Makedonien: Konflikt nach einem alten Schema
Zwei interessante Kommentare aus der Schweiz
Der Schweizer Wochenzeitung (WoZ) entnahmen wir die beiden nachfolgenden Kommentare, die wir auszugsweise dokumentieren.
Ein altes Skript, neu inszeniert
Judith Huber
Das Schema ist bestens bekannt. Vereinfacht dargestellt, läuft es
folgendermassen ab: Angehörige einer «Volksgruppe» auf dem
Territorium des ehemaligen Jugoslawien beklagen sich über Unterdrückung
durch eine andere, verlangen einen unabhängigen Staat (in dem es
automatisch keine Unterdrückung mehr geben kann, da der Staat ja dann
ethnisch rein und deshalb per definitionem das Paradies ist) und greifen zu
den Waffen. In den westlichen Medien dürfen «einfache Leute» zu Wort
kommen, die einfach nur frei sein wollen und deshalb die Gewalt
befürworten. Die selbst ernannten Rebellen haben gelernt, dass ein
wichtiger Teil der Öffentlichkeit des Westens gerne mit in Pulverdampf
gehüllten «Freiheitskämpfern» sympathisiert und dass der Status eines
Opfers seine Vorteile hat. Und sie wissen genau, dass sie erst dann zu
ernsthaften Gesprächspartnern avancieren, wenn ihre Forderungen von
Waffengewalt begleitet sind.
Doch dieses Mal sollte allen klar sein, dass die behauptete brutale
Unterdrückung, welche die Waffengewalt rechtfertigen und adeln soll,
Propaganda ist. Denn in Mazedonien - dem einzigen Nachfolgestaat des
ehemaligen Jugoslawien, der die Unabhängigkeit gewaltlos erringen konnte
- ist die albanische Minderheit seit der Staatsgründung 1991 an der
Regierung beteiligt. Ihre Rechte sind in den letzten Jahren stetig
ausgebaut worden. Im Oktober soll eine albanische Universität ihren
Lehrbetrieb aufnehmen. Weitere Verbesserungen des Status der
albanischen Minderheit dürften mit politischer Arbeit nicht allzu schwer zu
erreichen sein. Doch den Bewaffneten, die aus dem Kosovo nach
Mazedonien eingedrungen sind, geht es nicht um die Rechte der dort
ansässigen albanischen Bevölkerung. Sie wollen ihren Machtbereich
ausweiten, den sie unter den Augen der internationalen «Friedenstruppen»
Kfor im Kosovo so gut festigen konnten. Sie wollen freie Hand für ihre
lukrativen Geschäfte. Denn die demokratischen Veränderungen in der
Region, die Annäherung Jugoslawiens an den Westen, die allmähliche
Auflösung des Klischees «böse Serben - gute Albaner», die Absage der
Kosovo-AlbanerInnen an die ehemaligen UCK-Kommandanten bei den
Kommunalwahlen letzten Herbst - all dies untergräbt die Machtbasis
etlicher Kommandanten, die sie mit ihren Angriffen auf Mazedonien wieder
festigen wollen. Sie hoffen, mit ihren Angriffen die internationale
Gemeinschaft erneut zu einer Intervention zu ihren Gunsten zwingen zu
können. Der Führer der südserbischen Albaner-Guerilla UCPMB habe bei
einer Unterredung kaum glauben können, dass die USA nicht planten,
Serbien erneut zu bombardieren, zitierte die «International Herald Tribune»
am Montag einen westlichen Diplomaten.
Es stimmt nicht, dass die verschiedenen Ethnien auf dem Balkan einen
tief verwurzelten, quasi natürlichen Hass aufeinander haben, der es ihnen
verunmöglicht, im selben Staat zu leben. Diese Behauptung war in all den
Kriegen der letzten zehn Jahre lediglich als Mittel zum Zweck benutzt
worden, um Konflikte zu schüren und Kriege zu rechtfertigen. Ebenso
wenig stimmt, dass als logische Folge daraus die verschiedenen Ethnien
in jeweils eigenen Staaten leben müssen. Doch die Progaganda zeigt
Wirkung, auch im Westen. Nur so ist es zu erklären, dass der
aussenpolitische Sprecher der deutschen CDU/CSU-Fraktion, Karl
Lamers, Zweifel an dem Konzept äusserte, «verschiedene ethnische
Gruppen auf dem Balkan zum Zusammenleben zu zwingen». Doch wie
steht es denn eigentlich mit dem Zusammenhalt der albanischen
«Ethnie»? Die Kosovo-Guerilla wünscht nämlich keineswegs einen
gemeinsamen Staat mit Albanien, ihre «Brüder» und «Schwestern» aus
dem armen Nachbarland sind ihnen nicht gut genug. Im
serbisch-kroatischen Krieg und im Bosnien-Krieg wurde keineswegs nur
aus «ethnischen Gründen» gemordet. Beim Massaker im Herbst 1991 im
Städtchen Gospic unweit von Split etwa wurden auf Befehl des damaligen
kroatischen Generals Mirko Norac nicht nur serbische, sondern auch
kroatische ZivilistInnen ermordet (siehe WoZ Nr. 07/01). Diese
Wahrnehmungsverzerrung des Westens, dieses Denken in billigen
Klischees, machten sich albanische Extremisten nach dem
Nato-Einmarsch im Kosovo zunutze. Bis heute werden systematisch
SerbInnen, Roma und Angehörige anderer Minderheiten umgebracht,
vertrieben und ihre Kulturgüter zerstört. Der Westen, vor allem die
westliche Presse, nimmt dies - wenn überhaupt - mit einem
Achselzucken zur Kenntnis. Diese geplanten, systematischen Verbrechen
werden als (legitime) Rache der einfachen Leute für vorangegangene
Verbrechen eben dieser Minderheiten abgetan.
