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Simulierte Demokratie

Hintergrund. "Drogenkrieg" in Mexiko: ein Land im Belagerungszustand

Von Peter Clausing *

Als Felipe Calderón von der Partido Acción Nacional (PAN) Anfang September 2006 zum Sieger der Präsidentschaftswahlen in Mexiko erklärt wurde, geschah dies trotz des begründeten Verdachts eines massiven Wahlbetrugs. Das löste wochenlange Proteste bei den Unterstützern seines Opponenten An­drés Manuel López Obrador, des Kandidaten der Partido de la Revolución Democrática (PRD) aus. Doch Calderón trat davon unbeeindruckt im Dezember 2006 sein Amt an. Zu seiner Inauguration eskortierte ihn die Präsidentengarde mitten durch die anhaltenden Bürgerproteste in den Nationalkongreß. In dem von ihm erklärten »Krieg gegen den Drogenhandel« sind die Generäle seitdem eine wichtige Säule seiner Macht. Der »Drogenkrieg« hat inzwischen über 36000 Tote gefordert. Die Frage, ob ein von Generälen gestützter Präsident Repräsentant einer Demokratie sein kann, wurde vom politischen Mainstream bislang nicht gestellt, obwohl der seit Juli 2000 wirksame Freihandelsvertrag zwischen Mexiko und der Europäischen Union eine Menschenrechtsklausel enthält. Diese ist jedoch so allgemein gehalten, daß sie noch nie zu irgendwelchen Konsequenzen geführt hat.

Der Artikel 129 der mexikanischen Verfassung verlangt, daß das Militär in Friedenszeiten in den Kasernen bleibt. Doch trotz des mit der Zapatistischen Armee der Nationalen Befreiung (EZLN) am 12. Januar 1994 abgeschlossenen und bis heute gültigen Waffenstillstandes, ist die Armee seit anderthalb Jahrzehnten in Chiapas für einen »Krieg niederer Intensität« verantwortlich. In den 1990er Jahren war die Hälfte der mexikanischen Streitkräfte in Chiapas stationiert. Im Laufe der letzten zehn Jahre hat sich dort die Zahl der Soldaten reduziert, und ein Teil der regulären Truppen wurde durch Spezialeinheiten zur Aufstandsbekämpfung ersetzt. Parallel dazu kam es in anderen Bundesstaaten zu einer dramatischen Militarisierung. Gedeckt wird der verfassungswidrige Einsatz des Militärs im Inland durch das im Oktober 1996 verabschiedete »Gesetz gegen die organisierte Kriminalität«.

Machtgeschütztes Militär

Seit jeher entzieht sich das Militär in Mexiko der gesellschaftlichen Kontrolle. Vermutlich ist dies das einzige Land der Welt, in dem die Gesetze, denen die Militärgerichtsbarkeit unterliegt, eine nationale Revolution nahezu unverändert überstanden haben. Bis heute werden Urteile auf einer gesetzlichen Grundlage gefällt, die über 150 Jahre alt ist. Besonders folgenreich ist der Artikel 57 des Militärgesetzbuches, demzufolge die von Angehörigen der Streitkräfte gegenüber der Zivilbevölkerung begangenen Vergehen und Verbrechen ausschließlich vor Militärgerichten verhandelt werden. Damit ist die Straflosigkeit praktisch institutionalisiert. Wie ernst es dem Militär ist, diesen Status quo zu erhalten, zeigte der Fall des Generals José Francisco Gallardo. Anfang der 1990er Jahre schlug dieser einen unabhängigen Ombudsmann für Menschenrechtsfragen und finanzielle Transparenz innerhalb der Armee vor. Daraufhin wurde er im November 1993 verhaftet und unter falschen Vorwürfen (Veruntreuung und Beschädigung von Militäreigentum) zu 28 Jahren Gefängnis verurteilt. Acht Jahre später auf internationalen Druck freigelassen, ist Gallardo bis heute nicht rehabilitiert. Aber auch die zivile mexikanische Justiz trägt maßgeblich zur Straflosigkeit bei. Schätzungen von Menschenrechtsorganisationen zufolge wird weniger als ein Viertel aller Vergehen zur Anzeige gebracht, und nur bei zwei Prozent der angezeigten Straftaten kommt es zu einer Verurteilung. Gängige Praxis ist hingegen die Einkerkerung von sozialen Aktivisten und Menschenrechtsverteidigern auf der Basis gefälschter Beweismittel, zuweilen unter grotesken Anschuldigungen.

