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"Konsequenz der westlichen Politik in Libyen"

Terrorismus wird angeheizt durch das Ziel, neoliberale Politik voranzubringen. Ein Gespräch mit Samir Amin


Samir Amin (geb. 1931) ist ein ägyptischer Ökonom und seit langem einer der profiliertesten Kritiker des Neokolonialismus. Er leitet das Third World Forum in der senegalesischen Hauptstadt Dakar

Warum haben die Terroristen so hart im Herzen Europas zugeschlagen?

Das ist eine direkte Konsequenz der westlichen Politik in Libyen. Insbesondere der Süden des Landes ist zu einer gigantischen Versorgungsbasis geworden. Jene Region besaß für Frankreich strategische Bedeutung. Ohne sie hätte die französische Armee nicht in der Sahelzone intervenieren können. Ich glaube auch, dass der Zeitpunkt der Anschläge im Zusammenhang mit dem Vormarsch der französischen Streitkräfte in den vergangenen Tagen vom Tschad aus steht. Die Dschihadisten wollten unterstreichen, dass der Süden Libyens ihre Basis und ein Niemandsland bleiben muss.

Ist es vielleicht an der Zeit, die westliche Politik im Mittleren Osten zu hinterfragen?

Es handelt sich um einen widerlichen Terrorakt mutmaßlicher Islamisten, die über ein sehr beschränktes Verständnis des Islam und der Religion verfügen. Aber die Verantwortung für diese Attentate liegt bei Frankreich und den USA. Die westlichen Mächte unterstützen weiterhin Saudi-Arabien, Katar und die Golfstaaten. Sie erlauben diesen Ländern, die dem Terrorismus eine enorme Hilfe gewähren, einfach alles. Die westlichen Mächte betrachten das Bündnis mit den Golfstaaten als ein Fundament der neoliberalen Politik. Der zweite westliche Fehler ist, dass sie die Autokraten bekämpft haben, die den politischen Islam zu bremsen versuchten, von Saddam Hussein bis Muammar Al-Ghaddafi. Saddam Hussein zum Beispiel, der es im Irak verstand, die friedliche Koexistenz von Sunniten und Schiiten sicherzustellen, wurde auf brutale Weise gestürzt. Und Ghaddafi hatte das Abdriften seines Landes in den Islamismus sehr deutlich eingedämmt.

Trägt Frankreich eine besondere Verantwortung?

Ja, indem es die Islamisten in Algerien (in den 90er Jahren; jW) unterstützt und sie als Opfer der Militärdiktatur hingestellt hat. Ein Teil dieser Islamisten ist nach Saudi-Arabien, aber auch nach Europa geflohen. In Großbritannien leben noch mehr von ihnen als in Frankreich.

Warum heizt der Westen den internationalen Terrorismus weiter an?

Das einzige Ziel ist es, neoliberale Politik weiter voranzubringen. Deshalb gibt es für sie eine Zweiteilung der Welt: Die Länder, die den Neoliberalismus uneingeschränkt unterstützen, sind die einzigen Freunde des Westens, auch wenn es sich dabei um abscheuliche Islamisten handelt. Die widerspenstigen Staaten hingegen sind Feinde der Diktatur des internationalen Kapitals. Mit anderen Worten, die westlichen Mächte haben nur ein einziges Kriterium: den absoluten Freihandel. Wer dafür grünes Licht gibt, dem verzeihen sie alles. Die Frage der Demokratie spielt keine Rolle.

Einige Attentäter sollen Beziehungen zu Al-Qaida im Jemen gehabt haben...

Das erstaunt mich nicht. Im Jemen wurden die Islamisten jahrelang von den USA, zusammen mit Saudi-Arabien, als antikommunistische Kraft unterstützt. In dem Fall bekämpfte man die nationalpopuläre »Gefahr« des ehemaligen Südjemen.

Wie erklären Sie sich das Phänomen der Dschihadisten mit europäischem Pass?

Die westlichen Mächte haben toleriert, dass europäische Bürger nach Syrien reisten, um Baschar Al-Assad zu bekämpfen. Dieser Mechanismus wurde von der Türkei und den westlichen Regierungen unterstützt. Man muss allerdings aufpassen, nicht in die Falle der Islamophobie zu tappen. Die in Frankreich lebenden Einwanderer, ob sie nun gläubig sind oder nicht, sind in ihrer überwältigenden Mehrheit keineswegs Fanatiker des reaktionären Islam. Dagegen sollte man die Tatsache nicht unterschätzen, dass viele Konvertiten und Atheisten in diesen radikalen Bewegungen aktiv sind.

Warum wurde gerade die Presse als Anschlagsziel gewählt?

Die Attentäter haben sich für ein »intelligentes« Ziel entschieden. Zweck war es, Schrecken in den Medien zu verbreiten. Letzten Endes ging es darum, den Westen dazu zu zwingen, auf die Weltlichkeit und die Meinungsfreiheit zu verzichten.

Dieses Interview erschien zuerst in der linken italienischen Tageszeitung Il Manifesto vom 9. Januar 2015.
Übersetzung: Andreas Schuchardt


* Aus: junge Welt, Freitag, 16. Januar 2015


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