"Imam mit Seife"
Marokko: Radikale Islamisten predigen schon lange
Im Folgenden dokumentieren wir einen Artikel aus der Schweizer Wochenzeitung WoZ, der sich um eine Erklärung der Terroranschläge von Casablanca bemüht.
Von Beat Stauffer
Die zwanzig jungen Männer kamen aus den tristen Vorstädten von
Casablanca, aus Sidi Moumen, aus Ben Msik Mediouna, aus Moulay
Rachid Sidi Othmane. Sie hatten Sprengstoffgürtel um den Leib geschnürt
und den festen Willen, zur Tat zu schreiten, doch ihr Vorgehen war alles
andere als professionell. Im Hotel Farah wurden sie aufgrund ihres
Auftretens schon gar nicht erst in die Lobby reingelassen. Das jüdische
Gemeindezentrum war am Abend des 16. Mai geschlossen, und auch der
jüdische Friedhof war menschenleer. Dennoch: Die Opferbilanz ist
erschreckend. Bei den fünf zeitgleichen Attentaten in Casablanca starben
41 Menschen und über hundert wurden verletzt. Seit dem gescheiterten
Attentatsversuch auf König Hassan II im Jahr 1971 hat das Land kein
derartiges Gemetzel mehr erlebt. Marokko wähnte sich immun gegen
diese Form von radikalem Islamismus: geschützt durch eine
jahrhundertealte Tradition eines toleranten Islam, durch ein recht
unproblematisches Zusammenleben mit der jüdischen Minderheit und auch
durch den besonderen Status des Königs. Dieser marokkanische
Sonderfall, an den auch linke und weltoffene MarokkanerInnen gerne
glauben mochten, ist in der Blutnacht des 16. Mai zu Ende gegangen.
"Die Attentate in Casablanca sind unser 11. September", schrieb die
Journalistin Narjis Rerhaye. Nichts mehr wird sein wie zuvor, heisst es
landlauf, landab.
Anzeichen dafür, dass sich im Land etwas geändert hat, waren seit einiger
Zeit unübersehbar. Radikal-islamische Gruppierungen, die sich bis anhin
im Untergrund bewegt hatten, machten sich zunehmend in den
Elendsvierteln der grossen Städte bemerkbar. Sie riefen zum Kampf gegen
Ungläubige oder vom Glauben Abgefallene auf. Ihre Botschaft enthielt
meist auch eine antisemitische Note. Taten folgten: Im Herbst 2002 wurde
ein jüdischer Geschäftsinhaber in Casablanca auf offener Strasse
erschlagen, und wenige Wochen später steinigte ein aufgebrachter Mob in
Fes einen Alkoholiker. Die Behörden blieben dabei nicht untätig. Seit den
Attentaten von New York fanden unzählige Razzien in halbklandestinen
Islamistenzirkeln, in Moscheen, Videotheken und Buchhandlungen statt.
Polizei und Geheimdienste gingen dabei zumeist unzimperlich vor; laut
marokkanischen Menschenrechtsorganisationen sollen hunderte von
Islamisten von der Strasse weg verhaftet und ohne Gerichtsurteil wochen-
oder gar monatelang eingekerkert worden sein.
Gleichzeitig wurden allerdings führende Exponenten dieser
radikal-islamischen Gruppen - etwa der Prediger Abou Hafs aus Fes -
nach erstaunlich kurzer Zeit wieder frei gelassen. Die Behörden verfolgten
gegenüber diesen Gruppierungen offensichtlich die alte Strategie von
Zuckerbrot und Peitsche, die bis anhin erstaunlich gut funktioniert hatte.
"Wir lassen euch gewisse Freiräume, solange ihr uns nicht frontal
angreift", soll dabei die Botschaft gelautet haben.
Die Attentäter sollen alle einer salafistischen Gruppierung mit dem Namen
"Der rechte Weg" (sirat al-mustaqim) angehört haben, die eine
buchstabengetreue Auslegung des Korans vertritt. Gemäss
marokkanischen Medienberichten hat der Anführer dieser Gruppierung
seinen Lebensunterhalt mit dem Verkauf von Seife und Javellauge verdient;
unklar ist, ob er verhaftet oder untergetaucht ist. Er scheint zu der
Kategorie von selbst ernannten Predigern zu gehören, die kaum über die
elementarste Schulbildung verfügen. Diese Imame seien genau genommen
eine Mischung von Banditen und Sektenführern, schreibt der
marokkanische Journalist Abdellatif Agnouche. Sie würden auf ihre
Anhänger einen beachtlichen Einfluss ausüben. Über Verbindungen zu
al-Kaida kann zum jetzigen Zeitpunkt bloss spekuliert werden.
In einem gemeinsamen Communiqué haben sieben islamistische
Gruppierungen des Landes die Bluttat einhellig verurteilt. Dennoch stehen
den Islamisten in Marokko wohl schwierige Zeiten bevor. Die Anschläge
hätten für die ganze Bewegung politisch katastrophale Folgen, orakelte
Abdelilah Benkirane, Führer der grössten islamistischen Gruppierung
"Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung" PJD. Tatsächlich ist die Angst
vor algerischen Verhältnissen in Marokko weit verbreitet. Und die
politischen Gegner - darunter die etablierten Linksparteien - zögern nicht,
darauf hinzuweisen, dass sich das Gesellschaftsmodell eines PJD in den
Grundzügen kaum von demjenigen der extremistischen Attentäter
unterscheidet.
Aus: WoZ, 22. Mai 2003
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