Die UCK, Kosovo und Makedonien
Das Wiederaufleben der "albanischen Frage"
Christophe Chiclet, Mitglied des Redaktionskomitees von "Confluences Méditerranée" und - gemeinsam mit Bernard Ravenel - Autor des Buches "Kosovo: le pičge" (Paris: LHarmattan 2000), analysiert in der April-Ausgabe von Le Monde diplomatique die Politik der UCK hinsichtlich eines "Großkosovo". Die Folgen dieser Politik sind bedrohlich: Stellen sie doch die staatlichen Grenzen Serbiens und Makedoniens in Frage und führten unweigerlich zu einer Destabilisierung der ganzen Region. Wir dokumentieren den Beitrag, der auch eine sehr gute chronologische Übersicht über die Ereignisse enthält, auszugsweise.
DIE POLITIK DER UÇK BEDROHT DIE BESTEHENDEN
GRENZEN
Von CHRISTOPHE CHICLET
Einen Monat nach den ersten freien Wahlen im Kosovo vom 28.
Oktober 2000 brach die albanische Frage erneut auf und
erfasste, von Südserbien ausgehend, alsbald den Norden
Makedoniens. In beiden Gebieten sind Freischärlergruppen nach
dem Vorbild der UÇK aufgetaucht, die für die Befreiung der
dort lebenden Albaner kämpfen. ...
Fast zeitgleich haben sich zwei neue Freischärlergruppen zu
Wort gemeldet: am 4. Februar 2000 die Befreiungsarmee von
Presevo, Medvedja und Bujanovac (UÇPMB) im Südwesten
Serbiens und am 20. Januar 2000 die Nationale
Befreiungsarmee Makedoniens (UÇKM) im Nordwesten der
Republik. Zunächst beschränkten sie sich auf wenige
Sprengstoffanschläge. Dann drang die UÇPMB in die rund fünf
Kilometer breite und dreißig Kilometer lange entmilitarisierte
Pufferzone zwischen dem Kosovo und Serbien ein. ...
Von ihren Stützpunkten in dieser Zone aus griffen die
Untergrundkämpfer die drei mehrheitlich albanischsprachigen
Gemeinden Presevo, Medvedja und Bujanovac an, in denen
70.000 Albaner leben. Dabei kam ihnen die lasche Haltung des
US-amerikanischen KFOR-Kontingents zugute, das dieses
Grenzgebiet kontrolliert. Die KFOR verstärkte ihre Präsenz vor
Ort, doch die serbische Seite antwortete - anders als zu früheren
Zeiten - nicht mit Repression, sondern mit Verhandlungen.
Daraufhin beschlossen die radikalen Kräfte, eine neue Front zu
eröffnen.
Am 16. Februar 2001 trat erstmals die bislang im Untergrund
agierende UÇKM in Erscheinung und besetzte im Grenzgebiet
zwischen Makedonien, Kosovo und Serbien mehrere
abgelegene Dörfer mit albanischer Bevölkerungsmehrheit. Die
Radikalen hofften, die "Heldentaten" der UÇK wiederholen zu
können, um dem Westen die albanische Frage erneut
aufzuzwingen. Die Regierungen in Skopje und Belgrad setzen
trotz Verschärfung der militärischen Lage auf Mäßigung.
Da dieser Konflikt das instabile Gleichgewicht im Kosovo zu
gefährden drohte, verstärkte die KFOR ihre Grenzkontrollen,
und die Nato erlaubte den serbischen Einheiten wieder den
Zutritt zu einem kleinen Teil der entmilitarisierten Zone. Was
Makedonien betrifft, so sprachen die europäischen Regierungen
der Führung in Skopje ihre volle Unterstützung aus. Am 13.
März 2001 stimmte die UÇPMB schließlich einem
Waffenstillstand mit Belgrad zu. In Makedonien, dessen
Bewohner zu fast 30 Prozent Albaner sind, blieb die Situation
dagegen weiterhin unklar. Am 15. März verlagerte die UÇKM
den Schauplatz der Kampfhandlungen in die Dörfer um Tetovo,
der zweitgrößten Stadt des Landes.
Dieser neue Konflikt ist nur zu verstehen, wenn man auf den
Anfang der Krise und die Wende in der US-amerikanischen
Balkanpolitik im Herbst 1998 zurückblendet. Ab diesem
Zeitpunkt war Milosevic für die US-Regierung nicht mehr der
Unterzeichner des Dayton-Abkommens und die UÇK nicht
mehr eine nationalistische marxistisch-leninistische Bewegung, die
in der Region eine großalbanische Lösung anstrebt. Am 24.
