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Das libysche Chaos

Seit dem Sturz Gaddafis 2011 zerfällt das Land in Machtbereiche von Milizen

Von Werner Ruf *

Mit der Blockade von Ministerien wollen Milizen in Libyen die Entlassung von Funktionären aus der Ära von Staatschef Gaddafi erzwingen. Nach dem Außenministerium in Tripolis begannen bewaffnete Kämpfer am Dienstag auch mit der Belagerung des Justizministeriums. Wer hat eigentlich das Sagen - Milizen oder eine reguläre Regierung?

In der Tat gibt es eine Regierung in Tripolis. Diese bemüht sich seit einem Monat verstärkt, die Kontrolle wenigstens in der Hauptstadt zu übernehmen, wo unterschiedliche Milizen rund 500 öffentliche und private Gebäude kontrollieren.

Die Antwort kam prompt: Eine Miliz, die ein Gefängnis betreibt, stürmte das Justizministerium. Zeitgleich wurde Mohamed Ali al Gattous, Berater von Premierminister Ali Zeidan, an einer von einer Miliz errichteten Straßensperre zwischen Misrata und Tripolis festgenommen und entführt. Schon am 31. März hatte Zeidan erklärt, seine Regierung arbeite „unter sehr schwierigen Bedingungen“, da mehrere Regierungsmitglieder Todesdrohungen erhalten hätten. Gewalt und Androhung von Gewalt gehen hauptsächlich aus von salafistischen Banden, die in der letzten Zeit zahlreiche Mausoleen muslimischer „Heiliger“ zerstört haben: Diese architektonisch beeindruckenden Bauwerke, die im Maghreb eine Jahrhunderte alte Tradition haben und wie in Timbuktu (Mali) zum Weltkulturerbe gehören, widersprechen ihrem Verständnis von einem puritanisch-fanatischen Islam.

Im sozialen Bereich herrscht ähnliches Chaos: Die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes warten vergeblich auf die Zahlung ihrer Gehälter, spontane Arbeitsniederlegungen und Blockaden sind die Folge. Sogar die Anlieferung von Kerosen wurde blockiert, so dass der Flughafen von Benghazi geschlossen werden musste, die Gas-Pipeline „Green Stream“ wurde unterbrochen. Ansonsten ist die Öl- und Gasproduktion fast wieder auf Vorkriegsniveau, allerdings dank des Einsatzes ausländischer privater Sicherheitsunternehmen, die den Schutz der Einrichtungen übernommen haben.

Unter den chaotischen Verhältnissen leiden vor allem schwarze Arbeitsmigranten, die oft ohne die nötigen Papiere über die Südgrenzen eingewandert sind. Schon zu Beginn des Konflikts im Frühjahr 2011 waren sie zum Hassobjekt gemacht worden: der qatarische Sender al jazeera sprach damals von „tausenden afrikanischen Söldnern“, die Qadhafi ins Land geholt haben sollte.

Viele von ihnen wurden damals gelyncht, einigen Tausend gelang die Flucht nach Ägypten oder Tunesien, wo sie sich im Lager Choucha sammelten. Nach angaben des nigrischen Staatssekretärs Boubacar Yayé befinden sich mindestens 3.000 nigrische Staatsangehörige in libyschen Gefängnissen, deren Ort oft unbekannt ist. Nach seinen Angaben strömen dennoch monatlich rund 4.000 Menschen allein über die nigrische Grenze nach Libyen – ihr Verbleib ist unbekannt. Viel spricht dafür, dass Libyen zumindest an einem Punkt staatliche Effizienz zu zeigen vermag: Am 31. Januar 2013 hat die EU ein Grenzkontroll-Konzept beschlossen, das, so Catherine Ashton „nicht nur für Libyen, sondern für die ganze Region … wichtig ist.“ Das Mandat für diese Mission, das eine Ausbildungskomponente in Tripolis umfasst, gilt zunächst für mindestens zwei Jahre.

Ob nun die libyschen Behörden in der Lage sind, die Flüchtlinge am Erreichen des Mittelmeers und an der Einschiffung zu hindern oder ob diese Aufgabe ausgewählten Milizen als Subunternehmer und lukratives Geschäft übertragen wird, bleibt sich gleich: Flüchtlinge aus Libyen erreichen Lampedusa so gut wie nicht mehr.

Einen weithin beachteten Höhepunkt erreichte die Gesetzlosigkeit in Libyen mit der Ermordung des US-Botschafters Christopher Stevens und vier seiner Mitarbeiter am 11.l September 2012 in Benghasi. Zum Anschlag bekannte sich der jemenitische Zweig von al Qaeda, der ihn als Racheakt für die Tötung des aus Libyen stammenden Djahdisten-Führers Abu Yahia al-Libi bezeichnete. Dieser war bei einem UN-Drohnenangriff am 4. Juni 2012 in Pakistan getötet wurde.

Doch anders als beim Anschlag auf die Berliner Diskothek La Belle am 5. April 1986 verhielten sich die USA zurückhaltend: Schon am Tag nach dem Anschlag machte US-Präsident Reagan den Geheimdienst Qadhafis verantwortlich und ließ am 14. April Tripolis bombardieren, zahlreiche Zivilisten kamen ums Leben. Diesmal beschränkten sich die USA darauf, von den libyschen Behörden die Aufklärung der Tat zu fordern, die bis heute nicht erfolgt ist.

Es ist mehr als wahrscheinlich, dass eine konsequente Aufklärung die engen Verbindungen zutage fördern würde, die spätestens seit Beginn des Krieges gegen Libyen zwischen den USA einerseits und Qatar und Saudi-Arabien andrerseits bestehen. Die beiden Despotien am Golf aber sind die großen Finanziers der militanten Islamisten, die nicht nur dabei sind, Ägypten und Tunesien zu destabilisieren, sondern auch in Syrien die Speerspitze der Kämpfer gegen das Assad-Regime bilden. In Mali unterstützt Qatar die djihadistische Gruppe MUJAO (Mouvement pour l’Unicité et le Jihad en Afrique Occidentale).

So reiht sich Libyen ein in die lange Kette zerfallener Staaten, die sich als Folge westlicher Interventionen von Somalia über Afghanistan und Irak bis Libyen zieht, und der demnächst wohl Syrien und Mali hinzuzufügen sind. Die alt-neuen Freunde am Golf versuchen durch Ausbreitung eines fanatisch-djihadistischen Islam ihre neue Führungsrolle in der arabisch-islamischen Welt zu sichern. Dies zu tolerieren ist der Preis, den der Westen zu zahlen bereit scheint, um im Gegenzug freien Zugang zu den Energieressourcen der Region zu behalten.

* Aus: neues deutschland, Samstag, 4. Mai 2013


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