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Die doppelte Festung

Malta – eigenartiges Inselreich zwischen Kontinenten und Kulturen. Impressionen aus der kleinsten EU-Republik

Von Gerd Schumann*

Der Malteser Maurice Glynne gehört zu einer Sorte Mensch, die der Herrschaft besonders gefällt. Nicht nur, daß er als Sergeant der britischen Armee ausgerechnet jenem Kolonialreich dient, das zwischen 1800 und 1964 seine Heimat besetzt hielt. Zudem trieb ihn »Abenteuerlust«, wie er es nennt, dazu, mit den Kreuzrittern von heute in den Irak zu ziehen. Waren seine Urahnen auf Malta ab 1530 noch vom katholischen Johanniterorden zur Zwangsarbeit getrieben worden, um die Insel zum europäischen Bollwerk gegen die »Ungläubigen« auszubauen, so zog er nunmehr in ein islamisches Land, um dessen Einwohner ihrer wertvollen Bodenschätze zu berauben.

»Du denkst nicht drüber nach. Du mußt einfach gehen«, philosophiert der 45jährige und reflektiert nicht einmal ansatzweise seine Rolle als doppelt assimilierter Kolonialsöldner. »Die britische Armee bot mir ein gutes Leben an«, erweitert er seine Motive, die ihn wegführten von Frau und zwei Kindern, weit weg in die arabische Welt der Muslime, die einst in Gestalt des Osmanischen Reiches 1522 die Ordensritter aus Rhodos vertrieben hatten – bis nach Malta. Doch wußte die katholische Malteser-Elite immerhin, was für sie auf dem Spiel stand. Glynne weiß es nicht: »Ich habe mich noch nie gefragt, was ich eigentlich dort tue.« Als er im irakischen Basra fast von einer widerständigen Menschengruppe gestellt worden wäre, »gaben wir Gas und bekamen noch gerade so die Kurve.«

River Quai Marsch

Malta spricht englisch und malti. Und es denkt very british, britischer als mancher Engländer, so daß sich der Sergeant während der anderthalb Jahre als Besatzer im Dienste Ihrer Majestät vor Bagdad seiner kulturellen Herkunft nur ein einziges Mal erinnerte: »Glaub es mir oder nicht: Die maltesische Sprache bringt dich weiter. Eines Tages finden sie heraus, daß du ihre Sprache etwas kannst, dann erntest du ihr Vertrauen.« »Sie« – das sind die Eingeborenen in Irak, aus britischer Sicht. »Die maltesische Sprache half Sergeanten, das Vertrauen von Irakern zu gewinnen« schlagzeilte die Times. Ehemals Kolonisierte werden zu Kolonialisten und freuen sich über ihre neuen, noch nicht anglisierten Untertanen. Malti ist schließlich eine arabische Sprache – insofern repräsentiert Glynne im Irak gemeinsam mit einer Handvoll Landsleute einen neuen Typus des Besatzungssoldaten: Oder kannte auch nur ein Engländer nach Vertreibung der napoleonischen Truppen aus Malta zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts ein Wörtchen der Einheimischensprache? Letztlich setzte sich als herrschende Sprache die Sprache der Besatzer durch. Das Englische verwies das Malti auf Platz zwei.

Maurice Glynnes Ansichten mögen den Bewußtseinsgrad der Irak-Invasoren widerspiegeln. Der ketzerische Gedanke, daß sie Anhänger auch unter der Bevölkerung der zwischen Europa und Afrika gelegenen Mittelmeerinsel finden könnte, kommt mir eines Nachmittags an der Uferstraße von Sliema, einem mit seinen 13000 Bewohnern größeren Orte des kleinsten EU-Mitglieds. Eine Musikkapelle passiert und zwingt den gemeinen Malteser zu einer kurzen Unterbrechung seiner liebsten Tätigkeit, dem demonstrativen Autofahren. Der »River Quai Marsch« wird getrommelt und geblasen – die Passanten pfeifen mit; mir erscheint in Gedanken der hagere Sir Alec Guinness, Offiziersstab unter den spindeldürren rechten Oberarm geklemmt. Doch es ist nur einer der uniformierten Begleiter, die dem Spielmannszug folgen, den Gleichschritt einer jungen Pfadfinderschar mit Fähnchen vorweg kontrollieren, zofenartige Aufseherinnen hintendran. Derweil klatschen enthusiasmierte Endvierzigerinnen am Straßenrand Beifall ob des eingebimsten Auftritts vom jungen Nachwuchs für die 1900köpfige Armee des Landes.

