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"Abhängigkeit ist kein Schicksal"

Bürgerbewegung in Mali macht gegen die Eisenbahn-Privatisierung mobil

Von Mona Grosche *

Mehr als 100 Jahre war die öffentliche Eisenbahn in Mali eine pulsierende Lebensader für das westafrikanische Land. Nun soll sie privatisiert werden. doch der zivile Widerstand wächst.

Es geht um Existenzielles: »Wir wollen unsere Arbeitsplätze und die Lebensgrundlage für mehr als 1,5 Millionen Menschen zurück!«, fordert Dr. Tiècoura Traoré, der Vorsitzende von COCIDIRAIL, einer Bürgerbewegung in Mali, auf den zahlreichen Veranstaltungen seiner Europareise im Frühsommer 2007. Was ihn und seine Mitstreiter umtreibt, ist der Kampf gegen den Verkauf der Eisenbahnlinie Dhakar-Niger an das französisch-kanadische Konsortium Transrail. Mehr als 100 Jahre war die Eisenbahn eine pulsierende Lebensader für Mali, die das kulturelle und wirtschaftliche Leben geprägt hat.

Zentrale Verbindung zur Außenwelt

Die Bahn – von Mali und Senegal gemeinsam betrieben – ist für einige Regionen die einzige Verbindung zur Außenwelt. An ihrem Streckenverlauf haben sich zahlreiche Dörfer angesiedelt, Frauen betreiben Landwirtschaft und verkaufen ihre Produkte am Zug. Kleinunternehmer nutzen die Bahn, um ihre Güter zum nächsten Markt zu bringen. Doch seit der Privatisierung im Oktober 2003 sieht das Leben in Mali anders aus: Kaum war der Vertrag unterzeichnet, standen mehr als 600 Eisenbahner, allen voran Gewerkschafter wie Traoré, auf der Straße. Der Verkehr wurde »ausgedünnt«, 26 von insgesamt 36 Bahnhöfen geschlossen. »Die Privatisierung ist ein Desaster«, sagt der Verkehrsexperte, der zur Symbolfigur des Widerstands geworden ist. Andere Verdienstmöglichkeiten gibt es in den betroffenen Gebieten nicht, schließlich arbeitet fast jeder Zweite in Mali im informellen Sektor.

»Das Gemüse verdirbt auf den Feldern, und den Familien fehlt das Geld, um die Kinder zur Schule zu schicken«, schildert Traoré. Personenverkehr ist für Transrail uninteressant. Das Konsortium setzt auf schnelles Geld durch Gütertransporte, die sich – hauptsächlich im Bereich Baumwolle und anderer Exportwaren – versechsfacht haben. So fährt der Konzern satte Gewinne ein, während er keinen Franc in die Erhaltung der Infrastruktur investiert und sich Loks und Waggons weiterhin aus Steuermitteln bezahlen lässt. Gleichwohl schrumpfte das Unternehmenskapital bereits in den ersten Monaten nach der Übernahme um mehr als 90 Prozent. Wo das Geld geblieben ist, können sich weder Traoré noch die verbliebenen Eisenbahner erklären.

Diese arbeiten unter immer schlechteren Bedingungen, von einer Angleichung ihrer Löhne an das Niveau der Kollegen in Senegal können sie nur träumen. Die malische Regierung hatte für die Privatisierung der Eisenbahn – nach Wasser- und Stromversorgung der dritte betroffene Infrastruktursektor – keinerlei verfassungsmäßige Grundlage, kritisiert COCIDIRAIL. Dennoch segnete das Parlament den Beschluss mit großer Mehrheit ab. Rechtliche Schritte dagegen blieben bei den nationalen Gerichten ohne Erfolg. Deshalb klagt man nun vor dem Internationalen Gerichtshof, »um die illegale Enteignung rückgängig zu machen und die Bahn der Bevölkerung zurückzugeben«, wie Traoré sagt.

COCIDIRAIL, das »Bürgerkollektiv für die Verteidigung und die integrierte Entwicklung der Eisenbahn von Mali«, setzt sich aus (entlassenen) Eisenbahnern, betroffenen Dorfbewohnern, Vereinen und Verbänden zusammen. Unterstützt werden sie von einem internationalen Netzwerk von Anwälten sowie kleineren Gewerkschaften und Initiativen in Europa. COCIDIRAIL kämpft jedoch nicht allein für die Rückgabe der Bahn, sondern auch darum, das gesellschaftliche Leben insgesamt stärker in die eigenen Hände zu nehmen: »Gemeinsames Leben und Wirtschaften hat bei uns eine lange Tradition. Kapitalismus wird von vielen als westlicher Import angesehen«, erklärt Traoré. So propagiert man den dezentralen Einsatz heimischer Ressourcen, um die Lage der Menschen zu bessern. Solarenergie zum Kochen, Pflanzen, die die Bodenqualität verbessern und mobile Internet-Zugänge für mehr Information sind nur einige der Themen, denen sich COCIDIRAIL widmet. Das Bündnis sieht sich nicht als einzelne Bewegung, sondern als Teil eines globalisierten Widerstands, denn »was mit unserer Eisenbahn passiert ist, geschieht überall auf der Welt«, meint Traoré, »und deshalb müssen wir gemeinsam dagegen kämpfen«. So flimmert denn auch im mobilen Kino des Bündnisses, dem Cinéclub, neben afrikanischen Filmen wie »Bamako«, in dem Tiècoura Traoré die Hauptrolle spielt, auch Ken Loachs »Navigators« über die Leinwand, um die Folgen neoliberalen Wirtschaftens zu dokumentieren.

Mit Vielfalt gegen die Einfalt der Politik

Ebenso vielfältig wie die Themen ist das Aktionsspektrum des Bündnisses: Durch Versammlungen, Konzerte, Demonstrationen und vor allem durch das mobile Kino und Beiträge in mehr als 100 kleinen Radiosendern erreicht man Menschen, die Französisch weder sprechen noch lesen können. Das nächste Großereignis wird gerade vorbereitet: Eine einmonatige »Bürgerkarawane« macht im November an zehn Stationen Halt, um zu informieren und zu mobilisieren. Denn, so weiß Traoré: »Opfer ist man nur solange, wie man sich als solches verhält« – und das nicht nur in Mali.

* Aus: Neues Deutschland, 14. August 2007


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