Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Malta ist keine Insel der Seligen

Die Mittelmeerrepublik vor dem Eintritt in die Europäische Union

Von Von Olaf Standke*

La irrid infuh u lanqas ninten. Aha. Auch die wörtliche Übersetzung des Satzes hilft nicht weiter: Ich will weder duften noch stinken. Gemeint ist, wenn man dem Deutsch-Maltesisch-Wörterbuch glauben darf: Ich will in diese Geschäfte nicht verwickelt werden. Und das war lange auch die Meinung vieler Malteser, wenn es um die Europäische Union ging. Mit 53,6 Prozent ging das Referendum im Vorjahr so knapp wie in keinem anderen Beitrittsland zu Gunsten der EU-Befürworter aus, nirgendwo war aber auch die Beteiligung höher (91 Prozent).

Ab dem 1. Mai gehört nun »Malti« zu den Brüssler Amtssprachen, eine Mischung, die für europäische Ohren wenig Verständnisansatz bietet, obwohl sich italienische und englische Laute unter die harten arabischen Konsonanten mischen. Für die Bewohner der kleinen Inselgruppe im Mittelmeer ist »Malti« vor allem Alltagssprache für den privaten Plausch. Wenn es sein muss, geht es nahtlos ins Englische über, der zweiten Amtssprache. Auch Italienisch ist weit verbreitet.

Das hat mit der Lage der fünf Felseninseln 100 Kilometer vor Sizilien und knapp 300 Kilometer vor der nordafrikanischen Küste zu tun. Megalith-Tempel im Landesinneren sind älter als die Pyramiden, nach den Phöniziern kamen die Römer und Araber, die Kreuzritter, später Napoleons Eroberer, aber auch arme Einwanderer aus Sizilien, 1800 schließlich die britischen Kolonialherren. Erst 1964 wurde Malta unabhängig. Geblieben sind neben der englischen Sprache auch die alten gelben Bedford-Überlandbusse, nostalgische Telefonhäuschen, Briefkästen und Pubs, Wettleidenschaft, perfekte Warteschlangen und der Linksverkehr. Malta ist eine reizvolle Symbiose aus arabischer und europäischer Welt, orientalischen Wurzeln und abendländischen Werten, ein Schmelztiegel der Kulturen. William Spiteri, Botschafter in Berlin, hat kürzlich auf einer Veranstaltung im Literaturhaus Fasanenstraße bei der Vorstellung des Autors Joe Friggieri die Bedeutung der eigenen Sprache für die Identität seines Volkes betont: »Wir brauchen mehr Literatur aus kleinen Ländern.«

Im EU-Babylon Brüssel sorgt die Sonderregelung – die schon Begehrlichkeiten in Irland geweckt hat, wo man nun das Gälische als EU-Sprache durchsetzen möchte – für einiges Kopfzerbrechen. Joris Goetschalckx, Leiter des Dolmetscher-Dienstes für Malta, glaubt, dort könne man »sich nicht recht entscheiden, welches Maltesisch das Korrekte« sei. Relevante Begriffe aus Wissenschaft, Technik oder moderner Verwaltung fehlten. Selbst über die Schreibweise der EU streitet man in Valletta: Unjoni Ewropea oder Ewropeja? Noch immer müssen nach EU-Angaben 15000 der insgesamt 85000 Seiten EU-Recht ins Maltesische übertragen werden. Und wo die 40 Simultandolmetscher hernehmen, die man demnächst in Brüssel, Strasbourg und Luxemburg braucht?