Mit der Ausdehnung militärischer Operationen auf zahlreiche mexikanische Bundesstaaten im Zuge der Drogenbekämpfung wurde nicht nur die alltägliche Gewalt zum alles beherrschenden Thema der Gesellschaft, sondern es häuften sich zugleich die Beschwerden der Bevölkerung über Menschenrechtsverletzungen durch die Armee und andere Sicherheitskräfte. Das, was Calderón der Bevölkerung anfänglich als Offensive zur Erhöhung der Sicherheit auf den Straßen Mexikos verkauft hatte, verkehrte sich sehr schnell ins Gegenteil. So berichtete die Menschenrechtsorganisation SIPAZ, daß sich die Zahl der bei der staatlichen Menschenrechtskommission im Bundesstaat Guerrero eingereichten Beschwerden über Soldaten zwischen Dezember 2008 und April 2010 verdreifacht hat. Die Vergehen reichten von unberechtigten Hausdurchsuchungen (144 Fälle) über willkürliche Verhaftungen (97) bis hin zu Mord (2). Auch bei der Nationalen Menschenrechtskommission Mexikos explodierte die Zahl der diesbezüglichen Beschwerden. Von 2007 bis Mitte 2010 wurden dort 4500 Beschwerden eingereicht, 1100 davon allein im ersten Halbjahr 2010. Darüber hinaus existiert eine extrem hohe Dunkelziffer, weil aus Angst vor weiteren Repressalien viele Übergriffe nicht zur Anzeige kommen – ein Tatbestand, den selbst staatliche Stellen anerkennen. Für »eine deutliche Zunahme von Morden als extreme Form der Gewalt gegen Frauen (ist) die Militarisierung der Gesellschaft infolge eines politischen Rechtsrucks in Ländern wie Mexiko und Honduras« verantwortlich, hob Kathrin Zeiske, langjährige Menschenrechtsaktivistin, hervor. Zwischen Dezember 2006 und Oktober 2009 wurden in Mexiko insgesamt 3726 Frauen ermordet. Die meisten dieser Verbrechen fanden in den vom Militär besetzten Gebieten des Landes statt.

Systematischer Terror

Doch zu den Vergehen zählen nicht nur Vergewaltigung, Freiheitsberaubung und Akte willkürlicher Gewalt gegen die Bevölkerung allgemein, sondern auch eine ganze Serie gezielter Aktionen gegen sozial und politisch engagierte Personen. Hinsichtlich Häufigkeit und Art der Übergriffe bestehen kaum Unterschiede zwischen Militär und Polizeikräften. So wurden zum Beispiel im Jahr 2009 drei Bauernführer der chiapanekischen Organisation OCEZ (Organización Campesina Emiliano Zapata) von der Polizei entführt und gefoltert. Die Regierung beschuldigte die OCEZ, in den Drogenhandel verwickelt zu sein, und entfaltete eine Hetzkampagne, um die massive Militärpräsenz in der Region zu legitimieren. Nach zweimonatigen Dauerprotesten wurden zwar die drei Campesinos wieder freigelassen, die Armee jedoch nicht aus der Region abgezogen. Im Jahr 2002 wurden Inés Fernández Ortega und Valentina Rosendo Cantú, zwei junge, zur indigenen Gemeinschaft der Me’phaa gehörende Frauen, von Soldaten vergewaltigt. Sie erstatteten Anzeige, doch das Verbrechen wurde bis heute weder gründlich untersucht, noch wurden die Täter zur Verantwortung gezogen. Der Fall ging bis zum Interamerikanischen Menschenrechtsgerichtshof. Dieser verurteilte den mexikanischen Staat im August 2010 zu einer umfassenden Untersuchung, zu Entschädigungszahlungen und zu einer Reform des Militärjustizsystems. Doch zu keinem dieser Punkte hat die Regierung bislang Maßnahmen ergriffen. Im Gegenteil: Nach Informationen von Amnesty International wurden der Familie von ­Inés Fernández Ortega Ende August 2010 durch zwei unbekannte Männer Todesdrohungen übermittelt, verbunden mit der Aufforderung, die Region zu verlassen.