Nun ertönt auch noch »John Browns Body« inklusive des gloriosen »Hallelujah« für dessen vermodernden Leichnam. Und »Wooden Heart« – ein deutscher Tourist am Straßenrand singt »Muß i denn, muß i denn zum Städtele hinaus« und erntet dafür nicht einmal verwunderte Blicke des sachkundigen Publikums. Dieses intoniert schließlich selbst Elvis Aaron Presleys sanftes Original und schunkelt an den Tischen nobler Cafés am Uferstraßenrand, ganz ohne Hüftschwung. Malta auf dem Horrortrip – ausnahmsweise mit ausgeschalteten Motoren.

Mit 1267 Personen pro Quadratkilometer weist die »Repubblika tá Malta« nicht nur die höchste Bevölkerungsdichte Europas auf, sondern erreicht zudem mit über einem Auto pro Kopf der insgesamt 380000 Insulaner eine weltweit beachtliche Besitzquote an fahrbaren Untersätzen. Von ökologischem Denken kein Hauch, und wenn dann noch eine steife Brise die unsichtbaren Schadstoffe aus Müllverbrennunganlagen im Landesinneren herüberweht, erreichen die Ozonwerte das atmungslähmende Niveau von Athen und Düsseldorf zu Zeiten hochsommerlicher Windstille. An des Bürgers Gewohnheiten ändert das indes nichts. Er drückt weiter fleißig aufs Gaspedal und trotzt der Vernunft sogar inmitten eines der vielen Staus: Autoschlangen am Rand der blauen Weiten des Mittelmeers – 90 Kilometer vor Sizilien und 350 vor Libyen.

Fluchtpunkt halten

»Flüchtlinge auf Felsen im Meer vor Malta aufgegriffen« (AFP, 17.5.). »56 Flüchtlinge vor Malta gerettet« (AP, 30.5.). Seit Jahren vergeht kaum eine Woche ohne Agenturmeldungen zum Fluchtpunkt Malta. Zeitungen der Insel – die englischsprachigen The Times und The Malta Independent oder auch das maltische Il-Gens – berichten dann meist auf ihren Titelseiten über die vergeblichen Versuche verzweifelter Afrikaner, auf die vermeintliche Sonnenseite des Globus zu gelangen. Der Streit mit Italien um die Zuständigkeit für die Elenden ist ein Dauerbrenner. Die nahegelegene Insel Lampedusa wurde zwar von Berlusconi zum Zwischenlager für gescheiterte Flüchtlinge vor deren Verfrachtung retour ausgebaut, doch gilt insbesondere Malta seit langem als Festung des reichen Nordens gegen die Menschen aus dem arm gehaltenen Süden.

Das scheint bei manchem Malteser tiefe Spuren hinterlassen zu haben. Zumindest wirkt er ob seines robusten Umgangs mit Fremden an sich und Zahlungsunfähigen speziell als ruppig und zudem eigentümlich verschlossen – eigentümlich deswegen, weil Malta hauptsächlich vom Tourismus lebt. 2004 beispielsweise suchte über eine Million Sonnenfans die drei bewohnten Inseln der Republik heim, wobei das Kontingent aus kolonialnostalgischen Briten rund die Hälfte ausmacht, gefolgt von einer Viertelmillion Deutschen und 150000 Italienern. Zwar ließ der 11. September 2001 die Zahlen schrumpfen, doch werden mittlerweile frühere Werte wieder erreicht.

