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In Libyen regieren viele – zu viele

Zwei Parlamente, zwei Regierungen und eine Rote Karte für den sudanischen Militärattaché

Von Mirco Keilberth, Tripolis *

Libyen befindet sich inmitten blutiger Kämpfe rivalisierender Milizen. Fast drei Jahre nach Sturz und Ermordung von Staatschef Muammar al-Gaddafi ist das Land zerrissener denn je.

In Libyen beanspruchen zwei Parlamente und Regierungen die Macht. Nach dem Ende der fünfwöchigen Schlacht um die Kontrolle von Tripolis hatte die siegreiche Fardsch-Allianz das abgelaufene Mandat des Übergangsparlaments wiederbelebt.

Der Vizepräsident des Nationalkongresses Salah Makhzoum schwor am Samstag eine neue Regierung unter dem Universitätsprofessor Omar al-Hassi ein. International anerkannt und offiziell im Amt sind jedoch das Mitte Juni landesweit gewählte Repräsentantenhaus und die Regierung von Premierminister Abdullah al-Thinni.

Die mehrheitlich moderaten Abgeordneten und Minister haben sich in Tubruk an der Grenze zu Ägypten vor dem Zugriff der Milizen in Sicherheit gebracht. Immer wieder waren dem 2012 gewählten Nationalkongress Beschlüsse mit Waffengewalt aufgezwungen worden.

Tubruk wird von dem Antiislamisten General Chalifa Haftar und der offiziellen libyschen Armee kontrolliert. Haftar attackiert im Rahmen seiner Militäraktion »Karama« (Würde), extremistische Milizen wie Ansar Scharia, die sich ebenso wie die Milizen aus Misratah der libyschen Armee nicht unterordnen wollen.

»Ohne Kompromiss wird Libyen in die drei historischen Regionen, Fezzan, Cyrenaika und Tripolitanien zerfallen«, vermutet der Politologe Abugassem Maschai.

Die meisten Stämme und Städte in der ölreichen Cyrenaika unterstützen Premier Thinni und die Abgeordneten des Repräsentantenhauses. Die Mehrheit der Lokalräte in Tripolitanien hat sich auf die Seite von Fardsch (Morgendämmerung) und Misratah geschlagen. »Der Angriff derr Misratah-Miliz auf den internationalen Flughafen von Tripolis war ein terroristischer Akt. Nur wir haben die Legitimität des Volkes, Libyen zu regieren«, so der verzweifelte Thinni im Sender Wataniya, der nun auch aus Tubruk sendet.

Die ins benachbarte Tunesien geflohenen internationalen Diplomaten und Aktivisten warten gespannt auf die nächsten Schritte des von Islamisten dominierten Gegenkongresses in Tripolis, dessen Mandat im Frühjahr offiziell abgelaufen war. Die Nationalbank und die Nationale Ölgesellschaft sind bereits von Milizionären umstellt, werden aber aus dem 1300 Kilometer entfernten Tobruk geführt.

Der EU-Sondergesandte für Libyen, der Brite Jonathan Powell, versuchte vergangene Woche, zwischen den beiden Seiten zu vermitteln, vorerst ohne Erfolg. Eine Kommission der Vereinten Nationen erarbeitet derweil eine Liste von Milizenkommandeuren, die aufgrund des Beschusses der Zivilbevölkerung mit Sanktionen belegt werden könnten.

»Es mag ja sein, dass EU und UN Abdullah al-Thinni und das Repräsentantenhaus in Tubruk unterstützen. Thinni kontrolliert die Zentralbank und die Ölfelder, jedoch nicht die Ministerien in der Hauptstadt und weite Teile des Westens, wo der Großteil der Libyer lebt«, klagt der einstige Anti-Gaddafi-Kämpfer Mazigh Buzakhar, der noch in Tripolis ausharrt. Eine Rückkehr der Diplomaten und Ölfirmen nach Tripolis scheint ohne Verhandlungen mit den Misrata-Milizen und anderen Islamisten unmöglich, würde jedoch die gewählten Abgeordneten bloßstellen.

Die NATO forderte auf ihrem Gipfel in Großbritannien alle Seiten zur Mäßigung auf, setzt jedoch im Rahmen ihrer »Mittelmeerinitiative« ausschließlich auf Dialog der Gegner. »Ohne internationale Hilfe wird Libyen weiter im Bürgerkrieg versinken«, so Buzakhar, der für diesen Fall eine Autonomie der Berbergebiete in Fezzan prophezeit.

Hilfe von Außen kommt, allerdings in Form von Waffen. Eine an die Öffentlichkeit gelangte Mail mit einer Liste von dringend nötigem Waffennachschub scheint Militärhilfe der ägyptischen Armee an General Haftar zu beweisen.

Die Islamisten in Tripolitanien werden hingegen von Katar und Sudan beliefert. Nachdem Transportmaschinen Munition aus der sudanesischen Hauptstadt Khartum nach Al-Kufra und Tripolis gebracht hatten, forderte Premier Thinni den sudanischen Militärattaché auf, das Land zu verlassen.

Die lachenden Dritten des anhaltenden Machtvakuums sind dschihadistische Milizen in Darnah und Sirte. Mit Kämpfern des »Islamischen Staates« (IS) in Syrien haben sie sich bereits solidarisch erklärt. Im Falle eines Bürgerkrieg wird IS auch in Libyen versuchen, Fuß zu fassen,« sagt der marokkanische Publizist Mohamed Chtatou voraus.

General Haftar bekräftigte am Sonntag, keinen Dialog mit Extremisten führen zu wollen. Er kündigt für kommende Woche eine Großoffensive auf Tripolis an. Westlich der Hauptstadt kam es bereits zu Artillerieduellen. Offenbar ist momentan jedoch keine Seite stark genug, um die Oberhand zu gewinnen.

Der Führer einer der wichtigsten Islamistenmilizen in Bengasi, Ziyad Balam, überlebte am Montag schwer verletzt ein Attentat. Zusammen mit anderen Gruppen bildet Balams Omar-Muchtar-Brigade die Ansar- Scharia-Allianz, die das westliche Demokratiemodell ablehnt.

Ob das Repräsentantenhaus wie ursprünglich festgelegt nach Bengasi umzieht und sich auf einen Kompromiss mit Fardsch einigt, hänge von den militärischen Erfolgen General Haftars ab, so Parlamentssprecher Mohamed Schuhaib. »Wir benötigen zudem Unterstützung bei dem Aufbau von Institutionen«.

Die letzten im Land tätigen ausländischen Firmen sehen nur geringe Chancen für einen Kompromiss. 1000 vietnamesische Arbeiter überquerten vorige Woche die tunesische Grenze. Das vietnamesische Arbeitsministerium will die letzten in Misratah verbliebenen Arbeiter außer Landes bringen. In der Industriestadt fehlt mittlerweile qualifiziertes Personal.

Wie die Berber in den Nafusa-Bergen im äußersten Nordwesten haben viele Bevölkerungsgruppen inzwischen genug vom dauernden Machtgerangel. Ohne Kompromiss könnte es bald weit mehr als zwei Regierungen und Parlamente geben, befürchtet Aktivist Buzakhar.

* Aus: neues deutschland, Dienstag 9. September 2014


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