Das Militär wurde auch zur Unterdrückung von Gewerkschaften und Menschenrechtsorganisationen eingesetzt. Die fristlose Entlassung von 44000 gewerkschaftlich organisierten Elektrizitätsarbeitern im Oktober 2009 erfolgte unter Androhung von Waffengewalt. Sicherheitskräfte »schützten« in einem flächendeckenden Großeinsatz Umspannwerke und andere Einrichtungen vor einer Besetzung durch protestierende Elektrizitätsarbeiter. Am 11. Januar dieses Jahres überfielen 20 Soldaten der mexikanischen Armee die Büros der Menschenrechtskomitees CODEP und CODEM in Oaxaca, zerstörten Teile der Einrichtung und versuchten, den Mitarbeiterinnen Verbindungen zur »organisierten Kriminalität« anzuhängen. Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen. Allein seit Jahresbeginn hat Amnesty International 13 »Eilaktionen« gestartet, von denen mindestens sieben explizit oder von den Umständen her mit Handlungen der Sicherheitskräfte im Zusammenhang stehen.

USA mischen mit

Aufgrund der tiefen gesellschaftlichen Krise ist der mexikanische Staat kaum mehr in der Lage, die Stabilität des Systems mit zivilen Mitteln zu garantieren. Deshalb operiert nach Einschätzung des US-amerikanischen Soziologen William I. Robinson die Armee nun inzwischen im gesamten Land unter dem Vorwand des »Drogenkrieges«[1]. Die Militarisierung hängt also unmittelbar mit dem gesamtgesellschaftlichen Konfliktpotential zusammen. Dabei stellt die Zersplitterung der sozialen Protestbewegung in Mexiko ein großes Problem dar, denn so wird deren gewaltsame Unterdrückung erleichtert.

Wie durch die von Wikileaks veröffentlichten Depeschen bekannt wurde, sorgt man sich inzwischen selbst in den USA um die Verletzung von Menschenrechten durch das mexikanische Militär. Das mag angesichts der eigenen Vergehen im Irak und in Afghanistan verwundern, findet seine Erklärung jedoch darin, daß dieses Engagement weniger auf humanitäre als auf taktische Überlegungen zurückgeht. Das Pentagon entwarf ein Konzept, demzufolge es in Mexiko um die »Schaffung von Streitkräften des 21. Jahrhunderts in einer der führenden Demokratien in der Region« geht.[2]

Wegen des fehlenden Rückhalts der Armee in der mexikanischen Gesellschaft wünscht man sich »eine stärkere Beachtung der Menschenrechte«, zumal die USA am »Design« des Drogenkrieges unmittelbar beteiligt sind. Zugleich enthält das strategische Konzept des Pentagon den Wunsch nach »einer breiteren regionalen Beteiligung« Mexikos (gemeint sind damit »humanitäre« Einsätze in anderen lateinamerikanischen Ländern). Noch während der Amtszeit von George W. Bush wurde die sogenannte Mérida-Initiative verabschiedet, ein »Hilfspaket« über 1,4 Milliarden Dollar, das den mexikanischen Militärs im Rahmen der »Sicherheitskooperation« mit den USA zufließt. Mit diesem Geld hofft man, mehr Einfluß auf den »geschlossenen Zirkel« der mexikanischen Militärhierarchien zu gewinnen.[3] Der Menschenrechtsdiskurs dient dabei einerseits als Hebel, um diesen Zirkel aufzubrechen, andererseits als Deckmantel, um die umfangreiche finanzielle Unterstützung der mexikanischen Sicherheitskräfte gegenüber der Öffentlichkeit zu rechtfertigen. Im Vertragstext der »Mérida-Initiative« ist eine Klausel enthalten, die ermöglicht, bei Menschenrechtsverletzungen bis zu zehn Prozent der Gelder zurückzuhalten.

