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Publikumswirksame Razzien

Marokko vor und nach der Wahl: Die neuen Islamisten kommen aus den Banlieues

Der folgende Beitrag von Beat Stauffer wurde vor der Wahl in Marokko (sie fand am 27. September statt) geschrieben, reflektiert aber schon ziemlich genau ein Ergebnis, das dann ja auch eintrat: Die gemäßigten Islamisten (PJD: Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung) wurden enorm gestärkt. Im neuen Parlament werden die Islamisten etwa drei Mal so viele Sitze haben wir vorher (37 statt 14). Vor ihnen liegen nur noch die Nationalisten (40) und die Sozialisten (44). Beide hatten bisher - im Bündnis mit fünf weiteren, kleineren Parteien - die Regierung gestellt. Bei der Wahl mussten sie im Vergleich zu 1997 jeweils ein Viertel ihrer Sitze abgeben. Hinzu kommt, dass die wesentlich einflussreichere islamistische Organisation, die - verbotene - "Gerechtigkeit und Wohlfahrt" zum Wahlboykott aufgerufen hatte. Die Wahlbeteiligung war denn auch niedriger als 1997 und lag zwischen 52 und 55 Prozent.
Wir dokumentieren gekürzt einen Beitrag aus der Schweizer Wochenzeitung vom 26. September 2002.



Von Beat Stauffer

... Den ganzen Spätsommer hindurch berichteten marokkanische Medien ausführlich über Umtriebe radikaler Islamisten sowie über Razzien und Prozesse. In vielen grossen Städten durchsuchten Polizisten, begleitet von Funktionären des Ministeriums für religiöse Angelegenheiten, einschlägige Buchhandlungen nach extremistischer Literatur und entsprechenden Videokassetten. So wurden etwa in einer Buchhandlung in Tanger 10.000 Kassetten beschlagnahmt. Viele Buchhandlungen lagern unterdessen sicherheitshalber einen Teil ihres Angebots aus. Gleichzeitig schlossen die Behörden dutzende von Moscheen, in denen extremistische Prediger gewirkt haben sollen. Allein im Raum Casablanca wurden dreissig Moscheen versiegelt, einige kurzerhand demoliert. Medienwirksam inszenierte Prozesse gegen radikale Prediger – etwa den landesweit bekannten «marokkanischen Afghanen» Abou Hafs in Fes – rundeten das Bild ab: Hier geht eine Regierung kompromisslos gegen gefährliche Extremisten vor.

Das Timing dieser Aktionen ist alles andere als zufällig. Die von einer massiven Wahlschlappe bedrohte Koalitionsregierung unter Premierminister Abderrahmane Youssoufi benutzt das Schreckgespenst des radikalen Islamismus, um die von der Leistung seiner Regierung abgrundtief enttäuschten MarokkanerInnen am Wochenende von einer Protestwahl abzuhalten. Denn algerische Verhältnisse will hier nun wirklich niemand. Vor allem die laizistisch-frankofone Intelligenzia – und in verstärktem Mass die Frauen – könnten geneigt sein, für Parteien zu stimmen, die sie eigentlich als abgewirtschaftet betrachten. «Wer schützt uns denn vor diesen Bärtigen», den «barbus», ist immer wieder zu hören. So durchsichtig die Motive dieser Kampagne sind, so aufgebauscht sind gewisse Berichte: Es wäre ein Irrtum, das Ganze als blosses Wahlmanöver abzutun. Denn in den letzten Jahren machen tatsächlich immer mehr radikal-islamistische Gruppen mit schrillen Tönen von sich reden: Die beiden wichtigsten Gruppierungen nennen sich «Salafijja al-dschihadjja» und «Al Hidschra wa Takfir» und lassen die im Parlament vertretene islamistische Partei PJD wie auch die immer noch nicht zugelassene Organisation «Al-Adl wa al-Ihsan» des Scheichs Yassine an Radikalität weit hinter sich. Diese zwei grossen islamistischen Gruppierungen – dieser Eindruck drängt sich auf – vertreten zunehmend den islamistisch geprägten unteren Mittelstand: einfache Staatsangestellte, Lehrerinnen, Richter, auch Kleinunternehmer. Die radikalen Gruppierungen rekrutieren hingegen direkt in den tristen Slums, die sich mittlerweile wie schmutzige Gürtel um alle grossen Städte legen. Aus solchen Verhältnissen entstehen andere politische Bewegungen: harte, kompromisslose, gelegentlich auch hasserfüllte. Der Tonfall erinnert wohl nicht zufällig an denjenigen mancher Jugendlichen aus den Banlieue von Lyon und Paris.