Louise Hollanda meint, die Nationalität interessiere sie nicht – sie treibt unterschiedslos mit allen Ausländern, die von ihr ein Appartment mieten wollen, ihren Schabernack. Obwohl wie alle Malteser englischsprachig, verwirrt sie ihre internationalen Gäste mit einer kleinen Unterrichtseinheit auf Malti, der aus Karthago vor zwei Jahrtausenden mitgebrachten oder angenommenen Muttersprache. Diese wurde zwar im Laufe der Zeit und der wechselnden überseeischen Herrschaften angereichert mit manchen lateinischen, normannischen, italienischen, französischen, englischen Begriffen und Redewendungen, bleibt dem Ausländer trotzdem ein Rätsel. Wegweiser zumindest zu entziffern, macht allerdings kein Problem: Maltisch ist die weltweit einzige semitische Sprache mit lateinischen Schriftzeichen.

Trotz ihres Namens fühlt auch Mrs. Hollanda zutiefst britisch und hält um fünf Uhr nachmittags Teatime. 1942, als Malta von König George VI. das Georgskreuz der Windsors wegen seines Durchhaltewillens angesichts der fürchterlichen deutschen und italienischen Bombardements im Kampf um den strategisch wichtigen Grand Harbour der Hauptstadt Valletta erhielt, war sie noch nicht geboren. Allerdings begrüßte sie am 21. September 1964, als Malta Republik wurde, begeistert die Entscheidung, den Orden des Empire in der neuen Staatsflagge zu belassen. Und auch sonst fühlt sich die knapp Sechzigjährige eher konservativ, stimmte am 8. März 2003 wie 53,65 Prozent der Bevölkerung für den lange zwischen den beiden großen Parteien umkämpften Beitritt zum EU-Imperium: Labour unterlag den Nationalisten. Am 1. Mai 2004 wurde Malta offizielles EU-Mitglied.

Kraftwerk am Ferienhaus

Die – unterbrochen von kleineren Turbulenzen – jahrzehntelang andauernde Ära eines unabhängigen, links angesiedelten Staatskurses scheint beendet. Der Neoliberalismus hält massiv Einzug, Privatisierung heißt die Losung der Stunde. Großkapitalistische Konsortien zeichnen für den gigantischen Klinikneubau und den abgeriegelten Luxus-Wohnpark an der Landzunge vor Sliema und Valletta verantwortlich. Investoren machen sich im verscherbelten Freihafen ebenso breit wie im Bildungswesen. Nur ganz selten läuft das streng an Profitinteressen orientierte System aus dem Ruder und zeigt Rachegefühle. Oder steckt hinter der Entscheidung von Premier Edward Fenech Adami, direkt neben dem Ferienhaus des berühmtesten unter seinen Vorgängern, des Sozialisten Dominik »Dom« Mintoff, in der Hafenstadt Marsaxlokk ein Kraftwerk bauen zu lassen, ein anderes Motiv?

Marthese Farrugia lacht, als ich sie frage. Und schweigt danach achselzuckend, was wohl bedeuten soll, daß es sie nicht weiter interessiert. Die junge Frau, die ich auf dem bunten Markt am Hafen jenes Orts mit dem unaussprechlichen Namen – klingt wie »Marßaschlock« – treffe, stellt lieber mir die Fragen. Zum Beispiel nach dem Euro. Sie habe gehört, daß dessen Einführung bei uns mit ziemlichen Preissteigerungen verbunden gewesen sei. Ich nicke. Sie will wissen, um wieviel. Ich sage, daß viele immer noch die neuen Preise in die alte Währung umrechnen und sich manches Mal das proklamierte Verhältnis von zwei zu eins stark in Richtung eins zu eins verschoben hat. Sie erschrickt, und ich verstehe, warum auch in Malta lediglich das 65köpfige Parlament mit seiner konservativen Mehrheit über die EU-Verfassung abstimmen soll und nicht das Volk. Vielleicht würde ja jene historische, doch in der Arbeiterklasse immer noch latent vorhandende Renitenz die neoliberalen Verhältnisse überraschend kippen.