Desertion zur Drogenmafia

Mexiko befindet sich in einer ausweglosen Situation. Die Macht der Drogenkartelle ist real und weitreichend. Eine zivile Lösung des Problems, wie die Legalisierung von Drogen oder eine Unterbindung der Geldflüsse aus dem Drogengeschäft, ist aufgrund der Verfilzung von Staat und Drogenkartellen nicht zu erwarten. Eine militärische Lösung wiederum ist vollkommen aussichtslos. Der Krieg gegen den Drogenhandel, dieser von den gesellschaftlichen Eliten genutzte Vorwand zur Militarisierung des Landes, wird von massenhafter Desertion mexikanischer Soldaten, extralegalen Hinrichtungen und einer zunehmenden direkten Beteiligung nord­amerikanischer Sicherheitskräfte begleitet.

Inzwischen gibt es nun auch offiziell Überwachungsflüge mit unbemannten US-amerikanischen Predator-Drohnen über mexikanischem Territorium. Ein entsprechendes Abkommens wurde am 3. März 2011 zwischen Calderón und Obama unterzeichnet. Ein solcher Vertrag wäre laut New York Times vor dem Ausbruch der Drogengewalt in Mexiko »undenkbar« gewesen– ein Indiz dafür, daß der »Drogenkrieg« dem Pentagon neue Handlungsspielräume bei seinem südlichen Nachbarn eröffnet. Wie Associated Press am 16. März 2011 meldete, werden Drohnen der US-Armee in Mexiko schon seit 2009 eingesetzt, auch wenn dies offiziell nie eingestanden wurde. Im Verlauf der letzten vier bis fünf Jahre sind zwischen 150000 und 200000 Militärangehörige desertiert. Nicht etwa, weil sie zu Pazifisten wurden, sondern viele von ihnen wechselten einfach die Seite und befinden sich nun im Dienst der besser zahlenden Drogenbosse. Sie stehen den etwa 50000 Soldaten der mexikanischen Armee gegenüber – ein quantitativer Beleg dafür, daß sich das mexikanische Militär in einer aussichtslosen Position befindet. Schätzungen über die Einnahmen der Drogenkartelle, die insgesamt etwa eine halbe Million Menschen in »Lohn und Brot« haben, variieren zwischen 20 und 32 Milliarden Dollar pro Jahr – mehr als das Doppelte des gesamten mexikanischen Militärhaushalts.

Der spektakulärste Fall eines Seitenwechsels ist jener von Angehörigen der GAFE (Grupo Aeromóvil de Fuerzas Especiales) – einer Elitetruppe, die unter anderem in den USA eigens zur Drogen- und Aufstandsbekämpfung ausgebildet worden ist. Im Jahr 1999 liefen 30 bis 60 frisch ausgebildete Angehörige dieser Spezialkräfte zum Golfkartell über und verdingten sich als Geldeintreiber der Rauschgiftmafia. Bis 2005 war ihre Zahl auf 1300 angewachsen. Dabei liegt ihr Wert weniger in den die Schlagzeilen beherrschenden bewaffneten Auseinandersetzungen mit der mexikanischen Armee oder rivalisierenden Kartellen, sondern vielmehr in ihrem Expertenwissen bei der Sammlung geheimer Informationen, der Spionageabwehr und psychologischen Taktiken. Die GAFE liegt mit einer Desertionsrate von 25 Prozent deutlich über anderen Teilen des mexikanischen Militärs.

