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Wahlen im Milizenstaat

Libyer sollen erstmals an die Urne treten *

Gaddafi ist tot, sein Staatsmodell abgeschafft und der traditionelle Islam wieder auf dem Vormarsch. Nicht nur auf der Straße geben schwer bewaffnete Milizen den Ton an. In diesem Klima wird morgen in Libyen gewählt.

In Libyen herrscht der Ausnahmezustand. Die Übergangsregierung hat ihn am Dienstag verhängt, um einen reibungslosen Ablauf der am Sonnabend stattfindenden Wahlen zu sichern. Vorfälle wie letzte Woche, als Hunderte Demonstranten das Gebäude der Wahlkommission in Bengasi stürmten und Stimmzettel verbrannten, sollen vermieden werden. Für Libyen ist es ein historischer Tag. Zum ersten Mal erlebt das Land freie Wahlen. In den 42 Jahren der Regierungszeit Muammar al-Gaddafis, der als junger Offizier (27) in einem unblutigen Putsch 1969 die Macht übernahm, gehörten weder Parteien noch Wahlen zum Staatsmodell.

Rund 2,7 Millionen Menschen, etwa 80 Prozent aller potenziell Wahlberechtigten, haben sich in den Wählerlisten registrieren lassen. Über 3700 Kandidaten bewerben sich um die 200 Abgeordnetensitze des Allgemeinen Nationalen Kongresses (GNC), der eine neue Verfassung erarbeiten und eine Übergangsregierung benennen soll. 120 Mandate sollen an Einzelkandidaten und 80 an Vertreter von Parteien und anderen politischen Organisationen gehen.

In Bengasi, dem Zentrum Ostlibyens, erzeugte jedoch die territoriale Sitzverteilung im GNC so großen Unmut, dass es vergangene Woche zum Sturm auf das Gebäude der Wahlkommission kam. 100 Sitze des GNC sind für Vertreter aus Tripolis und Westlibyen vorbehalten, 40 für den Süden, und 60 gehen an den Osten. »Wir werden wieder einmal benachteiligt«, gab einer der Demonstranten in Bengasi als Grund für die Verbrennung der Wahlzettel an.

Dabei geht es um alte, tief sitzende Ressentiments. In der Gaddafi-Ära waren Bengasi und der gesamte Osten vernachlässigt worden. Krankenhäuser, Schulen und Straßen waren dort generell in schlechterem Zustand. Nun fürchtet man in Bengasi erneut eine Dominanz der Tripolitanier. Obwohl doch im Osten die entscheidenden Ölvorkommen liegen, jene Einnahmequelle, die den Reichtum des Landes ausmacht.

Die EU entsendet Wahlbeobachter. Das sind sonst Hunderte Personen, damit realitätsnah eingeschätzt werden kann, wie demokratisch und fair in einem Land ein Urnengang ist. Aber, so hieß es, die Sicherheitslage in Libyen lasse eine große Mission mit Lang- und Kurzzeitexperten nicht zu. Die »kleine Mission« ist letztendlich wohl ohne Nutzen, aber Libyen wird damit offiziell aufgewertet. Dabei sollte die Wahl sehr kritisch gesehen werden, denn Gaddafi-Anhänger und alle, die man dafür hält, sind von den Wahlen ausgeschlossen. Auch die meisten der 30 000 Bewohner der Stadt Tahwergha, die von den Rebellen vertrieben wurden, konnten sich als Wähler nicht registrieren.

Auch die Einwohner anderer Städte, denen man eine Unterstützung Gaddafis nachsagte und die von den Rebellen dafür geplündert und zu unbewohnten Geisterstädten gemacht wurden, sind damit von der Wahl ausgeschlossen. Noch immer haben in Libyen Milizen das Sagen. Sie wollen auch bestimmen, welcher Kandidat und welche Partei gewählt wird.

In Kufra, einer im Süden gelegenen Wüstenstadt, boykottiert der Stamm der Tabu die Wahlen. Das versicherte sein Führer Issa Abdel Majid. »Wir werden nicht wählen, solange die Regierung ihre Panzer und Scharfschützen nicht aus unserer Stadt abzieht.« In Kufra hatte es in den letzten Monaten Kämpfe zwischen Tabu und dem rivalisierenden arabischen Stamm der Zwia gegeben. Dutzende Menschen waren dabei ums Leben gekommen.

