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Ausgeblendete zivile Kriegsopfer? – Libyen-Einsatz der NATO auf dem Prüfstand

Ein Beitrag von Christoph Prößl aus der NDR-Sendereihe "Streitkräfte und Strategien" *


Andreas Flocken (Moderation):
In der kommenden Woche tagen in Brüssel die NATO-Verteidigungsminister. Der Libyenkrieg wird diesmal zwar nicht auf der Tagesordnung stehen. Allerdings haben die NATO-Kommandostellen den Auftrag, die Militäroperation auszuwerten. Bei diesem sogenannten Lessons-Learned-Prozess wird man vermutlich feststellen, dass der Luftkrieg keineswegs so mustergültig verlief, wie kürzlich vom NATO-Generalsekretär dargestellt. Das gilt insbesondere für die Frage der zivilen Opfer. Christoph Prößl weiß mehr:


Manuskript Christoph Prößl

Als Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen am 5. Oktober vergangenen Jahres vor die Presse trat, hatten ihm die Verteidigungsminister gerade den Rücken gestärkt. Die Allianz war zu dem Schluss gekommen, dass die Operation Unified Protector ein Erfolg war:

O-Ton Rasmussen
„Today, ministers agreed that the operation has been a great success.”

Bereits einige Tage später wurde Gaddafi aufgespürt und Rasmussen verkündete das Ende der Operation. Unterm Strich – so der Eindruck in der Allianz, lief alles gut. Keine Verluste in den eigenen Reihen. Die Resolution der Vereinten Nationen durchgesetzt – so die Lesart der Allianz. Kritisch äußerten sich die Amerikaner, die europäischen Partner hätten den Einsatz technisch alleine nicht bewerkstelligen können. Dabei hatten sich die USA raushalten wollen. Für die Amerikaner der Beweis, dass die Europäer mehr Geld für die Sicherheit ausgeben müssen. Und vor allem ein Punkt ist der NATO besonders wichtig: Es hat kaum Berichte über zivile Opfer gegeben. Aus vergangenen Missionen hatte die NATO gelernt, dass der Einsatz nicht nur im Operationsgebiet entschieden wird, sondern auch in den Medien. Von Anfang an wollte die Allianz die Zahl der zivilen Opfer so gering wie möglich halten. Russell Harding, stellvertretender Befehlshaber der Operation Unified Protector:

O-Ton Harding
„If you are there for a civilian protect mission you have to take the utmost care that while you are trying to protect civilians you are not killing civilians.”

Die NATO sei angetreten mit der Aufgabe, Zivilisten zu schützen. Da dürfe man keine Zivilisten töten. Dieser hohe Anspruch war die Leitlinie für den Einsatz der Allianz. Doch ganz konnte das Bündnis den eigenen Anspruch nicht erfüllen. Mehrere Nicht-Regierungs-Organisationen sammelten Zwischenfälle und recherchierten, um genaue Opferzahlen nennen zu können. Peter Bouckaert von der Menschenrechts-Organisation Human Rights Watch:

O-Ton Bouckaert (overvoice)
„Wir sind durch das Land gereist und haben die meisten Orte besucht, wo es zivile Opfer gegeben haben soll. Wir haben den Eindruck, dass bei es bei Angriffen der NATO 50 bis 100 zivile Opfer gegeben hat.“

Zu ähnlichen Zahlen kamen Reporter der NEW YORK TIMES. Die Zeitung hat in einem umfassenden Beitrag zahlreiche Angriffe dokumentiert, bei denen Zivilisten ums Leben gekommen sind. Außerdem recherchierten die Journalisten vor Ort und befragten Zeugen. Ihr Ergebnis: mindestens 40 Zivilisten seien getötet worden, davon waren mehr als 28 Frauen und Kinder. Auch wenn die Zahlen im Verhältnis zu früheren Einsätzen gering sind: Einen sauberen Krieg ohne unschuldige Opfer hat es auch in Libyen nicht gegeben. Peter Bouckaert von Human Rights Watch:

O-Ton Bouckaert (overvoice)
„Das Problem sind ja nicht die hohen Verluste durch die NATO-Schläge in Libyen. Was wir und andere Organisationen herausgefunden haben ist, dass die Zahl der zivilen Opfer auffällig niedrig war – verglichen mit der Intervention im Kosovo 1998 ebenso wie in Afghanistan oder im Irak. Was wir problematisch finden ist, dass die NATO so getan hat, als hätte es überhaupt keine zivilen Opfer gegeben. Aber es gab einige Angriffe, bei denen es zivile Opfer gegeben hat und das sollte durch die NATO untersucht werden.“

Doch offizielle Untersuchungen wird es nicht geben. Das bestätigte ein NATO-Sprecher auf Anfrage von NDR Info. Das Bündnis argumentiert: Da es keine NATO-Kräfte am Boden gibt, könnten auch keine Untersuchungen angestellt werden. Dazu kommt: Das Interesse der Libyer, Angriffe aufzuklären, bei denen es zivile Opfer gegeben hat, hält sich in Grenzen. Peter Bouckaert von Human Rights Watch argumentiert: Die Libyer fühlten Dankbarkeit gegenüber der NATO – deswegen erhebe niemand derartige Forderungen.

