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Kriminalfall wird zur Staatsaffäre

Diplomatische Spannungen zwischen Mexiko und Frankreich

Von Andreas Knobloch, Mexiko-Stadt *

Zwischen Mexiko und Frankreich ist es zu ernsten diplomatischen Spannungen gekommen. Ein Gericht in Mexiko-Stadt hatte am vergangenen Donnerstag (10. Feb.) eine 60jährige Haftstrafe für die Französin Florence Cassez bestätigt und den Gang vor eine höhere Berufungsinstanz abgelehnt. Die französische Außenministerin Michèle Alliot-Marie bestellte daraufhin den mexikanischen Botschafter in Paris, Carlos de Icaza, ein, um ihm gegenüber ihren Unmut über die Entscheidung auszudrücken. Zudem kündigte sie an, das in Frankreich laufende Mexiko-Jahr zu boykottieren.

Die mexikanische Außenministerin Patricia Espinosa lud ihrerseits den französischen Botschafter, Daniel Parfait, vor und warnte vor einer »Überreaktion« und »der Beschädigung der gegenseitigen Beziehungen«. Zudem entschied die mexikanische Regierung am Montag, sich selbst aus allen Aktivitäten zum Mexiko-Jahr in Frankreich zurückzuziehen.

Alliot-Marie hatte bereits am Donnerstag abend (10. Feb.) den Ton verschärft und der mexikanischen Justiz vorgeworfen, im Fall Cassez gegen die Unschuldsvermutung verstoßen und nicht ernsthaft ermittelt zu haben. Zeugen der Verteidigung seien nicht zugelassen und statt dessen Zeugenaussagen berücksichtigt worden, die »nicht schlüssig« gewesen seien. Auch Cassez’ Anwälte hatten während des Prozesses und in der Berufung immer wieder Unregelmäßigkeiten bemängelt, was vom Gericht aber zurückgewiesen wurde.

Die heute 36jährige Cassez war im Dezember 2005 festgenommen und wegen drei Entführungen und Waffenbesitzes zu 96 Jahren Gefängnis verurteilt worden. In einem Berufungsurteil wurde die Strafe im März 2009 auf 60 Jahre gesenkt. Der französische Präsident, Nicolas Sarkozy, hatte vor zwei Jahren bei Mexikos Präsident, Felipe Calderón, interveniert, Cassez ihre Haftstrafe in Frankreich verbüßen zu lassen, was aber abgelehnt worden war. Die Französin war im Frühjahr 2003 nach Mexiko ausgewandert, wo bereits ihr Bruder lebte. Über ihn hatte sie ihren Exfreund Israel Vallarta kennengelernt, der als Chef der kriminellen Bande Los Zodiaco gilt. Cassez hatte während des Prozesses immer wieder betont, nichts von den Entführungen gewußt zu haben, was Vallarta bestätigt hatte. Die Opfer der Entführung hatten allerdings gegen Cassez ausgesagt und ihre aktive Beteiligung an dem Kidnapping bezeugt. Zusätzliche Polemik entfaltete der Fall, da die live im Fernsehen übertragene Geiselbefreiung und Festnahme Cassez’, wie sich später herausstellte, von der Polizei für die Medien einen Tag später nachgestellt worden war. Die Richter befanden jedoch, daß dies keine Auswirkungen auf den Schuldspruch hatte.

Die harsche französische Kritik löste in Mexiko, das eine der der höchsten Kidnappingraten der Welt aufweist, Irritationen aus. Besonders verärgert zeigte man sich über den »neokolonialen« Ton aus Paris. Botschafter de Icaza verteidigte die »absolute Unabhängigkeit« der mexikanischen Justiz; und der frühere Minister Mariano Azuela bemängelte »fehlenden Respekt« gegenüber der Gewaltenteilung. Das mexikanische Außenministerium erklärte über seine Botschaft in Paris, Cassez habe alle Rechtsmittel ausgeschöpft, die einem Angeklagten in Mexiko zur Verfügung stünden. Es verbitte sich daher die Behauptung, der Französin sei die Gerechtigkeit verweigert worden.

* Aus: junge Welt, 16. Februar 2011


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