Das künftig kleinste Land der EU hat erfolgreich verhandelt. Kein anderer Kandidat setzte so viele Ausnahmeregelungen im »Acquis communautaire« durch, insgesamt 76 in 13 Bereichen, einige für immer, die meisten für eine Übergangszeit. In einem Protokoll wurde die Neutralität des Landes festgeschrieben, die in der maltesischen Verfassung verankert ist. Fremde Streitkräfte dürfen auf Malta – »Ein unsinkbarer Flugzeugträger«, so Winston Churchill – keine Basen einrichten. Erfolgreich konnte man sich einer Liberalisierung des Immobilienmarkts widersetzen. Ausländer dürfen weiterhin maximal ein Ferienhaus im Land erwerben. Dafür bleibt die freie Jagd auf Zugvögel, Lieblingssport vieler Inselbewohner, erlaubt. Ein Zugeständnis Brüssels mit Blick auf das Referendum. Wie das Sonderprotokoll zur Abtreibung, wonach keine EU-Regelung das scharfe maltesische Gesetz aufweichen darf. Auf der streng katholischen Inselgruppe – 98 Prozent bekennen sich zu Gott, und selbst 87 Prozent der Studenten glauben an die unbefleckte Empfängnis – sind Schwangerschaftsabbruch wie Scheidung prinzipiell verboten. Da hat sich nicht viel geändert, seit Apostel Paulus 60 u.Z. auf dem Weg nach Rom hier strandete und die Bewohner in drei Monaten zu Christen bekehrte. Die Geschichte ist mehr noch als die oft karg-bizarre Landschaft das touristische Kapital des Inselstaates. Auch wenn der Großmeisterpalast und die Häuser des »Souveränen Ritter Orden vom Hospital des Heiligen Johannes von Jerusalem, genannt von Rhodos, genannt von Malta« in Valletta nur Kopien sind – Malta wurde im Zweiten Weltkrieg von deutschen und italienischen Bomben schwer gezeichnet. Seit 1530 und über 250 Jahre prägten die Ritter hier das Leben, versammelten gegen horrende »Gebühren« eine Art paneuropäische junge Elite, versuchten Weltpolitik zu machen, aber auch Wissen zu bündeln. Bewunderer des Ordens sehen in seiner Aufteilung in acht nationale »Zungen« mit eigener »Auberge« und speziellen militärischen, administrativen und karitativen Aufgaben gar Wurzeln der heutigen EU, schließlich hätten die »Langues« auch lernen müssen, miteinander auszukommen und gemeinsam zu regieren. Dass dieses christliche Bollwerk gegen die Osmanen seinen enormen Reichtum vor allem anhäufte, weil die edlen Ritter Schiffe kaperten und Sklaven verkauften, fällt dabei leicht unter den Tisch.

Heute sind Fremde auf dem Archipel mit den drei bewohnten Inseln Malta, Gozo und Comino gern gesehen. Sorgt der Tourismus doch für rund ein Viertel des Bruttoinlandsproduktes. Mehr als eine Million Urlauber werden pro Jahr in den über 200 Hotels und Pensionen mit 40000 Gästebetten gezählt, davon über zehn Prozent aus Deutschland. Valletta gilt zu Recht als Freilichtmuseum – das sich auch ausgezeichnet als Filmkulisse eignet. »Zuletzt hat Malta das antike Griechenland, Rom und Troja, Italien, Frankreich, Alexandria, Palästina, Israel und Warschau gedoubelt«, so Luisa Bonello, Leiterin der Malta Film Commission. Auch Russell Crowe kämpfte als Gladiator Maximus in dem zur antiken Arena verwandelten 400 Jahre alten Fort Ricasoli.

Nicht nur Hollywood lobt die Produktionsbedingungen. Relativ billige Arbeitskräfte, lukrative Steuervergünstigungen, kurze Kündigungsfristen kommen auch über 60 deutschen Unternehmen zu Gute. Die Playmobil-Ritter der Nürnberger Firma Brandstätter etwa sind schon seit 30 Jahren Malteser. Junge Leute mit guter Ausbildung und Englisch als Muttersprache, unkomplizierte Behörden, Sonntagsarbeit kein Problem – das seien noch heute Trümpfe für ausländische Investoren, weiß Helga Ellul, Chefin von Playmobil Malta. Wenn dann die Regierung noch rund 13 Millionen Euro zuschießt, wie jüngst beim Umzug in den Industriepark Hal Far, lohnen sich die Geschäfte. Auch bei Zukunftstechnologien. Microsoft, Cisco und Oracle sind schon auf der Insel, der französisch-italienische Chiphersteller STMicroelectronics ist sogar größter Arbeitgeber. 2300 Menschen produzieren sieben Tage die Woche in drei Schichten in dem Werk in Kirkop die winzigen Siliziumscheiben. Eine Arbeitsstunde kostet hier nur ein Drittel der deutschen.



