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Sitzungsboykott und Streiks

Politische Krise auf dem Inselstaat Madagaskar spitzt sich zu

Von Johannes Stein *

Als Reaktion auf die mit Einsatz von Tränengas aufgelöste Demonstration der Anhänger des ehemaligen Präsidenten Marc Ravalomana am 28. April, bei der drei Menschen verletzt und drei weitere inhaftiert wurden, entschieden die im Parlament vertretenen Mitglieder der »Mouvance Ravalomana«, den Sitzungen der Übergangsregierung fernzubleiben. Sie boykottierten neben Ministerratstreffen und der Zusammenkunft des Beratungsgremiums am letzten Mittwoch auch die Zeremonie zur Eröffnung der ersten offiziellen Tagung der »Haute Autorité de la Transition« (HAT). Der Repräsentant der Ravalomana-Anhänger, Mamy Rakotoarivelo, begründetete dies damit, daß die gewaltsame Beendigung der Kundgebung an besagtem Samstag gegen die Bestimmung im »Feuille de Route«, dem Leitfaden zur Beendigung der Krise, verstoßen habe.

Am 2. Mai wurden in der Hauptstadt Antananarivo die beiden Radiojournalisten Lalatiana Rakotondrazafy und Fidèle Razara Piera festgenommen, die in ihrer Radioshow auf dem Sender Free FM regierungskritische Bemerkungen verlauten ließen, obwohl der Präsident der HAT, Andry Rajoelina, ihnen bereits zuvor angedroht hatte, den Sender schließen zu lassen. Die beiden wurden nach einem Verhör am nächsten Tag wieder auf freien Fuß gesetzt. Sie wandten sich daraufhin an das Büro gegen Korruption (BIANCO), um Ermittlungen gegen ihren Ankläger und Millionär Mamy Ravatomanga einzuleiten, der als enger Bekannter Rajoelinas gilt. Außerdem fordern sie, zusammen mit der madagassischen Journalistengewerkschaft, eine Abdankung des Kommunikationsministers Harry Laurent Rahajason, den sie für die Einschränkung der Pressefreiheit verantwortlich machen.

Wiederholte Einschüchterungsversuche gab es auch gegen die seit April sreikenden Lehrer. Der Bildungsminister Manoro Régis forderte sie auf, den Unterricht, der seit Wochen in mehr als 80 staatlichen Schulen nur noch sporadisch stattfindet, wieder aufzunehmen, ansonsten sei mit der Streichung ihrer Löhne zu rechnen. Die Lehrer fordern bereits seit letztem Jahr in ihren Kundgebungen eine Erhöhung ihrer Gehälter, die seit den 1960er Jahren gleich geblieben sind und weder der aktuellen Konjunktur noch den heutigen Lebensunterhaltungskosten entsprechen. Eine Demo vor dem Bildungsministerium am letzten Montag wurde erneut mit Tränengasgranaten attackiert.

Auch die Kriminalität auf der Insel nimmt zu. Nachdem im letzten Monat an einem Strand im Südosten der Insel ein Pärchen ermordet worden war, wurden gestern am hellichten Tag Benoît und Mauren Ng Fuk Chongvon, ein französisch-mauritianisches Paar, von drei bewaffneten Kriminellen im Zentrum Antananarivos verschleppt. Die Entführer fordern eine Summe von 270 Millionen Ariary (100000 Euro). Kurz nach der Entführung explodierte im Stadtzentrum in der Nähe der französischen Botschaft eine selbstgebaute Bombe, dabei wurde ein Mensch verletzt.

Alle Aufmerksamkeit richtet sich nun auf den 13. Mai, an dem sich der Tag der ersten Aufstände gegen den 1972 gestürzten Präsidenten Philibert Tsiranana jährt. Einige Madagassen sehen mit dem Jubiläum auch das Ende des heutigen Präsidenten gekommen.

* Aus: junge Welt, Donnerstag, 10. Mai 2012


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