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Litauens Justiz macht Jagd auf Partisanen

Vorgehen löst Zweifel an Eignung von Vilnius als EU-Kulturhauptstadt aus

Von Peter Nowak *

Soll die litauische Hauptstadt Vilnius 2009 wirklich europäische Kulturhauptstadt werden? Diese Frage ist eigentlich längst entschieden. Doch die Initiatoren eines offenen Briefes, der Anfang September dem Europaparlament zugeschickt wird, wollen, dass diese Entscheidung noch einmal überdacht wird.

Hintergrund dieser Forderungen sind Ermittlungen der litauischen Staatsanwaltschaft gegen mehrere Partisanen. Vorgeworfen wird den hochbetagten ehemaligen Kämpfern gegen die Faschisten und ihre regionalen Unterstützer, Verbrechen begangen haben. Dabei geht es um die Ereignisse in dem polnisch-litauischen Dorf Koniuchy. Partisanen hatten am 29. Januar 1944 die dortige deutsche Garnison angegriffen. Bei den Kämpfen sind auch 38 Dorfbewohner getötet worden. Für Litauens Justiz war der Angriff daher Terrorismus.

In den litauischen Medien stehen dabei besonders jüdische Partisanen im Visier. So soll Rachel Margolis zu der Aktion in Koniuchy befragt werden, obwohl sie gar nicht daran beteiligt war, sondern nur in ihren Memoiren darüber berichtet hatte. Auch Yitzhak Arad wird von den litauischen Medien beschuldigt, für den sowjetischen Geheimdienst NKWD gearbeitet zu haben. Der ehemalige Direktor der Holocaust-Gedenkstätte Jad Vaschem lebt wie Margolis in Israel. Zwischen Juni 1941 und Oktober 1941 massakrierten die deutschen Faschisten und ihre litauischen Helfer 50 Prozent der 80 000 litauischen Juden, die andere Hälfte wurde in Ghettos gesperrt. Dort bildeten sich auch die Widerstandsgruppen.

Europaweit wird das Vorgehen der litauischen Justiz kritisiert. Mit der besonderen Herausstellung von jüdischen Partisanen in der litauischen Öffentlichkeit wird Antisemitismus geschürt, warnen Verfolgtenverbände. Sie sehen in dem Vorgehen den Versuch, die Kollaboration mit dem NS-System zu rehabilitieren und den Widerstand dagegen zu kriminalisieren. Erst vor wenigen Monaten beschloss das litauische Parlament, das Tragen von Hakenkreuz und Hammer und Sichel gleichermaßen unter Strafe zu stellen.

Kritik an dem Vorgehen der Justiz gibt es auch in Litauen. Emmanuelis Zingeris, der einer internationalen Kommission vorsteht, die die Verbrechen der Nazis und während der Stalin-Zeit in Litauen untersuchen soll, sieht in den Vorstoß den Versuch nationalistischer Kreise, die Arbeit der Kommission zu sabotieren. Der europäische Protest könnte die Debatte in Litauen über das Vorgehen der Justiz verstärken. Bis Anfang September kann der offene Brief unter Offener-Brief.Litauen@gmx.de unterstützt werden.

* Aus: Neues Deutschland, 29. August 2008

Im Folgenden dokumentieren wir den "Offenen Brief"

Wir fordern die Einstellung der Ermittlungen gegen ehemalige jüdische Partisanen in Litauen

Seit Anfang dieses Jahres ermittelt die Staatsanwaltschaft in Litauen gegen ehemalige jüdische Partisaninnen und Partisanen, die während des Zweiten Weltkriegs gegen die deutsche Besatzungsmacht gekämpft haben. Die Behauptung der Staatsanwaltschaft, dass „Hunderte Zeugen befragt wurden”, täuscht über die Tatsache hinweg, dass ausschließlich jüdische Namen in den Medien auftauchen, vor allem die von Yitzhak Arad, Fania Brantsovsky und Rachel Margolis. Sie werden in Zusammenhang mit Partisanenaktionen genannt, bei denen litauische Zivilisten umgekommen sind und als deren Urheber die Justizbehörden „Terroristen” und „Mörder” ausgemacht haben. Dies legt die Vermutung nahe, dass die Ermittlungen darauf ausgerichtet sind, die öffentliche Meinung in Litauen dahingehend zu beeinflussen, dass primär Juden für die litauischen Opfer von Partisanenaktionen verantwortlich sind. Auf diese Weise soll die antisowjetische bzw. antirussische Stimmung in Litauen eine antijüdische Stoßrichtung erhalten.

Es sei daran erinnert, dass die jüdischen Anti-Nazi Partisanen zuvor Gefangene in den Ghettos waren, die von den deutschen Besatzern und ihren litauischen Kollaborateuren eingerichtet wurden; sie kämpften bewaffnet gegen die nationalsozialistische Herrschaft in autonomen jüdischen Gruppen oder sowjetischen Partisaneneinheiten und trugen damit zum Sieg der alliierten Streitkräfte gegen Nazi-Deutschland bei.

Aktuell wird in den Massenmedien bewusst das negative Image jüdischer Partisanen konstruiert. Medien und Justiz bedienen sich dabei des gleichen Stereotyps, das in den Jahren der deutschen Besatzung der massenhaften Beteiligung von Litauern am Massenmord an der jüdischen Bevölkerung zugrunde lag: Juden werden mit Kommunismus, dem sowjetischen System und sowjetischen Partisanen identifiziert. Demgegenüber wird gegen die litauischen Kollaborateure der deutschen Besatzer, die für die Ermordung von 220.000 Juden in den Jahren 1941 bis 1944 mitverantwortlich sind, nicht ermittelt. In den 18 Jahren der Unabhängigkeit Litauens ist kein einziger Nazi-Kollaborateur belangt worden.

Die litauische Staatsanwaltschaft steht offenbar unter politischem Druck. So wurde Fania Brantsovsky aufgrund der Anfrage eines Abgeordneten der Vaterlands-Partei zur Ermittlungsbehörde vorgeladen.
Die Tatsache, dass die vom Präsidenten der Republik Litauen gegründete „Internationale Kommission zur Ermittlung von Verbrechen des nationalsozialistischen und des sowjetischen Okkupationsregimes in Litauen” ihr eigenes Mitglied Yitzhak Arad und die anderen jüdischen Anti-Nazi-Partisanen nicht öffentlich verteidigte, ist äußerst befremdlich.

Offensichtlich wird derzeit in Litauen in einer antisemitischen Stimmungsmache die Geschichte des Holocaust umgeschrieben und die ehemals Verfolgten werden als Täter verdächtigt.
Wir fordern, die Verfolgung ehemaliger jüdischer Partisanen sofort einzustellen!

Die Europäische Kommission sollte ihren Entschluss, Vilnius, die Hauptstadt Litauens, zur Kulturhauptstadt 2009 zur erklären, überdenken. Einem Land, in dem antisemitische Stimmungsmache in Politik, Justiz und Medien derart breiten Raum einnehmen kann, steht eine solche Auszeichnung nicht zu.

Berlin, den 31. Juli 2008

Erstunterzeichnerinnen/-unterzeichner:
Gudrun Schroeter
Susanne Heim
Dagi Knellessen
Franziska Bruder




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