ihm fehlt seitdem jede Spur. Ende vergangener Woche dann wurde der populäre Sänger Sergio Vega (El Shaka), der mit sogenannten Narcocorridas - Liedern über Drogen und Liebe - berühmt geworden war, ermordet, nachdem er kurz zuvor Meldungen über seinen Tod noch dementiert hatte.

Der Staat steht der Zunahme der Gewalt fast ohnmächtig gegenüber. Die Kritik an Calderóns Strategie, die Kartelle militärisch besiegen zu wollen, wächst. Nicht wenige Stimmen bezweifeln, daß nach dem Attentat auf Torre Cantú am Wochenende überhaupt gewählt werden kann. In vielen kleineren Orten im Norden Mexikos finden sich kaum noch Kandidaten für das Amt des Bürgermeisters; Wahlkontrolleure quittieren den Dienst; Polizei und Politik sind mit den Drogenkartellen verwoben, das Ausmaß der Korruption ist erschreckend. Die PRI dagegen hat kurzerhand einen neuen Kandidaten bestimmt. Der Bruder des Ermordeten, Egidio Torre Cantú, tritt nun am Sonntag in Tamaulipas an.

** Aus: junge Welt, 3. Juli 2010


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