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Überschaubare Protestbewegung

Heute wird im Königreich Marokko vorzeitig ein neues Parlament gewählt

Von Martin Lejeune, Rabat *

Die vorgezogenen Parlamentswahlen in Marokko am heutigen Freitag (25. Nov.) wecken nur wenig Begeisterung in der Bevölkerung. Egal wer gewinnt - trotz einer Verfassungsreform behält König Mohammed VI. die Fäden der Macht fest in der Hand.

Im tiefen Schlamm vor ihrem im traditionellen Stil gebauten Lehmhaus melkt Aischa Toumi ihre Ziege. Ihre Schuhe sind schlammverschmiert. Aischas Haus, in dem sie sieben Söhne und drei Töchter zur Welt brachte, liegt im Dorf Al-Hamran, 20 Kilometer entfernt vom nächsten Bahnhof in Sidi Slimane, einer Stadt rund 100 Kilometer nordöstlich der Hauptstadt Rabat. Im Dorf selbst und in den Dörfern der Umgebung gibt es keine befestigten Straßen. Nach Regenfällen wird jeder Gang zum Laden für Aischa so zu einer Rutschpartie. Der Weg verlangt ihr viel Konzentration ab.

Was für ein Kontrast ist dagegen die perfekt in Schuss gehaltene Straße von Al-Hamran nach Ganzra, wo sich ein großer Staudamm inmitten einer malerischen Hügelkette erstreckt. Links und rechts neben der Straße besitzt Marokkos König Mohammed VI. weitläufige Ländereien mit Orangenplantagen und Pferdeweiden. Die Gestüte sind mit Stacheldraht umzäunt und bewacht.

»Auf der einen Seite die nichtexistierende Infrastruktur in den Ortschaften der einfachen Bevölkerung, auf der anderen Seite nur das Beste vom Besten, wo es um das Eigentum des Königs geht. Das ist es, wogegen ich kämpfe«, erklärt Zakaria Razouki am Rande einer Wahlveranstaltung in einem Café in Huwarta, das in der gleichen Region wie Al-Hamran liegt. Razouki ist Mitglied der Arbeiterpartei und kandidiert bei den vorgezogenen Wahlen am heutigen Freitag für einen Sitz im Parlament. Mit seinem Bruder klappert er in einem alten Mercedes, durch dessen defektes Schiebedach es leicht hineinregnet, die Dörfer ab, um Stimmen zu sammeln. In seinem Vortrag vor ein paar Dutzend Männern im Café klagt Razouki die »ausufernde Korruption« an und versichert seinen Zuhörern, sich im Parlament für dringend benötigte Verbesserungen in der Region einzusetzen. »Ich komme aus Dar Belamri«, sagt Razouki, »wo es nur ein kleines Krankenhaus für die ganze Region gibt, das völlig überbelegt ist und in dem es an allem mangelt. Das will ich ändern.«

Bei einem Rundgang durch das Krankenhaus am folgenden Tag werden die Mängel offensichtlich: In den engen Gängen stehen Hunderte Männer und Mütter mit ihren Kindern in den Armen und warten auf Ärzte. Nur die schwer Kranken sitzen auf Stühlen. Eine Ärztin sagt, sie wisse nie, wie das wenige Personal bis zum Abend den Ansturm an Patienten bewältigen solle.

Raschid, einer der jungen Männer, die den Versprechungen Razoukis im überfüllten Café in Huwarta lauschen, sagt am Ende des Abends, er wisse noch nicht, ob er überhaupt zur Wahl gehen werde. »Ich bin skeptisch, ob die Wahl wirklich demokratisch verlaufen wird. Vor allem weiß ich nicht, ob die neu gewählten Abgeordneten trotz der Verfassungsreform die Macht haben werden, etwas zu ändern.«

Zur gleichen Zeit demonstrieren in Tanger 10 000 und in Casablanca 6000 Menschen gegen die großen Machtbefugnisse des Königs, der auch Oberbefehlshaber der Streitkräfte ist und trotz der Verfassungsreform noch immer das Parlament auflösen darf. Zwar hatten im Sommer bei einem Referendum fast 100 Prozent der Wähler für die neue Verfassung gestimmt und damit die vorgezogenen Wahlen ausgelöst, doch sind Kandidaten, die sich wie Razouki gegen das Establishment stellen, die Ausnahme.

In Berlin bestätigt das die Islamwissenschaftlerin Sonja Hegasy. Die Vizedirektorin des Zentrums Moderner Orient forscht zu Neuordnungsprozessen in Marokko und kritisiert, dass in diesem Wahlkampf keine neuen Parteien, Gesichter oder Programme zu sehen seien. »Es ist gut möglich, dass die Regierung die Legislaturperiode nicht bis zum Ende durchstehen wird. Denn ein ›Weiter so‹ im Parlament wird auch von vielen Bürgern über die Protestbewegung hinaus nicht akzeptiert.«

* Aus: neues deutschland, 25. November 2011


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