Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

"USA könnten das Problem gut bei sich zu Hause lösen"

Washington fein raus: Drogenkrieg spielt sich jenseits der Grenzen ab - in Mexiko. Ein Gespräch mit Paco Ignacio Taibo II

Paco Ignacio Taibo II (61) ist Historiker, Soziologe und einer der bekanntesten Krimiautoren Lateinamerikas. Politisch zählt er seit 1968 zur radikalen Linken Mexikos.



Mexiko wird von einer Welle der Gewalt erschüttert. Drogenkartelle und Staatsmacht bekämpfen sich ohne Rücksicht auf Verluste. Sie haben vor kurzem gemeinsam mit anderen Schriftstellern der Regierung die Verantwortung für die Eskalation angelastet. Warum?

Alles zusammengenommen gab es in dieser Auseinandersetzung in Mexiko bislang nicht weniger als 22000 Tote. Das sind Zahlen, die an den Irak-Krieg erinnern. Die Drogenhändlerbanden sind zu jeder Form von Gewalt in der Lage: Menschenraub, Folterungen und Vergewaltigungen. Sie haben sogar schon Handgranaten auf einen Platz geworfen, auf dem ein Volksfest stattfand. Das ist die eine Seite. Andererseits leben die größten Städte im Norden mittlerweile unter einem Belagerungszustand, und ein Teil der Grenze zu den Vereinigten Staaten ist komplett militarisiert.

Was werfen Sie der Regierung konkret vor?

Es gibt Hunderte Berichte über Menschenrechtsverletzungen, die von Soldaten oder Polizisten verübt wurden. Die rechte Regierung von Staatspräsident Felipe Calderon und seine Nationale Aktionspartei (PAN) haben das Land in einen regelrechten bewaffneten Konflikt geführt, ohne irgendeine Strategie zu besitzen. Das korrupte System und die Armee sind zudem selbst von Drogenhändlern durchsetzt.

Wenn ich behaupte, daß der im Norden des Landes stattfindende Krieg absurd ist, dann bedeutet das nicht, Partei für die Drogenhändler zu ergreifen oder deren Interessen zu vertreten. Im Gegenteil, die entscheidende Frage lautet, ob die militärische Eskalation dazu dient, das Problem zu lösen oder nicht. Die Regierung des Distriktes Mexiko-Stadt ist die Drogenproblematik anders angegangen. Sie hat nicht nur auf Repression gesetzt, sondern auch die sozialen Probleme in Angriff genommen. Auf diese Weise hat es in der Hauptstadt nicht diese Spirale von Gewalt und Schrecken wie im Norden gegeben.

Welche Rolle spielen die USA?

Die ist von entscheidender Bedeutung, weil dort die Hauptabnehmer der Drogenhändler sitzen. Die in Mexiko von den Kartellen produzierten Rauschmittel sind in der Regel für die amerikanischen Großstädte bestimmt. Also könnten die USA das Problem des Drogenhandels auch gut bei sich zu Hause lösen. Aber genau davor haben sie Angst. Das wollen sie um jeden Preis vermeiden. Deshalb unterstützen sie Calderons Feldzug mit allen Mitteln. Wieviel Leid das hervorruft und wie viele Menschen dabei sterben, ist ihnen egal, wenn sich nur alles jenseits ihrer Grenzen abspielt.

In Ihren teilweise biographischen Werken erzählen Sie auch von Revolutionshelden wie Pancho Villa (1878-1923). Aber werden die in der Kultur der einfachen Leute nicht von Gangsterfiguren verdrängt?

Das zu behaupten, wäre eine Übertreibung. Richtig ist, daß es sich bei dem Gangsterkult um ein weit verbreitetes Phänomen der sogenannten Unterschichten handelt. Allerdings nur in einem Teil Mexikos, das heutzutage ein durchgeknalltes Land ist, das alle Arten von Wahnsinn und Delirium hervorbringt. Sicher, in den Gebieten, wo der Drogenhandel stärker vertreten ist, kann man leichter mal den Eindruck bekommen, daß die Drogenhändler so etwas wie »großzügige Banditen« sind, sozusagen Robin Hoods auf mexikanische Art. Dabei handelt es sich aber wirklich nur um eine Vorstellung, die die Zonen im Norden betrifft, wo Druck und Einfluß der Drogenhändler bzw. ihrer Interessen stärker sind.

Wie verankert ist die Erinnerung an Pancho Villa und die Mexikanische Revolution von 1910 bis 1917 im Massenbewußtsein heute noch?

Wenn es um die Gedenkfeiern der Revolution und den Jahrestag der Unabhängigkeit von Spanien 1810 geht, gibt es zwei Haltungen im Land: Einerseits das eher oberflächliche Interesse, das die Institutionen daran zeigen und andererseits eine Art kulturelle Bewegung, die unter Schriftstellern und an den Universitäten entstanden ist. Die beschäftigt sich mit dieser Vergangenheit, um die Realität des heutigen Mexikos zu verstehen. Vor allem geht es ihr dabei um die Rolle des Volkes als Protagonist, was diesen Abschnitt unserer Geschichte auszeichnete.

Interview: Raoul Rigault

* Aus: junge Welt, 30. Juni 2010


Zurück zur Mexiko-Seite

Zurück zur Homepage