März 1999 begannen die Luftstreitkräfte der Nato mit der
Bombardierung Jugoslawiens. Am 10. Juni, dem Tag nach dem
Rückzug der serbischen Armee aus dem Kosovo, unterstellte
der UN-Sicherheitsrat die Provinz in Resolution 1244 der
internationalen Kontrolle, ohne sie aus der jugoslawischen
Souveränität zu entlassen. Im Lauf der sechsmonatigen
Kampfhandlungen hatte die UÇK eine militärische Niederlage
nach der anderen einstecken müssen und hunderte Kämpfer
verloren. Ihr romantisches Heldenbild zog dennoch scharenweise
Freiwillige an. Rund tausend makedonische und einige hundert
serbische Albaner schlossen sich, neben den aus Westeuropa
zurückkehrenden politischen Aktivisten, den Einheiten der UÇK
an.
Im faktisch unabhängig gewordenen Kosovo übernahmen die
ehemaligen Untergrundkämpfer die Kontrolle über die Provinz,
vertrieben die Minderheiten der Serben, Roma und Goran (das sind islamisierte Slawomakedonier) und begannen, sich in diversen Schwarzhandelsgeschäften zu
engagieren. Ein Teil der UÇK wurde am 21. September 1999 in
die Kosovo-Schutztruppe (TMK) übernommen. Diese offiziell
zivile Einheit gerierte sich wie eine Miliz des Hashim Thaçi, der
sich selbst zum Ministerpräsidenten Kosovos ernannt hatte. ... Am 15. Oktober
1999 gründete Hashim Thaçi die Demokratische
Fortschrittspartei des Kosovo, die wenige Monate später in
Demokratische Partei des Kosovo (PDK) umbenannt wurde.
Sie präsentierte sich als die Partei der UÇK und fungierte als
Auffangbecken für alle von Rugova enttäuschten Kräfte.( )Die
Volksbewegung Kosova (LPK), das politische Rückgrat der
UÇK, beschloss daraufhin, in der neu gegründeten Partei
aufzugehen. Ihre Aktivisten wachten über die korrekte politische
Doktrin der PDK, deren Hauptpunkte sind: rechtliche
Unabhängigkeit des Kosovo und Unterstützung der Albaner in
Serbien, Makedonien und Montenegro.
Entgegen den Empfehlungen der ehemaligen LPK-Aktivisten gab
der Pragmatiker Hashim Thaçi seine panalbanischen Losungen
auf. Ramush Haradinaj, früher LPK-Mitglied in der Schweiz und
später UÇK-General, trat im März 2000 aus der PDK aus und
gründete die Allianz für die Zukunft des Kosovo (AAK). Diese
versuchte, alle Unzufriedenen unter ihrer Fahne zu sammeln, von
den verstreuten ehemaligen UÇK-Kämpfern über
LPK-Ideologen und langjährige Rugova-Gegner bis hin zu alten
Kadern des Bundes der Kommunisten. ...
Zu den Kommunalwahlen vom 28. Oktober 2000 präsentierte
sich die AAK als die Partei der Radikalen. Sie war überzeugt
von ihrem bevorstehenden Triumph über die Demokratische Liga
des Kosovo (LDK) des Pazifisten Ibrahim Rugova. Dessen
Image war angeschlagen, weil er während der
Nato-Bombardierungen mit Slobodan Milosevic verhandelt
hatte. Doch die beiden aus der Untergrundarmee
hervorgegangenen Parteien hatten sich durch Schwarzhandel und
Erpressungen, durch blutige Abrechnungen in den eigenen
Reihen und durch ihren autoritären Führungsstil in den von ihnen
regierten Gemeinden bei der Bevölkerung unbeliebt gemacht, die
sich in erster Linie nach Frieden sehnte. Das Wahlergebnis fiel
entsprechend eindeutig aus: Die LDK Rugovas erhielt 58
Prozent der Stimmen, die PDK und die AAK dagegen nur 27
bzw. 8 Prozent.
Enttäuscht über diese Niederlage, setzten die Aktivisten der
albanischen Volksbewegung (LPK) erneut auf Unabhängigkeit.