Es sind nicht nur von der Bevölkerung abgehobene Angehörige der Oberschicht, denen es dabei gelegentlich kalt den Rücken herunterläuft. Es ist das populistische, faschistoide Moment an den Auftritten dieser radikalen Islamisten, das viele irritiert. «Ich lehne die Wahlen ab und glaube nicht an die Demokratie», gab der radikale Islamist Fizazi kürzlich zu Protokoll. «Meine einzige und alleinige Richtschnur ist der Islam.» Noch bedenklicher als solche Statements sind einzelne Taten, die landesweit Aufsehen erregt haben. In Slumquartieren wurden wiederholt Prostituierte und Alkoholiker gelyncht, Intellektuelle öffentlich als «Ungläubige» gebrandmarkt und zumindest einer, ein Anwalt, in einem Café ermordet. Die gemässigteren islamistischen Gruppen werden hingegen «exkommuniziert», weil sie sich mit einem «ungläubigen» Regime eingelassen haben. Mit Entsetzen blicken marokkanische Intellektuelle, die stets stolz waren auf den traditionell toleranten Islam in ihrem Land, auf derartige Auswüchse.

In Marokko glauben Kenner der Szene neben einer aufgeheizten Stimmung in der Folge des Afghanistankriegs und Ariel Scharons Wüten in Palästina zwei wesentliche Gründe für das Aufkommen dieser radikalen Gruppen ausfindig zu machen: Erstens soll Saudi-Arabien seit vielen Jahren versuchen, seine wahabitische Ideologie nach Marokko zu exportieren. Der gute, reine Islam soll in Marokko eingeführt und der sehr verbreitete Heiligenkult ausgemerzt werden. Mit Stipendien für Studien in Saudi-Arabien, aber auch mittels hervorragend ausgestatteten Studien- und Dokumentationszentren in Marokko selber wird Einfluss genommen. Dem Ministerium für religiöse Angelegenheiten werfen nun zahlreiche Intellektuelle vor, seine Aufsichtspflicht gegenüber diesen saudischen Institutionen vollkommen vernachlässigt zu haben.

Zweitens – und dies ist wohl der wichtigere Grund – ist diese Radikalisierung der Ausdruck einer Verelendung, von der immer grössere Bevölkerungsschichten betroffen sind. «Die unglaubliche Misere ist das wahre Problem», schreibt die Journalistin Bahia Amrani, «alles andere ist bloss die Folge davon.» In allen Städten rückten die Bidonvilles immer näher an die schicksten Wohnquartiere. «In diesen Bidonvilles, wo bitterste Not herrscht», so Amrani, «finden politische Agitatoren reichen Nährboden.»

Statt wie gebannt auf die extremistischen Prediger zu starren, wäre ein Blick in die wuchernden Elendsviertel der grossen Städte wohl in der Tat aufschlussreicher. Doch viele MarokkanerInnen scheinen diese sozialen Probleme zu verdrängen. Und nicht nur das: «Die angeblich demokratische Elite in Marokko schaut weg», schrieb Chefredaktor Aboubakr Jamai kürzlich in der Wochenzeitung «Le Journal», «wenn die Staatsmacht (‘le pouvoir’) die Reichtümer des Landes an sich reisst und die Opposition unterdrückt.» ...

Aus: WoZ-Online, 26. September 2002


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