Die unter dem Namen »Zetas« bekannten Ex-GAFEs haben, begünstigt durch das von Calderón im Rahmen des »Drogenkrieges« immer wieder erzeugte Machtvakuum, inzwischen ein eigenes Kartell gebildet. Neben dem Drogengeschäft nutzen die Zetas ihre Spezialkenntnisse auch, um jährlich Erdöl im Wert von etwa 500 Millionen Dollar aus Leitungen abzuzapfen und in die USA umzuleiten. Ferner verfügen sie seit einiger Zeit über ein »Nebeneinkommen« von schätzungsweise 50 Millionen Dollar pro Jahr, indem sie von mittelamerikanischen Migranten auf deren Weg nach Norden mit unvorstellbarer Brutalität Lösegelder erpressen.[4] Dieses düstere Szenario wird »auf der anderen Seite des Grabens« durch Befehlshaber wie den mexikanischen Brigadegeneral Carlos Villa Castillo ergänzt, der extralegale Hinrichtungen anordnet und sich öffentlich dazu bekennt, ohne daß sich daraus irgendwelche disziplinarischen, geschweige denn juristischen Konsequenzen ergeben.

Waffen aus der EU

Das Klima aus extremer Gewalt, Straflosigkeit und Korruption hinderte deutsche Firmen bislang nicht, mit Rüstungsexporten nach Mexiko– teils legal, teils unter Entfaltung krimineller Energien – Profit zu machen. Einer Auskunft der Bundesregierung vom 4. Mai 2009 zufolge hat sich die Ausfuhr von Kriegswaffen nach Mexiko innerhalb von vier Jahren mehr als verzehnfacht, wobei »sonstige Rüstungsgüter« wie Militärhubschrauber von dieser Statistik noch gar nicht erfaßt sind. Waren es 2004 nur Exporte im Wert von 207000 Euro, umfaßte das Volumen im Jahr 2006 1,2 Millionen Euro, verbunden mit einer nochmaligen drastischen Erhöhung auf 3,3 Millionen Euro im Jahr 2007 (bis 2009, dem letzten Jahr mit verfügbaren statistischen Angaben, blieb das Exportvolumen etwa auf diesem Niveau).

An der sprunghaften Steigerung hatte der Waffenhersteller Heckler&Koch aus dem schwäbischen Oberndorf maßgeblichen Anteil. Die Firma erhielt im Sommer 2006 eine eingeschränkte Exportbewilligung vom Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle und lieferte bis 2009 über 8000 Sturmgewehre an mexikanische »Sicherheitskräfte«. Die Beschränkung der Ausfuhrgenehmigung bestand darin, daß die exportierten G-36-Gewehre nicht in die konfliktbeladenen Bundesstaaten Chiapas, Chihuahua, Guerrero und Jalisco geliefert werden durften – angesichts der realen Situation in Mexiko eine Einschränkung kosmetischen Charakters. Trotzdem verstieß H&K gegen diese Auflage. Jürgen Grässlin, Bundessprecher der Deutschen Friedensgesellschaft, brachte den Stein mit einer am 19. April 2010 erstatteten Strafanzeige gegen die Geschäftsführer dieser Firma ins Rollen. Inzwischen ermittelt die Stuttgarter Staatsanwaltschaft. Im Dezember 2010 ging der Fall durch Mainstreampresse und ARD-Fernsehen (Report Mainz berichtete). H&K darf inzwischen nicht mehr nach Mexiko exportieren.[5]

Doch weshalb ließ die Bundesregierung überhaupt Waffenexporte nach Mexiko zu? Welche Garantien gibt es, daß mit diesen Waffen dort nicht Menschenrechte verletzt werden? Im Jahr 2006 wurden die friedlichen Proteste in Oaxaca, einem Bundesstaat, für den es keinerlei Exportbeschränkungen gibt, blutig niedergeschlagen. Doch auch danach blieb Oaxaca ein soziales Pulverfaß, bei dem die regelmäßig aufflammenden gewaltlosen Proteste immer wieder gewaltsam unterdrückt wurden. Jüngste Beispiele sind die Mobilisierungen seitens der Lehrergewerkschaft SNTE in der zweiten Märzhälfte nach dem Verschwinden ihres Führungsmitglieds Carlos René Román Salazar und die Proteste unmittelbar nach dem Besuch von Präsident Calderón in Oaxaca-Stadt am 15. Februar 2011. Dieser hatte anläßlich seines Besuches Steuergeschenke für die Reichen in Höhe von umgerechnet etwa 800 Millionen Euro angekündigt, was Proteste auslöste, die durch einen massiven Polizeieinsatz niedergeschlagen wurden – dabei erlitten 15 Personen zum Teil schwere Verletzungen.