Der Westen, der im Krisengebiet Kosovo-Südserbien-Mazedonien nicht
eine vage Grösse, sondern eine reale militärische Macht darstellt, hat
einmal mehr versagt. Dieselbe Strategie, welche die Nato vor genau zwei
Jahren (am 24. März 1999) den Bombenkrieg beginnen liess, ist
mitverantwortlich für das aktuelle Debakel. Keine eigenen Verluste, hiess
es, und die Nato bombardierte - unter anderem Flüchtlinge. Dass die
dabei eingesetzte Clustermunition, deren zahlreiche Blindgänger als
heimtückische Minen wirken, nach den Bombardements nach
Uno-Angaben bis jetzt etwa 200 ZivilistInnen - vor allem Jugendliche und
Kinder - tötete und verletzte, davon spricht kaum jemand. Von der
Uranmunition ganz zu schweigen. Nur keine eigenen Verluste, hiess es,
und die Nato verbündete sich mit der Befreiungsarmee UCK. Die Guerilla
wurde nach Ende des Krieges nie ernsthaft aufgelöst, konnte praktisch
ungehindert aufrüsten und ihren Machtbereich im Machtvakuum nach
Abzug der serbischen Truppen und Auflösung der ganzen vorherigen
Verwaltung ausbauen. Die Menschen im Kosovo - und nicht nur die
Minderheiten - leiden unter praktisch gesetzlosen Zuständen, denen eine
viel zu schwache und teilweise schlecht ausgebildete Uno-Polizei keinen
Einhalt gebietet. Die Pufferzone in Südserbien und das Grenzland
zwischen Kosovo und Mazedonien konnten von der UCK für Waffen- und
Drogenschmuggel und militärische Vorbereitungen für den nächsten Krieg
genutzt werden. Die Albaner ja nicht vor den Kopf stossen, lautete eine
Devise der Kfor, denn dies könnte die eigenen Soldaten gefährden.
Und jetzt, da die Situation eskaliert, müssen andere das Monster
bekämpfen, das dank der Langmut der Kfor so gross geworden ist. Die
serbische Polizei darf wieder in der «Pufferzone» in Südserbien nach dem
Rechten sehen, und Mazedonien, das seit dem Einmarsch der Kfor im
Kosovo als logistisches Hinterland hinhalten musste, wird schmählich im
Stich gelassen. Die OSZE beobachtet wie eh und je. Die
Nato-Verantwortlichen gebärden sich so, als ginge sie das alles nichts an.
Der deutsche Kriegsminister Rudolf Scharping (SPD), der vor zwei Jahren
eine der treibenden Kräfte des angeblich humanitären Krieges gewesen
war, hat nur die Sicherheit der eigenen Truppen im Kopf. Und die bisher in
Mazedonien stationierten Swisscoy-Soldaten wurden sowieso sofort
abgezogen, da sie für das heisse Pflaster Balkan ungenügend ausgerüstet
sein sollen. Mazedonien, das nach den Worten von Präsident Boris
Trajkovski (in einem Interview der NZZ) versucht, einen Staat aufzubauen,
der auf Individuen und nicht auf ethnischen Gruppen basiert, soll selbst
schauen, wie es zurande kommt.
Aus: WoZ, 22. März 2001
Mazedonien: Mehrheit und Minderheit pflegen ihre Ressentiments
Vor der Quadratur des Kreises
Andreas Ernst, Skopje
Die albanischen Parteien in Mazedonien lavieren, in der
Bevölkerung wachsen Angst und Vorurteile, die Regierung versucht
zu beruhigen. Die Lösung des Konflikts scheint fast unmöglich.
