Libyen: Mit Raketen auf die Residenz
NATO bestreitet Angriff
Innerhalb weniger Stunden hat Libyens Führung der NATO zum zweiten Mal die
Tötung von Zivilisten bei einem Luftangriff vorgeworfen. Bei einem Angriff auf ein Wohnhaus eines
Kampfgefährten von Staatschef Muammar el-Gaddafi in Sorman westlich von Tripolis seien am
Montag (20. JUni) 15 Menschen getötet worden, darunter drei Kinder, sagte ein Regierungssprecher am Montag.
Nach Angaben des libyschen Regierungssprechers Mussa Ibrahim griff die NATO gegen 4.00 Uhr
mit acht Raketen die Residenz von Chuildi Hemidi an, Mitglied des Kommandorats der Revolution
von 1969. Ibrahim sprach von einer »terroristischen und feigen Tat«, die »nicht zu rechtfertigen« sei.
Hemidi selbst ist nach libyschen Angaben nicht zu Schaden gekommen. Ein Korrespondent von AFP
berichtete vom Ort des Geschehens über mehrere zerstörte Gebäude.
NATO-Kreise wiesen die Anschuldigung scharf zurück. »Wir haben dort überhaupt nicht operiert«,
sagte ein Vertreter des Bündnisses in Brüssel, der nicht namentlich genannt werden wollte, AFP. Der einzige Angriff in der Nacht zum Montag (20. Juni) sei über Tripolis geflogen worden, allerdings nicht um
4.00 Uhr. Er habe eine Abschussrampe für Boden-Luft-Raketen zum Ziel gehabt.
Die NATO hatte am Sonntag (19. Juni) eingestehen müssen, dass bei einem ihrer Luftangriffe am Vortag in
Tripolis Zivilisten getötet worden waren. Bei einem Luftangriff am Samstag habe ein Geschoss
»nicht das geplante Ziel getroffen«, erklärte die NATO am Sonntagabend in Brüssel. Ein Fehler im
Waffensystem könne zum Tod mehrerer Zivilisten geführt haben. »Die NATO bedauert den Verlust
unschuldiger Menschenleben«, teilte der Oberbefehlshaber des Libyen-Einsatzes, General Charles
Bouchard, mit. Die NATO fliegt seit Mitte März Bombenangriffe.
Bei dem Bombardement waren nach libyschen Angaben neun Zivilisten ums Leben kamen, darunter
zwei Kinder. Die NATO hatte ihren Einsatz vor den Vereinten Nationen ausdrücklich mit dem Schutz
von Zivilisten begründet. Das Bündnis betonte in seiner Erklärung vom Sonntag, es habe bereits
1500 Einsätze in Libyen geflogen, die allesamt genauestens geplant seien, »um zivile Opfer zu
vermeiden«. Die Untersuchungen zu dem Vorfall in Tripolis liefen noch. Der Angriff galt der NATO
zufolge einem Raketenlager. Die libysche Regierung sprach dagegen von einem Angriff auf ein
Wohngebiet in Tripolis.
* Aus: Neues Deutschland, 21. Juni 2011
NATO gibt Luftangriff nun doch zu
Bei Attacke auf libyschen Ort Sorman sollen 15 Zivilisten gestorben sein **
Die NATO hat nun doch einen Luftangriff auf den libyschen Ort Sorman bestätigt, wo nach Angaben
der Regierung in Tripolis mehrere Zivilisten getötet wurden.
Der Angriff auf Sorman habe ein militärisches Ziel gehabt, erklärte
die Militärallianz in Brüssel. Die libysche Regierung hatte der NATO vorgeworfen, bei einem Angriff
auf ein Wohnhaus in dem 70 Kilometer westlich der Hauptstadt gelegenen Ort 15 Menschen getötet
zu haben, darunter drei Kinder. Ein NATO-Vertreter bestritt daraufhin zunächst, dass es überhaupt
einen Angriff in Sorman gegeben habe.