Die umfangreichen Menschenrechtsverletzungen der mexikanischen Sicherheitskräfte sind ebenso bekannt wie die Tatsache, daß ein zweistelliger Prozentsatz von ihnen jährlich zur Drogenmafia überwechselt bzw. mit dieser kooperiert, zum Teil unter Mitnahme von Waffen und Ausrüstung. Immerhin sprach sich der Beauftragte für Menschenrechtspolitik im Auswärtigen Amt, Markus Löning (FDP), am 2. März 2011 gegenüber dem Südwestrundfunk für einen sofortigen Stopp aller Waffenexporte aus. Das geschah, bevor sich der Brigadegeneral Villa Castillo öffentlich zu extralegalen Hinrichtungen bekannte. Wird die Bundesregierung nunmehr der Aufforderung ihres Menschenrechtsbeauftragten folgen?

Ein Laboratorium

Doch Kriegswaffen sind nicht der einzige Exportschlager der deutschen Rüstungsindustrie. Die zwölf Helikopter, die der deutsch-französisch-spanische Konzern Eurocopter mit Sitz in Donauwörth ab dem zweiten Quartal 2011 an das mexikanische Verteidigungsministerium liefern wird, werden zwar unbewaffnet sein, aber es sind Militärhubschrauber. Der EC725 kann 29 Personen transportieren und bei Bedarf mit zwei 7.62-mm-Maschinengewehren, zwei Raketenwerfern und zwei 20-mm-Kanonen ausgerüstet werden. Kürzlich gab Eurocopter bekannt, daß der Konzern im mexikanischen Bundesstaat Querétaro ein neues Werk eröffnen will, »um die Produktionskapazitäten weiter zu verstärken«.

Die gewaltsame Unterdrückung sozialer Proteste hat in Mexiko eine lange Tradition, erreichte aber in den letzten Jahren eine neue Qualität. Für nationale und internationale Eliten stellt Mexiko, ähnlich wie Kolumbien, ein »Laboratorium« dar, in dem versucht wird, extrem zugespitzte gesellschaftliche Konflikte unter dem Vorwand des »Drogenkriegs« militärisch zu beherrschen – ein Prozeß, der allerdings Gefahr läuft, außer Kontrolle (bzw. vollständig unter die Kontrolle der Drogenkartelle) zu geraten. Trotz dieser kritischen Situation werden die dabei entstehenden Möglichkeiten von Rüstungskonzernen, darunter von deutschen, zur Erweiterung ihres Absatzmarktes genutzt.

Fußnoten
  1. William I. Robinson on Power, Domination and Conflicts in Mexico, 7.12.2010 (upsidedownworld.org/main/mexico-archives-79/2811-interview-dr-william-i-robinson-on-power-domination-and-conflicts-in-mexico)
  2. Feeley, J. D., Scenesetter for the Opening of the Defense Bilateral Working Group, 29.1.2010 (213.251.145.96/cable/2010/01/10MEXICO83.html)
  3. vgl. Clausing, P., USA wollen Einfluß in Mexikos Armee, 6.12.2010 (amerika21.de/nachrichten/2010/12/17607/usa-wollen-einfluss-mexikos)
  4. vgl. Clausing, P., Reise nach Nirgendwo, 13.1.2011 (amerika21.de/analyse/20337/reise-nach-nirgendwo)
  5. Grässlin, J.: Von der Hausdurchsuchung zur Anklage gegen Heckler & Koch, 12.1.2011 (www.rib-ev.de/2011/01/12/von-der-hausdurchsuchung-zur-anklage-gegen-heckler-koch/)
* Aus: junge Welt, 21. April 2011


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