"Mali braucht die Dekolonisierung"
Jean Ziegler über Frankreichs Intervention, den Kampf gegen die Dschihadisten und den Hunger im Land *
Der Schweizer Soziologe Jean Ziegler
ist Vizepräsident des Beratenden
Ausschusses des UNO-Menschenrechtsrats.
Von 2000 bis 2008 war er
UNO-Sonderberichterstatter für das
Recht auf Nahrung. In seinem jüngsten
Buch »Wir lassen sie verhungern
– Die Massenvernichtung in der Dritten
Welt « (C. Bertelsmann, 2012)
geht er auch auf die Hintergründe der
Krise in Mali ein. Mit ihm sprach für
»nd« Harald Neuber.
Herr Ziegler, in einer Nachrichtenmeldung
hieß es dieser Tage: »Viele Menschen in Mali setzen
ihre Hoffnungen in die französische
Armee.« Kann der Westen mit
der Intervention die Probleme dieses
afrikanischen Landes militärisch
lösen?
In keiner Weise. Denn der Westen
ist der Hauptverantwortliche für
diese fürchterliche Situation. Mali
ist heute eines der ärmsten Länder
der Welt. Aber es hat eben auch
unglaubliche Bodenschätze, darunter
Uran und Gold. In meinem
Buch »Wir lassen sie verhungern«
habe ich einige Zahlen genannt:
Nur ein Viertel aller malischen
Mütter sind imstande, ihre Kinder
zu stillen, 62 Prozent der malischen
Bevölkerung sind nach Angaben
der Welternährungsorganisation
schwer und permanent unterernährt.
Seit der Kolonisierung
ist Mali in der absurden Situation,
dass es als großes, mächtiges Bauernland
Hunger erleidet. Die
Bambara-Kultur und andere Ethnien
haben eine lange landwirtschaftliche
Tradition. Dennoch
musste Mali im vergangenen Jahr
71 Prozent seiner Nahrungsmittel
importieren, weil die Regierung
wegen der Auslandsverschuldung
keine Investitionen in die Subsistenzlandwirtschaft
tätigen konnte.
Erklärt sich so die politische Instabilität?
Mali musste vor allem Reis aus Vietnam
und den Philippinen importieren.
Nun sind die Reispreise
wegen der Börsenspekulation mit
Grundnahrungsmitteln explodiert.
Nach 2009 sind die größten Banken
und Hedgefonds auf die Rohstoffbörsen
umgestiegen, nachdem
sie die Finanzbörsen ruiniert haben.
Sie machen seitdem an der
Chicago Commodity Stock Exchange
und anderen Rohstoffbörsen
astronomische Profite auch mit
Getreide. In der Folge steigen die
Preise. Länder wie Mali können
nicht mehr genug Nahrungsmittel
importieren. Mehr Menschen sterben.
In der Berichterstattung der
vergangenen Tage und Wochen ist
davon nur wenig zu hören. Stattdessen
ist viel von Krieg gegen den
Terrorismus die Rede.
Natürlich geht es auch gegen den
Terrorismus. Zwei Drittel Malis
sind Sahara- und Steppengebiet.
Dort, im Norden und Osten, sind
auch die großen Minen des Landes,
die im Wesentlichen von drei terroristischen
Organisationen kontrolliert
werden. Darunter die Al
Qaida im Maghreb und algerische
Dschihadisten. Hinzu kommen
Tuareg-Gruppen.
Wie kam es zum Erstarken des
islamistischen Einflusses?
Die Tuareg stellen die Mehrheit im
Norden des Landes. Seit der Unabhängigkeitserklärung
1962
wurden sie, ebenso wie im benachbarten
Niger, von der landesweit
schwarzafrikanischen Mehrheit
unterdrückt. Viele Tuareg sind
vor dem Elend nach Libyen geflohen
und wurden dort von Muammar
al-Gaddafi rekrutiert. Nachdem
die libysche Diktatur vor zwei
Jahren zusammengebrochen ist,
sind die Tuareg zurückgekommen
– schwerstbewaffnet. Ihre Nationale
Bewegung für die Befreiung
des Azawad, die MNLA, wurde
dann von dschihadistischen Truppen
verdrängt, die nun in der Region
die absolute Macht haben.
Kann man dieser Lage durch
Luftangriffe beikommen?
Dass Frankreichs Präsident François
Hollande den Vormarsch auf
die Hauptstadt Bamako durch die
Angriffe hat stoppen lassen, ist
verständlich. Diese Dschihadisten
sind eine ganz fürchterliche Bande,
die übrigens auch die übrigen
MNLA-Reste verfolgt. Die wüten
ebenso wie die Taliban, ebenso fanatisch.
Wenn die Bamako erobert
hätten, hätte das für die Menschen
dort großes Elend gebracht.
Was erleben wir also gerade in
Mali: humanitäre Hilfe oder Neokolonialismus?
Beides. Formaljuristisch gibt es
zunächst einen Beschluss des Sicherheitsrates,
der das Verteidigungsrecht
aus Kapitel sieben der
Charta der Vereinten Nationen
anspricht. Hier wurde also nicht,
wie bei George W. Buch in Irak, eine
einseitige Räuberaktion gestartet.
Hollande interveniert auf der
Basis eines Sicherheitsratsbeschlusses,
um den Bestand eines
UNO-Mitgliedsstaates zu erhalten.
Die Intervention ist dann juristisch
und moralisch legitim, wenn sie
keine imperialistischen Fernziele
hat, wenn sie zeitbeschränkt ist
und die Souveränität Malis wieder
herstellt. Aber der Verdacht besteht
natürlich, dass es eine neokoloniale
Wiedereroberungsaktion
ist. Die Frage ist also, ob die Westafrikanische
Wirtschaftsgemeinschaft,
die ECOWAS, das Heft in die
Hand nimmt und nach der Herstellung
der Souveränität wieder
abzieht.
Welche Lösungen gibt es für
Mali, wie kann das Land aus der
Krise herausfinden?
Es gibt im Grunde zwei Stufen der
Lösung. Zum einen müsste die
westafrikanische ECOWAS-Truppe
endlich konstituiert werden und
eingreifen. Sie müsste gemeinsam
mit der malischen Armee vorgehen,
um die Dschihadisten zu verjagen.
Präsident Hollande gibt ja
an, dass seine Intervention lediglich
zum Ziel hatte, den Vormarsch
dieser Kräfte zu stoppen, bis die
ECOWAS eingreift. Aber dann, und
das ist die zweite Stufe, muss die
Dekolonisierung vorangetrieben
werden – auch von Frankreich. Die
Uranvorkommen in Niger und Mali
werden vom französischen Staatskonzern
AREVA ausgebeutet. Die
AREVA ist lebenswichtig für
Frankreich, das einen Großteil
seiner Elektrizität in Atomkraftwerken
produzieren lässt. Der
Eingriff von Hollande war auch
durch die Bedrohung dieser Versorgung
motiviert. Die Beziehung
zu den Regierungen in Bamako
und (der nigrischen Hauptstadt)
Niamey ist eine neokoloniale Ausbeutungsbeziehung.
Niger und Mali gehören zu den ärmsten Ländern
der Welt und haben zugleich
mit die größten Uranvorkommen
der Welt. Da müsste es einen absoluten
Bruch mit dieser neokolonialen
Erbschaft geben. AREVA
müsste endlich einen vernünftigen
Preis für das Uran zahlen. Dann
gäbe es in einem Jahr keinen Hunger
mehr, keine Epidemien. Dann
würden Mali und Niger ein blühendes
Staatswesen
* Aus: neues deutschland, Donnerstag, 24. Januar 2013
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