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Streupropaganda

Wer setzt Clusterbomben in Libyen ein?

Von Joachim Guilliard *

Libysche Regierungstruppen haben im westlichen Teil der umkämpften Stadt Misurata Streubomben in Wohngebiete geschossen, berichteten erstmals am 15. April 2011 die New Yorker Organisation Human Rights Watch (HRW) und die New York Times. Seitdem hält sich diese Behauptung hartnäckig in den Medien und im öffentlichen Bewußtsein. Tatsächlich ist es unwahrscheinlich, daß die libysche Armee über den fraglichen Bombentyp verfügt.

In der westlichen Presse wurde die Nachricht vom Cluster-Bombs-Einsatz begierig aufgegriffen. An den Schlagzeilen läßt sich leicht der Grad der Unterstützung des Krieges durch die verschiedenen Medien ablesen. Die Überschriften reichen von zurückhaltenden »Setzt Ghaddafi Streubomben ein?« (Hamburger Abendblatt) und »Ghaddafi-Armee soll Streubomben eingesetzt haben« (Die Welt) über »Ghaddafi wirft Streubomben auf Wohngebiete« (Frankfurter Rundschau) zu reißerischerem »Libyen: Mit Streubomben gegen Zivilisten« (Kurier) »Streubomben-Angriff gegen libysches Volk: Gaddafi schreckt vor nichts zurück« (Stern).

Die Behauptung, »Zivilisten« seien angegriffen worden oder gar das gesamte »Volk«, ist völlig aus der Luft gegriffen. Laut HRW-Bericht erfolgten die mutmaßlichen Angriffe in unmittelbarer Nähe der Front zwischen Regierungstruppen und Aufständischen, sie wären also gegen Rebellenmilizen gerichtet gewesen.

Es gibt jedoch starke Zweifel daran, daß die libyschen Regierungstruppen tatsächlich Streubomben einsetzten. HRW ist in solchen Umständen keine sehr zuverlässige Quelle. Die Organisation war u.a. schon im Krieg gegen Jugoslawien 1999 durch deutliche Parteinahme zugunsten der NATO aufgefallen.

Dünne Beweislage

Die Beweislage gegen Tripolis ist jedenfalls äußerst dünn. Schon die Behauptung von HRW, Mitarbeiter seien Augenzeugen gewesen, ist unseriös. Sie waren nicht selbst unmittelbar vor Ort, sondern haben die Munitionsreste von dem Reporter Christopher John Chivers erhalten, einem ehemaligen US-Marine und Veteran des ersten Irak-Krieges 1991, der für die New York Times aus Misurata berichtet. Außer ihm gibt es nur noch zwei weitere Zeugen, die von Angriffen erzählten, bei denen es sich »offenbar« um Streubomben handelte.

Das HRW-Team konnte nach eigenen Angaben die Fundorte der Bombenfragmente nicht untersuchen. Sie lagen direkt im umkämpften Gebiet. HRW kann somit nicht bestätigen, daß sie wirklich von dort kommen. Weder die Augenzeugen und noch weniger HRW können bezeugen, daß die Bomben von libyschen Regierungstruppen abgefeuert wurden. Die libysche Regierung bestreitet dies energisch und versichert, keine Munition vom fraglichen Typ »MAT-120« in ihrem Arsenal zu haben. »Wir haben keine Streubomben in unseren Arsenalen, kein Soldat wurde jemals in der Benutzung dieser Waffen ausgebildet«, so Generalmajor Saleh Abdallah Ibrahim, »und dementsprechend können wir sie nicht einsetzen.« Seine Armee sei das Opfer einer Medienkampagne. Die geächteten Bomben könnten nur über den Hafen von Misurata eingeschmuggelt und von den Rebellen selbst eingesetzt worden sein.

Die neu gegründete Gruppe »Human Rights Investigations« (HRI) tat, was HRW versäumte, und hat nachrecherchiert. Sie kam bei ihren Untersuchungen zum Schluß, daß mit großer Wahrscheinlichkeit keine Streubomben vom Typ »MAT-120« nach Libyen geliefert wurden.