Nun erklärte die Allianz, NATO-Flugzeuge hätten einen Präzisionsangriff auf ein »ranghohes«
Kommando- und Kontrollzentrum in der Gegend von Sorman vorgenommen. Dieser Angriff werde
die kämpferischen Fähigkeiten der libyschen Regierungstruppen deutlich einschränken, sagte der
Kommandeur des NATO-Einsatzes in Libyen, General Charles Bouchard, der Mitteilung zufolge.
Die NATO hat jetzt erstmals seit Beginn des Libyenkriegs ein militärisches Fluggerät verloren. Eine
Aufklärungsdrohne verschwand nach Angaben eines NATO-Sprechers in Brüssel am
Dienstagmorgen (21. Juni) vom Radarschirm der Pakt-Befehlszentrale. Dies sei der erste Verlust von
Militärmaterial in Libyen überhaupt. Es habe sich um ein unbemanntes hubschrauberartiges
Flugzeug gehandelt. Unterdessen warnte die britische Luftwaffe vor Engpässen bei künftigen
Einsätzen, sollte sich der Libyen-Einsatz über den Sommer hinaus hinziehen.
Zusammen mit dem Engagement in Afghanistan binde Libyen »gewaltige« Mengen an Ausrüstung
und Personal, erklärte der Vizechef der Royal Air Force, Marschall Simon Bryant, laut der Zeitung
»Daily Telegraph« vom Dienstag (21. Juni) in einer Einschätzung für Parlamentsabgeordnete. Viele Bereiche
der Streitkräfte liefen »heiß«, weil zudem Sparauflagen der britischen Regierung die Truppe
belasteten. Die Fähigkeit, künftige Missionen zu erledigen, könne deshalb bei einem andauernden
Libyen-Einsatz untergraben werden, erklärte Bryant, der für Kampfeinsätze der Luftwaffe zuständig
ist.
** Aus: Neues Deutschland, 22. Juni 2011
Kollateralschäden
Von Olaf Standke ***
Zwei Mal innerhalb weniger Stunden von NATO-Bombern getötete libysche Zivilisten einräumen – das wollte das größte Militärbündnis der Welt dann doch nicht. Während man den Tod von wahrscheinlich neun Unschuldigen, darunter auch Kinder, am Sonntag noch bedauerte, wies man die neuen Vorwürfe gestern massiv zurück. Wieder soll bei nächtlichen Angriffen ein Wohnhaus in Tripolis getroffen worden sein. Es wäre ein weiterer schwerer politischer Schlag für den Nordatlantik-Pakt, dessen Einsatz von den Vereinten Nationen doch ausdrücklich zum Schutz von Zivilisten beschlossen worden ist.
Aber auch die Aufständischen sind vor solchem »Schutz« nicht sicher. So nahmen am Wochenende NATO-Kampfjets mehrere Militärfahrzeuge der Gaddafi-Gegner in der Nähe der Stadt Brega ins Visier, weil man sie als Gefahr für die Bevölkerung einstufte. Nicht zum ersten Mal wurden versehentlich Rebellen beschossen.
Man kennt das Muster aus früheren Kriegen des westlichen Bündnisses. Die Militärs haben dafür extra einen verharmlosenden Euphemismus erfunden: Kollateralschäden. Und man weiß, dass die erschreckend zunehmen, je länger die Angriffe andauern. Über 1500 haben die NATO-Staaten bisher seit März in Libyen geflogen, und eine Befriedung ist nicht abzusehen. Im Gegenteil. Selbst die Aufständischen murren immer lauter, diese Luftschläge hätten ihnen keinen entscheidenden Vorteil bei den Kämpfen gegen das Gaddafi-Regime gebracht. Auch Libyen zeigt auf fatale Weise, dass durch Krieg kein wirksamer Frieden für eine Gesellschaft zu erreichen ist.
*** Aus: Neues Deutschland, 21. Juni 2011 (Kommentar)
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