Nicht anders ist es in den im Westen Libyens gelegenen Nafusa-Bergen, die zum überwiegenden Teil von Amazigh (Berbern) bewohnt werden. Kandidaten mit arabischem Ursprung haben dort keine Chance. Sie müssten sogar um ihr Leben fürchten. Wiederholt gab es schwere Gefechte zwischen Amazigh- und arabischen Milizen, zuletzt im März. Wer heute das Territorium einer feindlichen Miliz betritt, kann von Glück reden, wenn er nur verhaftet wird. In der Regel schießt man sofort auf ihn.

Wie wenig man gemeinhin von westlicher Demokratie in Libyen hält, zeigt auch das Verhalten gegenüber den Anwälten, die der Haager Internationale Strafgerichtshof nach Zintan schickte, um den inhaftierten Gaddafi-Sohn Seif al-Islam zu besuchen. Das Anwaltsteam wurde unter dem Vorwurf der Spionage verhaftet und erst nach einem Monat zu Wochenbeginn freigelassen.

* Aus: neues deutschland, Freitag, 6. Juli 2012

Ban Ki-moon gratuliert Libyen zur "ersten freien Wahl seit Jahrzehnten"

Secretary-General salutes Libyans ahead of first free elections in decades **

5 July 2012 – Ahead of Libya’s first free elections in decades this weekend, Secretary-General Ban Ki-moon today saluted its people, and reaffirmed the support of the United Nations as the North African country progresses along the “road to democracy.”

“On Saturday, you will exercise a right that you have been denied for more than four decades, the right to vote, the right to elect a new National Congress – this is a milestone in Libya’s long march toward democracy,” Mr. Ban said in a video message.

“The United Nations is proud to have assisted in the birth of an independent Libya. We will stand by you as you build a fully free and democratic state,” he added.

Some 2.7 million people in the North African nation have registered to vote for members of the new National Congress, which will be tasked with drafting a new constitution for Libya. More than 3,000 candidates are competing for office, including more than 600 women.

The polls, which were originally slated to be held in late June, will be the first free elections in decades in Libya, where Muammar al-Qadhafi ruled for more than 40 years until a pro-democracy uprising last year – similar to the protests in other countries in the Middle East and North Africa – led to civil war and the end of his regime.

“This is, truly, a moment for national celebration. We all know the road to democracy is long and hard. We share your aspiration for a peaceful and prosperous Libya founded on the principles of justice, human rights, inclusiveness and accountability,” Mr. Ban said.

The Secretary-General’s Special Representative and head of the UN Support Mission in Libya (UNSMIL), Ian Martin, has previously described the impending polls as “an important step in Libya’s road to recovery and democracy,” and as being one part of a process that requires addressing key issues in the country’s transition such as ensuring public security, promoting human rights, tackling arms proliferation and ensuring border security.

** UN-News Centre, 5 July 2012; www.un.org



Katar verlangt von Libyen einen Preis für die Freiheit ***

Libyens UN-Botschafter Abderrahman Schalgam hat eine Debatte über die Einmischung Katars in Libyen losgetreten. Schalgam sagte dem Fernsehsender Al-Asema, Katars Herrscherfamilie habe versucht, Einfluss auf die Besetzung von Ministerposten in der Übergangsregierung zu nehmen. Kronprinz Tamim bin Hamad al-Thani habe ihm gesagt, sein Land habe für den Krieg gegen die Gaddafi-Truppen Milliarden gegeben, dafür wolle man nun auch mitreden dürfen bei der Besetzung wichtiger Posten.

Das Interview, das Schalgam nach eigener Aussage »als libyscher Bürger und nicht als UNBotschafter « führte, wurde von vielen Libyern im Kurznachrichtendienst Twitter als Skandal bezeichnet. Schalgam erhielt jedoch auch Zuspruch von Libyern, die sich über die Unterstützung streng islamischer Kandidaten durch Katar beklagten.

In Deutschland wird die Wahl für hier lebende Exillibyer morgen abgeschlossen. Fünf Tage lang hatten sie die Möglichkeit, ihre Stimme abzugeben. Die Ergebnisse werden nach Tripolis übermittelt, sagte der Berater der Wahlkommission Libyens in Deutschland, Nuri Graibei.

Deutschland ist auch noch auf andere Weise an der Wahl in Libyen beteiligt. Die Abstimmung wird von einer 21-köpfigen »Beurteilungskommission« des Europäischen Parlaments unter Leitung des FDP-Abgeordneten Alexander Graf Lambsdorff beobachtet.

*** (nd, 06.07.2012)


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