Bis jetzt gilt in der Republik das maltesische Pfund, dessen Kurs irgendwo zwischen zwei und 2,50 Euro liegt. Ein Referendums-Nein könnte ähnliche Folgen haben wie die Wahlniederlage der Konservativen 1996, die den EU-Kurs stoppte. Das Argument des kurzzeitig obsiegenden Labourmanns Alfred Sant: Wegen seiner Lage zwischen Europa und Nordafrika müsse Malta als Vermittler strikte Neutralität wahren. Doch sein mutiger Gedanke scheiterte. Die Beziehungen zu Libyen und zur Volksrepublik China indes blieben bis heute gut. Etwa in zwei Jahren soll das alte Pfund dem Euro weichen.

Niemals verschwinden wird dagegen allem historischen Optimismus zum Trotz die katholische Kirche, Herrscherin über sage und schreibe 365 Gotteshäuser – pro Tag des Jahres eines! Ihre streng zentralistisch geführte Massenbewegung dominiert mit einem Organisationsgrad von über 98 Prozent die gesamte Lebensweise auf dem maltesischen Archipel – und das nicht nur mit der allsonntäglichen Messe. Auf Malta funktionieren Scheidungen auf italienisch, enden also mit dem Tod eines der Ehepartner, der bei Bedarf auch schon mal mit Gewalt herbeigeführt wird. Abtreibung ist verboten.

Marthese erzählt von einem Pharmazieprofessor, dessen Klage gegen Malta wegen einer Art umgekehrter Diskriminierung beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte anhängig ist: Er war zu einer Geldstrafe von hundert Pfund verurteilt worden, weil er seiner vierten Berufung zum Geschworenen in einem Strafprozeß nicht folgte. Dreimal habe er mitgemacht, jetzt sei Schluß, meinte er und argumentierte: »Traditionsgemäß« seien nur rund drei Prozent aller Geschworenen weiblich. Männer hätten also fast die gesamte Last dieser Aufgabe zu tragen. Und eben dieses sei Sexismus von Staats wegen. Das Urteil aus Strasbourg steht zwar noch aus, doch werden Frauenrechte so oder so einen schweren Stand behalten. Wie bürgerliche Freiheiten schon vor 200 Jahren.

Katholische Massenbewegung

1787 kritisierte der deutsche Orientreisende Carsten Niebuhr als ein Vordenker grenzenlosen Handels nach einem Malta-Aufenthalt die katholischen Hardliner des Malteserordens. Deren intolerante Haltung gegenüber anderen Religionen und insbesondere deren den friedlichen Schiffsverkehr störende Flotte seien ein »politischer und gesellschaftlicher Anachronmismus«. Die Feudalordnung des Malteserordens hatte sich überlebt. Sie wurde 1789 dann von den Truppen des nachrevolutionären Frankreichs unter Napoleon gestürzt. Zwei Jahre später landeten die Engländer auf Malta. Nunmehr kontrollierte Seine Majestät, der König im fernen London, den wichtigsten Großhafen am Rand der westlichen Mittelmeerhälfte.

Jetzt erscheint druckfrisch die neueste Ausgabe des Malta Independent, darin die meistgelesene Rubrik überhaupt: »Notifika Ta’ Tahrikiet: Tribunali Lokali« (Bekanntgabe der Vorladungen vor lokale Gerichte). Auf acht engbedruckten Seiten finden sich Tausende Namen, alphabetisch geordnet und aufgelistet nach Gerichtsort und Datum: Wer wann wo weswegen gefälligst zu erscheinen hat. Hauptdelikt sind Verstöße gegen die Straßenverkehrsordnung – jedes noch so kleine Delikt wird öffentlich gemacht. Diese Gesellschaft, denke ich, verfügt noch über so etwas wie einen archaischen Pranger. Dem entgeht niemand so leicht, keine Sünde ohne Bestrafung hier draußen im Mittelmeer auf der Inselfestung.

* Der Beitrag erschien in der Wochenendbeilage der "jungen Welt", 11./12. Juni 2005


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