Am 22. Juli 2000 hatte in Pristina die fünfte Generalversammlung
der LPK stattgefunden. Ihr Programm verkündet
unmissverständlich: "Die albanische Frage auf dem Balkan ist
noch immer ungelöst. Die Situation der Albaner in Makedonien,
Montenegro und im Osten des Kosovo ist die eines
unterdrückten Volkes. Das albanische Volk im Kosovo muss für
seine Unabhängigkeit und einen Staat kämpfen, der alle Gebiete
einschließt, in denen die Albaner die Mehrheit stellen." (Programm der Volksbewegung des Kosovo, Pristina, Juli 2000)
Schon vier Monate vorher hatte die LPK begonnen, in der
Diaspora Geld für die UÇPMB zu sammeln. Deren militärischer
Befehlshaber, Shefket Hasani, reiste kurz vor den Wahlen im
Kosovo in die Schweiz und beschuldigte Hashim Thaçi, für den
Untergrund bestimmte Gelder in Höhe von 1,5 Millionen
Schweizer Franken unterschlagen zu haben. Am 26. und 27.
August wurde in der Schweiz auf einem weiteren Kongress der
Volksbewegung eine neue Leitung gewählt. Das Amt des
Generalsekretärs der Auslandsorganisation übernahm der
albanische Makedonier Fazli Veliu, der politische Führer der
damals noch geheimen UÇKM. Diese trat am 11. März 2001
erstmals öffentlich in Erscheinung. Die LPK wurde damit erneut
zum politischen Rückgrat der Anhänger eines Großalbanien. ... Angesichts der offenen Kritik der
sozialistischen Regierung in Tirana an ihrem
Großalbanien-Projekt propagiert die LPK neuerdings jedoch ein
"Großkosovo", das alle Albaner des ehemaligen Jugoslawien
einschließen soll.
Am 5. Oktober 2000 wurde Slobodan Milosevic durch den
demokratisch gewählten Präsidenten Vojislav Kostunica
abgelöst, und am 23. Dezember errangen in Serbien die
Demokraten einen souveränen Sieg bei den Parlamentswahlen.
Damit war das serbische Schreckgespenst, das den Westen zur
Unterstützung der UÇK bewogen hatte, verschwunden.
Um die albanische Frage wieder hochzukochen, entschlossen
sich die radikalen Kräfte zu einer Politik der Eskalation, deren
Ziel darin besteht, durch die Destabilisierung Serbiens und
Makedoniens ein "albanisches Dayton" zu erzwingen. Am 22.
November 2000 explodierte vor der jugoslawischen Vertretung
in Pristina eine Bombe, und in der Nähe von Presevo wurden
vier serbische Polizisten getötet. Drei Wochen später konnte die
UÇPMB die Führer der südserbischen Parteien PVD (Partei der
demokratischen Aktion) und PBDSH (Partei der
demokratischen Einheit der Albaner) für eine gemeinsame Front
gegen Belgrad gewinnen.
Während 300 bis 400 gut bewaffnete Freischärler die
entmilitarisierte Zone in Südserbien besetzten, trat zugleich ihre
politische Führung an die Öffentlichkeit. An der Spitze des
"Politischen Rates" von Presevo, Medvedja und Bujanovac
(KKPMB) steht Jonuz Musliu, ein Mitglied der LPK-Leitung.
Sein Stellvertreter ist Halil Selimi, früher führendes Mitglied von
Hashim Thaçis PDK. Die militärische Führung besteht aus den
Kommandanten Lleshi, Rasni und Shaban. Die aus
LPK-Aktivisten und UÇK-Kämpfern zusammengesetzten
Einheiten gründeten in Mali Trnovac ihr Hauptquartier und
übernahmen die Kontrolle über das Städtchen Veliki Trnovac,
ein lokales Zentrum für den Drogen- und Waffenschmuggel und
für den Handel mit zur Prostitution bestimmten Frauen. Ihr
rückwärtiger Stützpunkt liegt in Gnjilane, dem Zentrum des
amerikanischen KFOR-Sektors. ...
Die Radikalen wissen, dass sie allein mit den Kampfhandlungen
im Presevo-Tal kein zweites Kosovo heraufbeschwören
können. Also trugen sie den Kampf in das benachbarte
Makedonien hinein, wo eine fragile ethnische Balance herrschte.
Am 25. Februar besetzten rund 25 Freischärler das Dorf
Tanusevci - unterstützt durch etwa 300 mobile, gut ausgerüstete
Männer aus dem Kosovo und der Umgebung von Presevo, die
sich in Tanusevci, Malina, Brest und Gosince festsetzten. Die
Zusammenarbeit zwischen KFOR und makedonischer Armee
zwang die UÇKM am 7. März zum Abzug. Doch die
Untergrundkämpfer verfügen über zwei rückwärtige Stützpunkte
in Debelde und Vitina im Kosovo, wo Geld und Waffen der
LPK hinfließen. Da sie nicht auf die Unterstützung der
traditionellen Parteien der albanischen Makedonier zählen
können, gründeten sie am 11. März die Demokratische
Nationalpartei (PDK) unter Vorsitz von Kastriot Haxhirexha.
