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"Einsatzgruppe Tilsit"

Vor 70 Jahren begann im litauischen Garsden das Massenmorden an Juden Europas

Von Kurt Pätzold *

Heute heißt die Kleinstadt im Süden Litauens Gargzdai. Einst und in der Zeit, von der hier die Rede sein wird, war ihr deutscher Name Garsden und der Ort, auf litauischem Boden nahe der Grenze zu Ostpreußen gelegen, von Deutschen und Litauern bewohnt. Der Ortsname wäre in normalen Zeiten nicht über die nähere Umgebung hinaus gedrungen. Hier hatte sich bis nahe der Mitte des 20. Jahrhunderts nichts Bemerkenswertes ereignet. Heute scheint Garsden in Geschichtsbüchern und Lexika auf, sofern die detailliert Auskunft über die Geschichte des Massenmordens an den europäischen Juden geben, namentlich über dessen Beginn. Denn der Ort besetzt in der Geschichte des als »Endlösung« getarnten Verbrechens einen markanten Platz, ähnlich dem tschechischen Lidice oder dem französische Oradour, die in anderer Weise für Untaten stehen, die während des Eroberungszuges verübt wurden, dessen Ziel eine weltbeherrschende Stellung des Deutschen Reiches war. Daß Garsden im Bewußtsein selbst Geschichtsinteressierter mit dem Bekanntheitsgrad des tschechischen und französischen Ortes nicht konkurrieren kann, liegt darin begründet, daß auf das Geschehen dort unmittelbar und dann für lange Monate Gleiches – zum Verwechseln Gleiches – folgte.

Am 24. Juni 1941, zwei Tage nach dem Beginn des Krieges gegen die Sowjetunion, geschah in Garsden dies: Ein Trupp uniformierter deutscher Männer aus dem nahen Memel, zusammengefaßt unter der Bezeichnung »Einsatzgruppe Tilsit« und bestehend aus Angehörigen des SD und der Gestapo in Tilsit und Polizisten aus Memel, schoß 201 zusammengetriebene Juden des Ortes nieder. Die Formation war erst tags zuvor gebildet und über ihre Aufgabe instruiert worden. Das ging auf einen Besuch des Leiters der Einsatzgruppe A, SS-Brigadeführer Franz Walter Stahlecker, zurück, der seiner Einheit vorausgereist war und von den SD- und Gestapoleuten in Tilsit verlangt hatte, das Judenmorden im grenznahen Raum zu übernehmen, damit seine ihm folgende Gruppe der Wehrmacht enger auf den Fersen bleiben konnte. So geschah es in den Wochen bis in den September 1941 auch. 5500 Juden, Männer, Frauen und Kinder, wurden Opfer dieser ad hoc gebildeten Mörderschwadron.

Daß nicht alle Täter dem Richter und einer Bestrafung entkamen, ist das Verdienst einer Gruppe von nicht mehr als vier Juristen der Bundesrepublik. Sie bewirkten gegen passiven Widerstand, daß am 28. April 1958 vor einem Schwurgericht in Ulm zehn Angehörige dieser Einsatzgruppe angeklagt wurden, an ihrer Spitze der Polizeichef von Memel, ein SS-Oberführer. Im Verlauf des Prozesses, der am 29. August 1958 mit den Urteilen endete, wurden die Ereignisse in Garsden und in den anderen Orten, in denen die Männer gewütet hatten, durch deren Aussagen wie durch Berichte von 184 Zeugen rekonstruiert. Die Urteile lauteten auf Gefängnisstrafen zwischen drei und 15 Jahren. Anträgen der Staatsanwaltschaft, die in einigen Fällen auf lebenslange Haft lauteten, wurde nicht gefolgt. Im Widerspruch zum Sachverhalt, aber im Einklang mit den Möglichkeiten, welche die bundesrepublikanische Rechtsprechung bot, erfolgte der Strafausspruch durchweg wegen »Beihilfe zum gemeinschaftlichen Mord«. Aus dieser Kategorie der »Beihelfer« fielen nur wenige heraus wie die toten Hitler, Himmler und Heydrich. Stahlecker war bei einem Kampf mit Partisanen 1943 ums Leben gekommen.

Das Morden, das in Garsden begann und das Männer der Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei, weiterer Polizeitruppen, von Einheiten der Wehrmacht, unter Beteiligung des Besatzungspersonals aus Nazifunktionären und von formierten Kollaborateuren im okkupierten Land verübten, gehört siebzig Jahre später zu den am intensivsten erforschten Geschehnissen des Zweiten Weltkrieges. Entstanden ist so eine, wenn auch noch nicht vollständige, Topographie des »Holocaust« im besetzten sowjetischen und polnischen Gebiet. Gedenkorte sind entstanden. Vielerorts wurden die regionalen Geschehnisse exakt ermittelt und dargestellt. Eine dem Geschehen angemessene warnende Erinnerung aber wird erst gewonnen sein, wenn in Schulgeschichtsbüchern europäischer Staaten den Heranwachsenden ein Bild von den Zeiten ihrer Großeltern und Urgroßeltern gegeben wird, das den Blick nicht nur auf Auschwitz und Buchenwald lenkt, sondern auf das, was sich in der eigenen Region zutrug. Davon sind wir vielerorts noch weit entfernt und in manchen Staaten Ost- und Südosteuropas weiter, als je befürchtet wurde.