Die »MAT-120« ist eine sich selbst zerstörende und neutralisierende Streubombe für 120-mm-Mörser, die 21 explodierende Granaten über ein großes Gebiet verstreut. Sie wurde bis 2008 von der spanischen Firma Instalaza hergestellt. Die in Misrata gefundene Munition wurde laut Herstellerstempel im Juli 2007 produziert. HRW selbst führt in seiner Liste der weltweiten Streubombenarsenale Libyen nicht unter den Ländern, die Bomben von diesem oder einem ähnlichen, sich selbst zerstörenden Typ besitzen. Der spanische Hersteller bestreitet, »MAT-120«-Bomben an Libyen geliefert zu haben. Die offiziellen Waffenexportberichte ­Spaniens bestätigen die Instalaza-Angaben. Zwar wurden 2007/2008 für knapp vier Millionen Euro Waffen und Rüstungsgüter an Libyen geliefert, aber keine der »Kategorie 3«, unter die die von Geschützen abgefeuerte Munition – wie die MAT-120-Bomben – fallen würde. Zumindest auf direktem Wege können somit keine Streubomben des fraglichen Typs nach Libyen gelangt sein.

Die Streumunition könnte über andere Länder nach Libyen gekommen sein, das ist jedoch äußerst unwahrscheinlich. Hauptabnehmer von Munition der »Kategorie 3« waren den Waffenexportberichten zufolge die USA, auf die 164 Millionen des Exportumfangs von 190 Millionen Euro entfielen.

Die spanische Regierung hat ab Juni 2008 den Verkauf von Streubomben verboten, der Export in der fraglichen Kategorie sank daraufhin im selben Jahr von 113 auf 76 Millionen Euro. 2009 brach er auf fünf Millionen ein, die USA kauften nur noch für 25000 Euro Munition dieser Kategorie ein. Offenbar hat es sich bei den früheren Kategorie-3-Exporten zum überwiegenden Teil um Streubomben gehandelt und diese gingen 2007/2008 zu fast 90 Prozent in die USA. Andere Länder, die solche Munition in nennenswerten Mengen kauften, waren Deutschland (für 4,7 Millionen Euro), Norwegen (5,4 Millionen Euro), Saudi-Arabien (sechs Millionen Euro), Polen (1,7 Millionen Euro), Ägypten (1,2 Millionen Euro) und Österreich (1,1 Millionen Euro). Es ist nahezu ausgeschlossen, daß eines dieser Länder sie an Libyen weitergab.

»Human Rights Investigations« weist zudem daraufhin, daß zu den Waffensystemen, für die »MAT-120« bestimmt sind, vor allem auch die Geschütze ­NEMO und AMOS der finnischen Waffenschmiede Patria Weapons System Oy (PWS) zählen, mit der Instalaza eng zusammenarbeitet.

Die finnischen Geschütze werden auch auf Kampfbooten installiert. Einige davon gehören wiederum zum Arsenal der im Mittelmeer operierenden US-Marineverbände. Es ist daher gut möglich, daß die fraglichen Streubomben von solchen Booten abfeuert wurden.

Verharmlosung

Auch wenn nur eine unabhängige Untersuchung klären könnte, ob in Misrata Clusterbomben eingesetzt wurden und wenn ja, von wem, so ist das Ziel hinter der Skandalisierung »libyscher Streumunition« klar und wurde auch von New York Times-Reporter Chivers benannt: Sie gab der Forderung der britischen und französischen Regierung an die NATO-Partner nach einer Ausweitung der Angriffe gegen Libyen »mehr Dringlichkeit« und setzte die Regierung von US-Präsident Barack Obama unter Druck, sich wieder stärker am Luftkrieg zu beteiligen.

Unabhängig davon, ob libysche Truppen die mörderischen Bomben einsetzten oder nicht, sind die meisten Medienberichte überwiegend Propaganda. Das beginnt schon beim HRW-Report selbst. Hier heißt es »Die meisten Länder haben durch die Konvention zur Ächtung von Streumunition den Einsatz von Streubomben in umfassender Weise verboten. Im August 2010 wurde das Abkommen bindendes internationales Recht.« Das ist schlicht gelogen und wird durch einen späteren Absatz widerlegt.

Die Streumunition ist leider bislang keineswegs »weltweit geächtet« oder gar verboten. Nur 108 der 193 UN-Mitgliedsstaaten haben bisher die Konvention zum Verbot von Streumunition unterzeichnet und erst 56 Länder dieses Verbot auch ratifiziert. Die USA, Rußland und Israel haben sich erst gar nicht an den Verbotsverhandlungen beteiligt und die Munition in den jüngsten Kriegen (Jugoslawien, Afghanistan, Irak, Georgien, Libanon und Gaza) eingesetzt.