Dieser ist von der Demokratischen Partei der Albaner (DPA)
abgesprungen, die an der makedonischen Koalitionsregierung
beteiligt ist.
Am 13. März demonstrierten in der Hauptstadt Skopje rund
20.000 Albaner für eine friedliche Beilegung des Konflikts. Tags
darauf eröffnete die PDK den Reigen der Gewalt mit einer
Demonstration in Tetovo, der Albanerhochburg in Makedonien.
Aus einer Menge von rund 5.000 Teilnehmern schossen eine
Hand voll Leute auf die Polizeikräfte. Am 15. März postierte die
UÇKM ihre Granatwerfer auf den Höhen über der Stadt und
zielte auf das Zentrum. Nach einem tagelangen Schusswechsel
sah sich Skopje gezwungen, einen Teil der Reservisten
einzuberufen und über Tetovo eine Ausgangssperre zu
verhängen. Die DPA und ihr Führer Arben Xhaveri kritisierten
einerseits die UÇKM und den Radikalismus der PDK,
profitierten andererseits aber von der Situation, um ihr
proklamiertes Ziel zu erreichen, dass die albanische Minderheit
als "konstitutives Volk" mit denselben Machtbefugnissen
anerkannt wird wie die makedonische Mehrheit. Die EU drängte
Skopje, diesem Konzept zuzustimmen.
Nach Ansicht der Radikalen werden die Albaner von den
Makedoniern unterdrückt. Gleichwohl sind die Albaner eine
anerkannte Minderheit mit eigenen Parteien, Zeitungen, Radio-
und Fernsehsendern und albanischsprachigem Unterricht in der
Grund- und Sekundarstufe. Mangels eigener Universität
gründeten sie 1995 die Freie Hochschule Tetovo, deren Diplome
allerdings nicht anerkannt werden. Anfang des Jahres endlich
verpflichtete sich der Erziehungsminister zur Beilegung des
Konfliktes, in Tetovo eine dreisprachige Universität (Albanisch,
Makedonisch, Englisch) zu eröffnen.
All dies vermag die Frustrationen eines Großteils der Albaner
jedoch nicht zu lindern. Zwar litten sie in Makedonien nicht unter
einem Apartheid-Regime wie ihre "Brüder" im Kosovo.
Angesichts der alltäglichen Xenophobie und häufiger
Polizeiübergriffe, die als "Ausrutscher" abgetan werden, haben
sie dennoch allen Grund, sich als diskriminierte Minderheit zu
fühlen...
Aus Angst, ein zweites Bosnien heraufzubeschwören, waren die
makedonischen Parteien stets um gute Kontakte zu den
politischen Albanerorganisationen bemüht. Zwischen 1991 und
1998 arbeiteten die gemäßigten Kräfte der Partei der
demokratischen Prosperität (PDP) mit den Sozialisten
zusammen. Nach der politischen Wende 1998 trat die für
Autonomie eintretende PDA in die Regierungskoalition unter
Führung der makedonischen Nationalisten (VMRO-DPMNE)
ein. Die Albaner stellten stets fünf Minister und gegenwärtig
auch noch mehrere Staatssekretäre und Botschafter. Auch die
Nummer zwei des Geheimdienstes ist ein Albaner.
Dennoch sind wirtschaftliche und soziale Diskriminierungen nicht
zu leugnen. Lange Zeit waren Albaner wie Roma sozial
schlechter gestellt, auch wenn sich dies in den letzten zehn Jahren
geändert hat. Dank des von den Emigranten geschickten Geldes,
aber auch der Einnahmen aus Drogen- und Waffenhandel sowie
Prostitution erlebt der Westen Makedoniens derzeit einen
Aufschwung, und Tetovo ist die reichste Stadt des Landes.
Die radikalen LPK-Aktivisten und verstreuten ehemaligen
UÇK-Kämpfer, die von Großalbanien oder zumindest von
einem Großkosovo träumen, haben die Gewalt in zwei
demokratische Länder getragen, in der Hoffnung, einen
Anschluss von Südserbien und Westmakedonien an das Kosovo
zu erreichen. Diese extremistische Politik radikalisiert einen Teil
der albanischen Bevölkerung, die sich die Erfüllung ihrer
Hoffnungen nur im Rahmen einer territorialen Autonomie
vorstellen kann. Das aber wäre der Auftakt zur erneuten
Zerstückelung existierender Staaten.
dt. Birgit Althaler
Aus: Le Monde diplomatique, Beilage zur taz, 12. April 2001
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