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Marokko: Der Enthusiasmus ist weg

Klassenchef Mohammed VI

Von Beat Stauffer

Die Politik des marokkanischen Königs Mohammed bleibt – wie jene der anderen jungen arabischen Herrscher – vieldeutig. Wie aufgeklärt ist er wirklich?

Der königliche Palast von Skhirat stehe angeblich zum Verkauf, vermeldete die Zeitung «Demain» am 20. Oktober. Die an sich banale Meldung hatte für die Zeitung üble Folgen: Chefredaktor Ali Lmrabet wurde unverzüglich wegen «Verbreitung von Nachrichten, welche die innere Sicherheit des Staates gefährden», angezeigt. Ende November erkannte das zuständige Gericht den Journalisten für schuldig und verurteilte ihn zu vier Monaten Haft und zu einer hohen Geldbusse.

Für Aussenstehende ist kaum nachvollziehbar, worin denn das Delikt bestanden hat. MarokkanerInnen wissen hingegen sehr genau, dass hier einer gegen ein Gebot verstossen hat, das in Marokko nach wie vor uneingeschränkt gilt: Alles, was mit dem Königshaus zu tun hat, ist tabu, von Kritik an der Person des Königs gar nicht zu sprechen. Das Urteil gegen Lmrabet trägt zweifellos dazu bei, das nach dem Verbot von drei kritischen Zeitungen und ähnlichen Vorfällen bereits reichlich lädierte Image Marokkos weiter zu beeinträchtigen. Und dennoch reibt man sich die Augen: Wo bleibt denn da die herbeigeredete Öffnung, der neue, frische Geist, der im Palast von Rabat herrschen soll? Und wie ist solches zu vereinbaren mit der angeblich liberalen, auf Modernisierung ausgerichteten Haltung des jungen Königs Mohammed VI.?

Etwas mehr als zwei Jahre sind seit seinem Amtsantritt vergangen, doch der Monarch, der unerhört viele Vorschusslorbeeren erhalten hatte, bleibt seltsam konturlos. Gleichzeitig herrscht in zentralen Punkten absolute Funkstille. Wohl hat Mohammed VI. («M6») einige Reden gehalten, in denen er sich als vorsichtiger Modernisierer und – in der Manier eines aufgeklärten Absolutisten – als erster Diener seines Staates positioniert hat. Doch im Gegensatz zu seinem verstorbenen Vater Hassan II. meidet Mohammed die Medien konsequent. Die Interviews, die er in den vergangenen zwei Jahren gegeben hat, lassen sich an einer Hand abzählen; inhaltlich beschränken sie sich auf unverbindliche Absichtserklärungen und Floskeln.

Doch was will der König wirklich? Ist er bereit, mittelfristig eine Revision der Verfassung zuzulassen, welche seine immer noch absolutistische Machtfülle zugunsten der Legislative einschränken würde? Ist er willens, die konservativen Kräfte des Landes, die sich gegen jegliche Veränderung stemmen, allenfalls in die Schranken zu weisen? Unterstützt er wirklich die Kräfte im Land, die sich für eine echte Demokratisierung und die Bildung einer Zivilgesellschaft einsetzen? Auch gut informierte MarokkanerInnen rätseln über ihren 38-jährigen, gar nicht mehr so jungen König, über seinen Charakter, über seine Ziele, über sein politisches Format.

Nun hat ein ausgezeichneter Kenner Marokkos den Versuch unternommen, von aussen etwas Licht ins Dunkel zu bringen. Es ist der «Le Monde»-Korrespondent Jean-Pierre Tuquoi; «Le Dernier Roi» («Der letzte König») heisst sein Buch. Gut informierte Kreise in Rabat und Casablanca wussten schon seit Monaten um das Buchprojekt. Er und seine Freunde hätten Tuquoi dringend abgeraten, allzu detailliert über des Königs Privatleben zu berichten, sagte ein Journalist Anfang September. Nicht nur, weil damit tief sitzende Gefühle vieler MarokkanerInnen verletzt würden, sondern vor allem, weil dies ein gefundenes Fressen für die Islamisten darstellen würde. Vergeblich. Tuquoi hat nicht nur Details aus dem Privatleben Hassans und aus dem Inneren des Palastes, sondern auch Informationen aus dem Umfeld von «M6» veröffentlicht. Insbesondere ist er, wenn auch nur am Rand und in Frageform, auf die «hartnäckigen Gerüchte» über die angebliche Homosexualität des Königs eingegangen. Auch kritische MarokkanerInnen werfen Tuquoi deshalb heute Sensationshascherei vor.

Wer Argumente gegen das Buch, das in Marokko verboten ist, sucht, wird leicht fündig. So ist etwa der Titel – für marokkanische Verhältnisse – unnötig hart, zudem ist gut die Hälfte des Buchs gar nicht Mohammed VI., sondern seinem Vater Hassan II. gewidmet. Tuquoi rechtfertigt dies damit, dass zum Verständnis des heutigen Königs seine Jugendzeit und das Verhältnis zu seinem Vater ausführlich beschrieben werden müsse. Ein Stück Etikettenschwindel ist es allemal. Dennoch: Tuquoi ist es offenbar gelungen, Insider aus dem Palast zum Sprechen zu bringen. Die Darstellung wirkt gesamthaft glaubwürdig, auch wenn sich vieles nicht überprüfen lässt. Der Tonfall ist im Allgemeinen nüchtern und eher zurückhaltend; weit weniger reisserisch jedenfalls als Gilles Perraults elf Jahre zuvor verfasstes Buch über Hassan II. («Unser Freund der König»). Zum eigentlichen Thema hat Tuquoi alle nur denkbaren Quellen angezapft. Der König selber hat ihm, wie es scheint, ein Gespräch verweigert. Doch in Marokko beginnen sich die Zungen zu lösen, und so hat der Autor, wenn auch anonymisiert, eine ganze Menge an glaubwürdig wirkenden Stellungnahmen zusammentragen können. Sie zeigen den strahlenden jungen Herrscher, der für Millionen zum Idol geworden ist, in einem eher fragwürdigen Licht, lassen Zweifel an seinem politischen Format und an seinem Reformwillen aufkommen.

Dasselbe gilt für die Amtsführung Mohammeds VI. «Wie soll dieser junge König mit seiner Clique von Klassenkameraden Marokko regieren können?», schrieb der Schriftsteller Driss Chraibi im vergangenen Sommer. Tuquoi belegt diese Vorbehalte detailliert. Da ist etwa die Rede von fehlenden Visionen, von der auffällig seltenen Einberufung von Ministerkonferenzen, von mangelnder politischer Erfahrung seiner jungen Berater, von unbedachten Äusserungen gegenüber ausländischen Politikern. Wie ist etwa der Umstand zu interpretieren, dass Mohammed VI. anlässlich eines Staatsbesuchs in Frankreich in Anwesenheit mehrerer Zeugen betont hatte, er habe kein einziges Wort seiner Rede selber geschrieben?

Äusserst bedenklich erscheinen schliesslich Hinweise, dass Mohammed VI. offenbar hohe Militärs bei zivilen Dossiers beizieht. Tuquoi interpretiert dies vorsichtig als Hinweis auf eine faktische Schwächung des Monarchen zugunsten der Spitze von Armee und Gendarmerie. Dies aber würde mit Sicherheit allen Versuchen, in Marokko eine echte Zivilgesellschaft aufzubauen, diametral zuwiderlaufen.

Der Beitrag erschien am 20. Dezember 2001 in der Schweizer Wochenzeitung WoZ


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