Die USA und andere NATO-Staaten haben in Jugoslawien, Afghanistan und Irak Tausende solcher Bomben abgeworfen, die ihre Submunition – mehrere hunderttausend kleine Minen –über riesige Gebiete verteilten. Ähnlich empörte Berichte wie zu Libyen sucht man in den Medien hierzulande jedoch vergeblich.

»Human Rights Watch wirft USA sorglosen Einsatz von Streubomben vor«, überschrieb z. B. der liberale österreichische Standard am 18. Dezember 2002 einen Kurzbericht. Obwohl im Afghanistan-Krieg »beim Abwurf von 1228 Streubomben mit fast 250000 Sprengsätzen viele Zivilisten und besonders Kinder ums Leben gekommen« seien, wurde den USA nur vorgeworfen, »durch den Einsatz von Streubomben in Afghanistan überflüssig [!] Zivilisten gefährdet zu haben«. Human Rights Watch forderte damals wacker »eine verbesserte Zieltechnologie, um Zivilisten zu verschonen«.

Völlig unaufgeregt schrieb Die Welt (31.10.2001) über die menschenverachtenden Verbrechen: »Aus einer über Afghanistan fliegenden C-130-Hercules-Maschine haben die US-Streitkräfte Radiosendungen ausgestrahlt, um der Bevölkerung den Unterschied zwischen abgeworfenen Essensrationen und Streubomben zu erklären. Beide sind grellgelb – mit dem Unterschied, daß es sich bei den Streubomben um jene im Schnitt zehn Prozent Blindgänger handelt, die den Abwurf aus Mutterbomben unversehrt überstehen. Bei Herat sollen neun Menschen beim Aufheben unexplodierter Kleinbomben gestorben sein.«

Quellen auf der Internetseite des Autors: jghd.twoday.net/

* Aus: junge Welt, 15. Juni 2011

Bomben auf Demonstranten

Libyen: NATO attackiert medizinische Einrichtungen und Ghaddafi-Unterstützer in Tripolis **

Kampfflugzeuge der NATO haben bei weiteren Luftangriffen auf Libyen in der Nacht zum Dienstag (14. Juni) eine Fabrik zur Herstellung von Flüssigsauerstoff zerstört. Diese Anlage sei die einzige gewesen, aus der die Krankenhäuser des Landes beliefert wurden, berichtete der Sonderkorrespondent des lateinamerikanischen Fernsehsenders TeleSur, Rolando Seguro, aus Tripolis. Der Ausfall könne nun gravierende Probleme in den Gesundheitseinrichtungen verursachen.

Unterdessen meldete die Nachrichtenagentur dapd, daß die NATO auch erneut ein Anwesen von Staatschef Muammar Al-Ghaddafi bombardiert habe. Eine graue Rauchsäule sei am Dienstag (14. Juni) in der Gegend um den Gebäudekomplex Bab Al-Asisija zu sehen gewesen. Jede Nacht finden an dem Stützpunkt Kundgebungen von Anhängern Ghaddafis statt. Stunden vor dem Bombardement hatten sich auch ausländische Antikriegsaktivisten auf dem Gelände versammelt. Ob die Angriffe Opfer unter den Demonstranten gefordert haben, wurde zunächst nicht bekannt.

Den libyschen Regierungstruppen ist es unterdessen offenbar gelungen, den Vormarsch der Rebellen auf das westlich der Hauptstadt Tripolis gelegene Az Zawiyah aufzuhalten und sie auch von den strategisch wichtigen Städten Brega und Ajdabiyah zurückzudrängen. Heftige Kämpfe wurden ebenfalls wieder aus der Hafenstadt Misurata gemeldet.

Unterdessen wächst unter den Aggressoren die Nervosität. Er sei mit der Entscheidung der NATO einverstanden, die »Mission« bis September zu verlängern, sagte der britische Marinekommandant Mark Stanhope am Montag. Doch danach werde es schwierig: »Wenn wir das länger als sechs Monate machen, müssen wir neue Prioritäten für unsere Truppen festlegen.« Auch ein ranghoher französischer NATO-Vertreter, General Stephane Abrial, erklärte, die Frage der Ressourcen des Militärbündnisses sei besonders kritisch, sollte sich der Krieg hinziehen.
(PL/dapd/jW)

** Aus: junge Welt, 15. Juni 2011




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