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"Auch in Marokko schreitet die Revolution voran"

Attac-Aktivist Mimoun Rahmani über eine neue Verfassung, islamische Bündnispartner und Erwartungen an Europa


Stephan Lindner sprach für das "Neue Deutschland" (ND) mit dem 42-jährigen Ökonomen Mimoun Rahmani, der seit 2002 bei Attac in Rabat aktiv ist.

ND: Die marokkanische Demokratiebewegung nennt sich »Bewegung des 20. Februar«. Warum?

Mimoun Rahmani: Das ist der Tag, an dem unsere ersten großen Demonstrationen stattgefunden haben. Nachdem sie die Bilder aus Tunesien und Ägypten gesehen hatten, haben junge Leute auch bei uns via Facebook zu Protesten aufgerufen. Viele Organisationen unterstützen den Aufruf, unter ihnen Attac Marokko. Am 20. Februar gab es dann in mehr als 57 Städten Demonstrationen.

Welche Ziele hat die Bewegung?

Wir wollen eine neue Verfassung, die Menschen- und soziale Rechte garantiert, Pressefreiheit und eine unabhängige Justiz. Wir fordern außerdem den Rücktritt der Regierung und Neuwahlen, sowie die Freilassung aller politischen Gefangenen.

Ein wichtiges Thema ist auch die offizielle Anerkennung der Sprache der Amazigh, einer überall in Marokko lebenden Minderheit.

In Deutschland heißt es, in Marokko sei es nach ein paar Protesten und versprochenen Reformen wieder ruhig. Stimmt das?

Nein. Auch in Marokko schreitet die arabische Revolution voran. Jeden Tag gibt es in vielen Städten Proteste. Nach Demonstrationen am 20. März, dem vom Weltsozialform beschlossenen Tag zur Unterstützung der arabischen Revolution, gab es am 24. April in Marokko Demonstrationen in 106 Städten. Wir konzentrieren uns jetzt darauf, in armen Stadtvierteln zu mobilisieren. Leider fand am 28. April ein krimineller Anschlag statt. In einem hauptsächlich von Touristen besuchten Café in Marrakesch explodierte eine Bombe. Wir wissen nicht, wer das war, aber wir glauben, dass es getan wurde, um unsere Bewegung zu zerstören.

Und, ist die Bewegung dadurch geschwächt?

Wir lassen uns nicht spalten. Nach dem Anschlag demonstrierten in Marrakesch am 8. Mai 5000 Menschen, die diese kriminelle Tat verurteilten und an die Forderungen der Bewegung erinnerten.

Wer trägt die Proteste?

Es ist vor allem eine Jugendbewegung. Wir versuchen, ein möglichst breites politisches Spektrum zu organisieren. Die meisten Aktivisten haben ihren politischen Hintergrund entweder in linken Organisationen, Bürgerrechtsgruppen oder der islamischen Bewegung.

Wie kommen die Forderungen zustande? Wie organisiert sich die Bewegung?

Nach den ersten Demonstrationen wurden in vielen Städten lokale Räte eingerichtet. Diese entsenden Vertreter in einen nationalen Rat. In diesem sind alle politischen Spektren der Bewegung vertreten. Bei der Diskussion wichtiger Fragen spielt auch das Internet eine wichtige Rolle.

Wie reagiert die Regierung auf die Proteste? Sie scheint fest im Sattel zu sitzen.

Zuerst antwortete sie mit Unterdrückung. Viele Demonstranten wurden verhaftet. Aber wir machten Sit-ins vor den Polizeistationen, bis sie wieder freigelassen wurden. Nach wachsenden Protesten hielt der König am 9. März eine Fernsehansprache, in der er eine Verfassungsreform ankündigte. Er bestand dabei aber auf den sogenannten geheiligten Werten Marokkos: Islam, territoriale Einheit und Monarchie mit dem König als Führer der Gläubigen. Am nächsten Tag setzte er einseitig eine Kommission ein und wollte, dass ihr alle Organisationen Vorschläge machen. Das lehnte die Bewegung ab. Auch Attac Marokko distanzierte sich von dieser illegitimen Kommission.

Sie fordern die Wahl einer verfassunggebenden Versammlung. Boykottiert wirklich die ganze Bewegung diese Kommission?

Ja, diese Entscheidung wurde in großer Einigkeit getroffen. Es gibt einige Parteien, die sich an der Kommission beteiligen, deren Jugendorganisationen Teil der Bewegung sind. Die Jugendorganisationen sind dagegen, aber die Parteien machen mit.

Wie sehen das die islamischen Gruppen in der Bewegung? Bedeutet für sie eine neue Verfassung nicht die Einführung der Scharia?

Wir haben das nie diskutiert.

Gibt es keine Probleme, wenn Linke mit Menschen aus der islamischen Bewegung zusammenarbeiten?

Nein! Unsere Bewegung baut auf Konsens. Wir konzentrieren uns auf unsere Forderungen zu sozialen und politischen Themen. Alles, was uns spalten könnte, lassen wir außen vor.

Beim Weltsozialforum war die Besetzung der Westsahara durch Marokko ein wichtiges Thema. Gibt es dazu einen gemeinsamen Standpunkt?

Nein. Diese Diskussion würde uns zerreißen. Wir wollen, dass so viele Menschen wie möglich in der Bewegung aktiv sind.

Was denken Sie über die Situation in Libyen?

Die ist sehr schwierig. Wir wollen weder Besatzung, noch eine Diktatur.

Was erwarten Sie von den sozialen Bewegungen in Europa?

Solidarität! In vielen europäischen Städten leben Einwanderer aus Marokko, die Kundgebungen zur Unterstützung ihrer Landsleute in der Heimat organisieren. Beteiligt euch! Und schreibt Protestbriefe an unsere Regierung, wenn ihr von Unterdrückung in Marokko hört. Aus Erfahrung wissen wir, das diese Briefe eine positive Wirkung haben.

* Aus: Neues Deutschland, 18. Mai 2011


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