Und dann ist das Massenmorden an den Juden Europas in Beziehung zu den Verbrechen zu setzen, die an Kriegsgefangenen, der nichtjüdischen Bevölkerung in den besetzten Staaten und Gebieten, den verschleppten Zwangsarbeitern begangen wurden.

Weder in der Geschichtsforschung noch bei der angemessenen Gestaltung der öffentlichen Räume sind wir an einem Ende. Und die Zahl der Ahnungslosen unter den Nachgeborenen wächst auch in Deutschland. Neuere Umfrageergebnisse weisen aus, wie viele Deutsche mit dem Datum 8. Mai 1945 ein Ereignis verbinden. Dabei geht es nicht und nicht einmal in erster Linie um das »Merken« von Geschichtsdaten.

Die Untat von Garsden am 24. Junibezeugt die Kürze des Weges, auf dem Menschen zu Exekutoren eines Staatsverbrechens werden können. Die Wissenschaft hat sich seit Jahrzehnten schon von der vereinfachenden und bequemen Vorstellung verabschiedet, es sei einzig eine Schar ideologisch hochgeschulter, aufgeputschter Rassisten, haßerfüllter Antisemiten und Antibolschewisten gewesen, die ebenso fanatisch wie kaltherzig hauste. Die ersten, die dieses Bild zerstörten, ohne daß dem weitere Beachtung geschenkt wurde, waren Juristen. Ihr Vis-à-vis auf der Anklagebank deckte sich mit diesem Bild nicht. Dann wurde das Buch von Christopher Browning, einem erstrangigen Spezialisten der »Holocaust«-Forschung in den USA, veröffentlicht und ins Deutsche übersetzt, das den Titel trug »Ganz normale Männer«. Browning hatte sich auf die Aktenspur des Reserve-Polizei-Bataillons 101 gesetzt und war dessen Rolle beim Judenmorden nachgegangen, mit dem Ergebnis: Wie im Falle von Garsden und im Verfahren in Ulm nachgewiesen, stimmte das vereinfachte, gleichsam geradlinige Täterbild nicht. Jene, die schuld- und wehrlose Männer, Frauen und Kinder erschossen, waren nicht durchweg ideologisierte Faschisten. Diese fanden sich vor allem unter Befehlshabern und Kommandeuren, und manche hatten sich im Reich schon vor dem 1. September 1939 bei der Verfolgung politischer Gegner und von Juden kriminell hervorgetan. Doch genügten zum Mitmachen Befehlsgehorsam, Gleichgültigkeit gegenüber dem Leben oder Sterben der »anderen«, die Beruhigung, so sich da noch etwas regte, des eigenen Gewissens mit dem Argument, für das Tun selbst keine Verantwortung zu tragen, das Gedecktsein durch gemeinschaftliches Handeln und auch die Furcht, in eine Außenseiterrolle zu geraten. Dann konnten die Gewöhnung an das Töten folgen und die Stumpfheit und Dumpfheit des Weitermachens eintreten.

Mündet dieses Wissen jedoch einzig in die Klage »Wessen der Mensch doch fähig ist«, dann wurde wenig gewonnen. Anders hingegen, wenn gefragt wird, welche gesellschaftlichen und staatlichen Zustände Plätze für Mörder entstehen lassen, so daß ein abgestufter Bedarf an Mordgesellen entsteht, von Adolf Eichmann bis zu jenen in ihrer Mehrheit unerkannt und unbekannt gebliebenen Schützen an den Gruben, die zu Massengräbern wurden.

Quelle: Aus dem Urteil des LG Ulm vom 29. August 1958 (Ks 2/57)

Bei den Gefangenen handelte es sich mit Ausnahme von wenigen litauischen Kommunisten nur um Juden, vom Jugendlichen bis zum Greis. Hierunter befand sich auch der schon erwähnte alte Rabbiner mit Bart und Kaftan. Die Juden waren für jeden der Beteiligten (...) an ihren typisch rassischen Merkmalen, einige an ihren Bärten und an ihrer besonderen Kopfbedeckung, die sie trugen, der Rabbiner an seinem Kaftan und an seinem Bart, ganz klar als Juden zu erkennen (...) Die Juden verhielten sich auffallend ruhig. Sie weinten und jammerten zum Teil zwar vor sich hin, einige von ihnen, darunter auch ein etwa 12 Jahre alter Junge, flehten, ihre Unschuld beteuernd, um Gnade. Von irgendwelchem Widerstand, Aufruhr usw. war nicht die Rede. (...) Immer, wenn eine Gruppe erschossen war, wurde die nächste herangeführt. Diese mußte dann die bereits Erschossenen, soweit sie nicht in den Graben gefallen waren, in diesen hineinwerfen, wodurch sie das ganze schaurige Bild mit ansehen mußten. Durch das viele Blut sah es nämlich am Graben wie in einem Schlachthaus aus (...).

Nach Beendigung der Erschießung wurden die Angehörigen des Schupo-Kommandos von Stapo-Angehörigen mit Schnaps bewirtet.



* Aus: junge Welt, 25. Juni 2011


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