Mit der Aufklärung der Zwischenfälle ist aber noch eine ganz andere Stelle befasst: Die Vereinten Nationen. Eine eigens einberufene Kommission soll alle Verletzungen der Menschenrechte in Libyen untersuchen. Gaddafis Gräueltaten, aber auch mögliche Vergehen durch die NATO. Aus diesem Grund hat die Kommission eine umfassende Anfrage an das Bündnis gerichtet. Die Allianz antwortete in der vergangenen Woche auf neun Seiten. Übermittelt wurden Informationen über die jeweiligen Angriffe, das Lagebild und weitere Fakten. Im kommenden Monat möchte die UN-Kommission zur Ermittlung von Menschenrechtsverstößen in Libyen ihren Bericht veröffentlichen. Peter Bouckaert von Human Rights Watch weiß aber schon jetzt:

O-Ton Bouckaert (overvoice)
„In den Kriegen im Irak oder in Serbien und dem Kosovo sind viele Hundert Menschen bei den Luftschlägen ums Leben gekommen. Die Fehler, die die NATO-Teams damals gemacht haben, waren viel größer. Oft hat sich die NATO damals auf altes Aufklärungsmaterial gestützt. Zum Beispiel wurde ein Haus identifiziert, in dem eine hochrangige Person wohnt, dieses Haus wurde Stunden später angegriffen, als die Person längst nicht mehr dort war. Also in diesen beiden Einsätzen haben wir Zwischenfälle gesehen, bei denen bei einem einzigen Angriff mehrere Dutzend Menschen getötet wurden. Diese Interventionen waren viel blutiger.“

Genaue Details, wie die NATO die Ziele auswählt und entscheidet, wann ein Angriff erfolgt, teilt das Bündnis nicht mit. Zu den Grundsätzen gehört beispielsweise die Vorgabe, keine Infrastruktur anzugreifen. Aus einem einfachen Grund, sagt Russell Harding, stellvertretender Befehlshaber der Operation Unified Protector. Dadurch hätten materielle Schäden entstehen können, die dann später wieder behoben werden müssten. Mutmaßlich durch Hilfszahlungen oder aus dem klammen Haushalt einer neuen libyschen Regierung. In diplomatischen Kreisen hieß es, die NATO habe Ziele wie Wasserwerke, Straßen oder Elektrizitätswerke auch deswegen gemieden, um der Bevölkerung keinen Schaden zuzufügen. NATO-General Russell Harding:

O-Ton Harding (overvoice)
„Wir haben immer auf die Vorschläge für die Ziele geschaut, die Bedeutung des Ziels, ob es mit unseren Grundsätzen übereinstimmt. So ein Vorgang bekommt die höchste Aufmerksamkeit, wie Sie sich vorstellen können.“

Grünes Licht für einen Beschuss sei immer nur von höchster Stelle gekommen, sagt Harding. Entweder vom Befehlshaber, Charles Bouchard, oder ihm selbst.

Für die vergleichsweise geringe Zahl von zivilen Opfern könnte es auch eine technische Ursache geben. Die NATO konnte sich offenbar auf deutlich mehr Aufklärungsdaten stützen als bei früheren Missionen. Dazu beigetragen haben zahlreichen Drohnen – auch das unbemannte US-Aufklärungsflugzeug Predator. Und: die NATO hatte die Bevölkerung über Radio-Sendungen und Flugblätter aufgefordert, sich von militärischen Einrichtungen fern zu halten.

Doch trotz aller Vorsicht: Es hat zivile Opfer gegeben. Die NATO selbst ist jedoch mit der Bewertung zurückhaltend 7.000 Luftangriffe seien geflogen worden. Es habe auch Fälle gegeben, bei denen Gaddafi-treue Truppen Tote in die Häuser gebracht hätten, die die NATO zuvor angegriffen hatte. Details wollte ein Sprecher jedoch nicht nennen. Doch von Kriegsverbrechen - verübt durch die NATO – spricht keine Nicht-Regierungs-Organisation. Beispielsweise habe die NATO auch keine geächtete Munition verwendet, also etwa Streubomben. Gaddafi hingegen ließ solche Munition einsetzen.

Noch hat die Allianz keinen Strich unter die Operation Unified Protector gezogen. Für das Treffen der Verteidigungsminister der Allianz in der kommenden Woche möchte das NATO-Hauptquartier SHAPE im belgischen Mons einen umfassenden Bericht vorlegen. Dazu hat NATO-Oberbefehlshaber Admiral James Stavridis von den Nationen, die an dem Einsatz beteiligt waren, Stellungnahmen angefordert. Die Bilanz dürfte überwiegend positiv ausfallen. General Manfred Lange, Stabschef im NATO-Hauptquartier:

O-Ton Lange
„Libyen ist für mich keine Blaupause. Jeder Einsatz ist anders und der größte Fehler, den wir machen können, ist, dass wir unsere Strukturen und unsere Konzepte nach den Operationen von gestern orientieren. Aber ich denke schon, dass Libyen ein Modell ist. Es ist ein Modell, weil es gezeigt hat, dass wir in sehr kurzer Zeit eine Planung abschließen können. Es ist auch ein Modell, weil es gezeigt hat, dass das Bündnis in großer Geschwindigkeit rein aber eben auch raus gehen kann. Es ist ein Modell, weil es glücklicherweise und richtigerweise auf einer klaren Völkerrechtslegitimation beruhte. Insofern ist Libyen schon ein Modell.“

Ob die zivilen Opfer in dem Bericht für die Verteidigungsminister der NATO eine Rolle spielen, ist jedoch offen. Das Interesse der Allianz, Angriffe mit zivilen Opfern aufzuklären, hält sich in Grenzen.

* Aus: NDR Info Sendereihe "Streitkräfte und Strategien", 28. Januar 2012


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