Malta in Zahlen:

Fläche: 316 km˛
Bevölkerung: 397.000
Lebenserwartung: 78 Jahre
Hauptstadt: Valletta (10000 Ew.)
Bruttoinlandsprodukt: 4,12 Mrd. Euro
BIP pro Kopf: 10700 Euro
Arbeitslosenrate: 7,4 Prozent
Inflationsrate: 2,2 Prozent
Staatsverschuldung: 66,4% des BIP
Währung: Maltesische Lira (LM) (1 LM = 2,33 Euro)




Hinzu kommt, dass die oppositionelle Labour Party (MLP), die als Regierungspartei einst die EU-Kandidatur auf Eis legte und noch vor dem Referendum mit Schlagworten wie »Fremdbestimmung« und »Ausverkauf« ihr Nein zur Brüsseler Union bekräftigte, den Anti-EU-Kurs verlassen hat. Fast lautlos vollzog sich vier Wochen vor dem EU-Beitritt auch im Regierungslager ein Wechsel. Der bisherige Vizepremier Lawrence Gonzi (50) von der Nationalistische Partei beerbte Edward Fenech Adami (70). Gonzi fordert seine Landsleute in diesen Tagen immer wieder dazu auf, die neuen Möglichkeiten des EU-Beitritts entschlossen zu nutzen. Malta, das selbst gegenüber Libyen keine Berührungsängste kannte, sieht sich beispielsweise als Brückenkopf Richtung Süden für westliche Informationstechnologie und will auch die Pharmaindustrie auf die Insel locken. »Afrika ist ein enormer Markt für Generika«, ist sich Philip Micallef, Chef von Malta Enterprise, sicher.

Doch obwohl die Insel im Vergleich zu den osteuropäischen Beitrittsstaaten als reich gilt und seit mehr als 30 Jahren wirtschaftlich eng an die EU gebunden ist, drohen auch erhebliche Probleme. In ihrem »Fortschrittsbericht« hat die EU-Kommission zu tief greifenden Strukturreformen aufgefordert. Künftig müssten die Produktivität gesteigert und die öffentlichen Finanzen stabilisiert werden. Schwachstellen sieht Brüssel vor allem in den Bereichen Schiffbau, Verkehrswesen und Landwirtschaft. Insbesondere die Sicherheit im Seeverkehr müsse besser gewährleistet werden. Malta befindet sich noch immer auf der Schwarzen Liste der Billigflaggen. Auch beim Umweltschutz bekommt man schlechte Noten. Vor allem aber kämpft die Insel mit einem hohen Staatsdefizit. Mit sechs Prozent des Bruttoinlandsprodukts war die Neuverschuldung im Vorjahr doppelt so hoch wie EU-erlaubt. Gleichsam zur Begrüßung in der Union plant die Kommission die Eröffnung eines Defizitverfahrens. Damit steht auch der für 2007 geplante Sprung zum Euro in den Sternen.

Da man in Brüssel den aufgeblähten öffentlichen Sektor als Hauptproblem ausgemacht hat, droht höhere Arbeitslosigkeit, denn »Privatisierungen sind meist mit einem Abbau der Stellen verbunden«, weiß Charles Vella, Sprecher der General Workers Union (GWU). Und obwohl Malteser oft mehrere Jobs und viele Überstunden zum Überleben brauchen, habe man bei den Mitgliedern um Verständnis für mögliche Lohneinbußen geworben – mit Blick auf die neue osteuropäische Konkurrenz. Dabei steht auch die bisher kostenfreie Gesundheitsfürsorge auf der Kippe, will die Regierung ihr Ziel einhalten, das Defizit bis 2006 auf unter drei Prozent zu senken. Das Rentensystem wird bereits überprüft. Schon sind Demonstrationen angekündigt. Auch Malta ist also keine Insel der Seligen. Es wird schwer werden, was sich Joe Friggeri vom EU-Beitritt erhofft: »Ich glaube, dass mein Land endlich seine eigene Identität findet.

Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um einen Beitrag aus dem "Neuen Deutschland" vom 23. April 2004. Die Zeitung berichtet in einer Serie über die neuen EU-Beitrittsländer.


Zurück zur Malta-Seite

Zurück zur Homepage