Wir sind friedliebend, gutmütig und wir verteidigen uns nicht. Davon haben
früher die türkischen Herren profitiert, davon profitieren heute die Albaner. -
Unter dem Eindruck der Gefechte in den Grenzregionen kultiviert
Mazedoniens Mehrheitsbevölkerung in diesen Tagen ein gleichermassen
gutmenschelndes wie weinerliches Selbstverständnis. In der Tat begegnet
einem der mazedonische Nationalismus in seiner alltäglichen Gestalt als
Defensivideologie: Die alten Träume von Grossmazedonien sind
aufgegeben, man beschränkt sich auf die heutige Republik, auf das so
genannte Vardar-Mazedonien. Aber trotz solcher Selbstbescheidung,
heisst es bitter, dränge die albanische Minderheit auf Abspaltung «ihrer»
Regionen und deren Eingliederung in ein Grossalbanien. Der Westen
unterstütze sie dabei, sei es aus Gewohnheit, Dummheit oder Bosheit.
Und so viel Gift in solchen Ansichten mitschwingen mag, zu bestreiten ist
nicht, dass in den letzten Wochen und Monaten einiges geschehen ist,
um die MazedonierInnen in ihren Vorurteilen zu bestätigen.
Tatsächlich bedroht die nationalistische albanische Aggression ernsthaft
die Integrität des Landes: Tearce, Tanusevci, Tetovo heissen die Stationen
der Eskalation. In Tearce, einem kleinen Dorf bei Tetovo, töteten Ende
Januar albanische Angreifer einen Polizisten. In Tanusevci, einem Bergdorf
nahe der Grenze zum Kosovo, führen Armee und Polizei seit vier Wochen
einen Kleinkrieg gegen albanische Bewaffnete. In den Vororten und Hügeln
von Tetovo schliesslich, der zweitgrössten Stadt des Landes im albanisch
dominierten Westen, sind seit einer Woche Gefechte im Gang, in denen
die mazedonische Polizei, durch Armeeverbände verstärkt, erfolglos
versucht, die Hangstellungen der Freischärler von unten sturmreif zu
schiessen, um sie dann von den Seiten her einzudrücken.
Bei all dem unternehmen die albanischen Parteipolitiker der
Regierungspartei DPA (Demokratische Partei der Albaner) oder der
oppositionellen PDP (Partei der demokratischen Prosperität) wenig, um
den Konflikt systemkonform erscheinen zu lassen: als aussengesteuerte
Aggression, in der nicht Albaner und Mazedonier sich bekämpfen, sondern
albanische Terroristen die multiethnische Demokratie angreifen.
Loyalität mit wem?
Die neu gegründeten albanischen Nationaldemokraten verfolgen sogar offen
die gleichen Ziele wie die Freischärler: die ethnische Aufteilung des
Landes und die Befreiung der Albaner vom «mazedonischen Staatsterror».
PDP und DPA als Parlaments- respektive Regierungsparteien des Landes
befinden sich auf einer heiklen Gratwanderung zwischen Systemloyalität
und ethnischer Loyalität. Je nach Publikum, Zeitpunkt und Person geben
sie unterschiedliche Statements ab, die von energischer Verteidigung des
Staates bis zu sofortigem Waffenstillstand und Verhandlungen über die
«legitimen Ziele der Kämpfer» reichen. Die politische Dynamik geht zurzeit
von den Radikalen aus. Die Parteiführer versuchen diese einerseits durch
Aufrufe zu bremsen, besetzen anderseits selbst radikale Positionen, um
die Kontrolle über die politische Agenda zurückzugewinnen. Dieser
Zick-zackkurs flösst der mazedonischen Mehrheit kaum Vertrauen ein
(wirklich vorhanden war es nie), und die Beziehungen zwischen den
Bevölkerungsgruppen sind auf dem Tiefpunkt.
Die Aufrufe aus dem Westen, zurückhaltend auf die Angriffe zu reagieren,
passen zur verbreiteten Vorstellung in der mazedonischen Öffentlichkeit,
dass die Albaner, wie schon beim KosovoKonflikt, die Rolle der «good
guys» spielten, während die Mazedonier ins serbische Kostüm der «bad
guys» gezwungen würden. Diese Sicht ist, angesichts der Verurteilung der
Angreifer durch alle wichtigen internationalen Kräfte, zwar einseitig.
Doch
es gibt immer wieder Ereignisse, welche dieses Vorurteil zu bestätigen
scheinen: So hat vor einer Woche die britische BBC einen Bericht über
eine Militäraktion in Tanusevci gezeigt, die den Eindruck erweckte, die
Armee gehe nach dem vormals serbischen Muster der massiven
Vergeltung selbst gegen ZivilistInnen vor. Das gezeigte Kriegsgerät besitzt
die Armee allerdings gar nicht: Der Film war manipuliert. Seither kann man
als ausländischer Journalist öfter die Frage hören, wie viel einem die
Terroristen pro Artikel bezahlten. Auch Premierminister Ljubco Georgievski
hat die westliche Berichterstattung kritisiert: Der Konflikt habe seine
Wurzeln nicht im Land, sondern in Pristina im Kosovo. Wenn die Uno und
die internationale Kosovo-Streitmacht Kfor ihre friedenssichernde Aufgabe
wirklich erfüllten, dann wäre der Friede nicht bedroht. Aber der Westen
habe im Kosovo eine balkanische Version der Taliban gezüchtet, die nun
ausser Kontrolle sei.
Staat und Gesellschaft sind schlecht auf diese Herausforderung
vorbereitet. Wie sonst könnten einige hundert Bewaffneter das Land
innerhalb wenige Wochen an den Rand des Bürgerkriegs drängen? Die
mazedonische Armee ist ungenügend ausgebildet, ihre Ausrüstung
mangelhaft und veraltet. In der Mannschaft sind Albaner proportional leicht
übervertreten, im Offizierskorps aber klar untervertreten. Im Kampf gegen
die Guerilla fehlt es vor allem an Mitteln zur Luftaufklärung und zur
Luftlandung. Sie wäre notwendig, um die Freischärler, die sich zum Teil
zwischen ZivilistInnen in den gebirgigen Dörfern verschanzt haben, genau
zu lokalisieren. Wenn die Armee stattdessen mit schwerer Artillerie ein
Blutbad unter der Zivilbevölkerung anrichtet, wird sie nicht nur die
albanische Bevölkerung, sondern auch die «internationale Gemeinschaft»
gegen sich aufbringen. Die Armee hofft deshalb auf Rüstungshilfe:
Russland soll die Lieferung von neun Helikoptern zugesagt haben. Die
«Verschleppung» des militärischen Konflikts über viele Wochen ist
gefährlich. Mit jedem Tag wächst die Gefahr, dass der Funke auf die
gemischten Siedlungen und Städte im Landesinnern übergreift.
Enervierende Passivität
Noch schlechter als die Armee ist die mazedonische Gesellschaft für
diesen Konflikt gerüstet. Im Alltag leben die mazedonische und die
albanische Gemeinschaft fast autonom nebeneinander. Daran haben die
grossen Integrationsfortschritte, welche die albanische Minderheit dank der
DPA unter der Regierung Georgievski erreicht hat, wenig geändert. Bei der
Polizei beträgt der albanische Anteil nur vier Prozent, aber gesamthaft
gehören immerhin zehn Prozent der Staatsangestellten der albanischen
Minderheit an (1992 waren es zwei Prozent). Von dreissig Ministern und
deren Stellvertretern sind acht albanischer Herkunft. Für albanische
Studienplätze gibt es privilegierende Quotenregelungen. Die Integration ist
aber rein «systemisch». Sie beschränkt sich auf staatliche Institutionen,
ohne Entsprechung in der Lebenswelt der Menschen. Wenn das Gespräch
darauf kommt, sprechen zwar viele slawische MazedonierInnen von guten
albanischen Freunden. Aber man kriegt sie nie zu Gesicht. Umgekehrt ist
es genauso. Die enervierende Passivität, mit der die mazedonische
Zivilgesellschaft oder eben die beiden Zivilgemeinschaften auf den
drohenden Krieg reagieren, hängt damit zusammen. Es gibt keine
gemeinsame private oder öffentliche Sphäre, aus der die Friedensfreunde
schnell mobilisieren könnten. Anfang dieser Woche hat sich erstmals eine
Gruppe von Nichtregierungsorganisationen (NGO) im Internet gemeldet.
Das ist erfreulich, aber interethnische Kundgebungen müssten, um ein
Zeichen zu setzen, auf der Strasse oder in den Massenmedien stattfinden.
Damit ist nicht zu rechnen.
Wenn dieser Staat die Krise überstehen soll, dann muss er die
militärische Auseinandersetzung so schnell wie möglich beenden, und
zwar als Sieger über die Freischärler. Parallel dazu müssten alle
relevanten politischen Kräfte über einen neuen «contrat social» verhandeln,
der das Verhältnis zwischen slawisch-mazedonischer Mehrheit und
albanisch-mazedonischer Minderheit neu regelt. Doch die Mehrheit scheint
nicht zu solchen Verhandungen bereit, solange noch geschossen wird,
und die Minderheit scheint nicht bereit, dem Staat eine massive
Militäraktion, die die Schiessereien erst beenden könnte, zuzugestehen.
So gleicht die Suche nach einem neuen Gesellschaftsvertrag der
Quadratur des Kreises.
Aus: WoZ, 22. März 2001
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