Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Der gescheiterte Vereiniger

Die panarabischen Pläne des "Revolutionsführers" – Visionen ohne wirtschaftliche Basis

Von Roland Etzel *

Wie immer der Machtkampf in Libyen ausgeht – die politischen Verhältnisse in dem Mittelmeerstaat werden nicht die gleichen sein wie zuvor. Der Virus der Aufstände in den arabischen Nachbarländern hat die scheinbar so sichere Machtbasis von Staatschef Gaddafi in überraschend kurzer Zeit in ihren Grundfesten erschüttert und einen Sturz sehr viel wahrscheinlicher als eine Konsolidierung gemacht.

In beiden Fällen darf angenommen werden, dass nicht allein die Machtstruktur im Lande selbst, sondern auch der geopolitische Standort des Ölexport-Riesen Libyen neu bestimmt wird, und alle Mächte, die im Mittelmeerraum Einfluss haben bzw. erstreben, werden versuchen, in Tripolis Pflöcke einzuschlagen. Das ist in den letzten vier Jahrzehnten nur wenigen gelungen, und wenn, dann nicht auf Dauer. Zu schulden ist das im wesentlichen der Politik eines Mannes: Muammar al-Gaddafi, der Libyen seit 1969 dominiert und repräsentiert hat, aber nicht Staatschef genannt werden möchte – allenfalls »Bruder Oberst«.

Das knüpft bei Gaddafis Vision vom klassenlosen Volksstaat an, seiner Variante einer grünen – islamischen – Revolution, verbunden mit einem stark nationalistisch-emanzipatorischen Anspruch. Die gedachte Nation konnte in Gaddafis Vorstellung aber allein eine vereinte arabische Nation sein. Alle seine politischen Pläne und Projekte waren gekennzeichnet von dieser panarabischen, später auch panafrikanischen Idee. Ob es dafür jemals eine realistische Basis gab, schien Gaddafi freilich nie interessiert zu haben. Sein Wahlspruch war es offenbar, immer gleich mit dem Unmöglichen zu beginnen

Gaddafis Vorbild war der Ägypter Gamal Abdel Nasser, der 1952 als Mitglied des »Bundes der Freien Offiziere« das ägyptische Königshaus stürzte. Genau das gleiche schwebte dem in Großbritannien ausgebildeten Offizier Gaddafi vor: mit ein paar Verschworenen den weltfremden König Idris davonzujagen und die Staatsordnung umzuwälzen. Das Vorhaben war ungleich tollkühner als das Nassers, aber es gelang. Gaddafi war damals 27 Jahre alt.

Der Libyer teilte die Idee seines Vorbildes von der arabischen Einheit. Schon zwei Jahre nach dem Machtwechsel in Tripolis erklärten beide die Verschmelzung ihrer Staaten, einschließlich Sudans. Dass das Projekt schnell floppte, war nur zum geringen Teil dem frühen Tod Nassers geschuldet. Die Dreierföderation kam wegen fehlender wirtschaftlicher Voraussetzungen über einen rein akklamativen Charakter nie hinaus.

Das hielt Gaddafi nie ab, immer neuen Vereinigungsträumen anzuhängen, zumal die wesentlich ärmeren Partner von »Bruder Oberst« dies zunächst für recht lukrativ hielten. Aber auch die »Verschmelzungen« mit Tunesien, mit Marokko, selbst mit weit entfernten schwarzafrikanischen Staaten endeten schnell und kläglich und wurden wie vor allem ihr Initiator Gaddafi international zunehmend weniger ernst genommen. So ist es nur scheinbar ein Widerspruch, dass sich das Land des großen Vereinigers Gaddafi im Laufe der Zeit mit allen Nachbarn überwarf.

Das hatte auch seine Ursache in Gaddafis anmaßendem, immer exzentrischer inszenierten Auftreten, was das Verständnis für seine politischen Anliegen weitgehend zunichte machte. So unterstützte Gaddafi die PLO in ihrem Kampf, beschimpfte aber deren Führer Yasser Arafat als Feigling, als der nach wochenlanger israelischer Belagerung Beirut in Richtung Tunis verließ. Gaddafi zerriss während einer Rede im UN-Plenum vor empörten Delegierten einige Seiten der UN-Charta, wo er doch die Absicht hatte, auf deren Nichterfüllung durch die Großmächte hinzuweisen. Der Libyer stellte auch die Ernsthaftigkeit der völkerverbindenden Gedanken seines Grünen Buches in Frage, als er vor wenigen Jahren in Libyen arbeitende bulgarische Krankenschwestern nach völlig abstrusen Anschuldigungen zum Tode verurteilen ließ. Das alles sollte nicht vergessen, Gaddafi bei einer Bilanz seines Wirkens aber auch nicht darauf reduziert werden.

Chronik: Die Ära Gaddafi

1969: Am 1. September übernimmt Oberst Muammar al-Gaddafi die Macht, nachdem eine Gruppe junger Offiziere König Idris I. gestürzt hatte.

1970: Im Juni müssen die USA ihre Luftwaffenbasis Wheelus in Libyen räumen. Mit Ägypten, Sudan und Syrien vereinbart Libyen im Dezember die Bildung der Föderation Arabischer Republiken, eines von mehreren gescheiterten Integrationprojekten.

1976-1979: Veröffentlichung des dreibändigen »Grünen Buches«, in dem Gaddafi seine »Universaltheorie« als Alternative zu Kapitalismus und Kommunismus darlegt.

1980: Libysche Militärintervention in Tschad.

1986: Bombenanschlag in der Berliner Diskothek »La Belle« am 5. April (drei Tote; über 200 Verletzte, darunter etliche USA-Soldaten). Libyen wird der Urheberschaft beschuldigt. Als »Vergeltung« unternehmen die USA Luftangriffe auf Tripolis und Bengasi (101 Tote) und verhängen Sanktionen gegen Libyen.

1988: Absturz eines US-Verkehrsflugzeugs über Lockerbie (Großbritannien) am 21. Dezember. Für den Bombenanschlag (270 Tote) wird Libyen verantwortlich gemacht.

1999: Am 9. September ruft Gaddafi in Siirte die Vereinigten Staaten von Afrika aus, Vorläufer der Afrikanischen Union.

2001: Die Gründungsakte der Afrikanischen Union (AU) tritt am 26. Mai in Kraft.

2003: Libyen übernimmt am 15. August offiziell die Verantwortung für den Lockerbie-Anschlag. Der UN-Sicherheitsrat hebt am 12. September Sanktionen gegen Libyen auf. Gaddafi erklärt am 19. Dezember, auf die Entwicklung von Massenvernichtungswaffen zu verzichten.

2004-2011: Gaddafi wird international rehabilitiert, Ausbau der Wirtschaftsbeziehungen zur EU und zu den USA. ND



* Aus: Neues Deutschland, 23. Februar 2011


Ghaddafi droht dem Volk

Von Rüdiger Göbel **

Der Machtkampf in Libyen weitet sich aus und wird offensichtlich immer brutaler. Tausende Ausländer fliehen aus dem nordafrikanischen Land. Unbestätigten Berichten zufolge sollen mehrere als 500 Menschen getötet worden sein. Mehre Städte im Osten Libyens sollen unter Kontrolle von Aufständischen stehen, die unter der Flagge des 1969 von Offizieren unter Führung von Muammar Al-Ghaddafi gestürzten Königs Idris I. agieren. Der seitdem herrschende Oberst und Revolutionsführer denkt nicht an eine Abdankung. Am Dienstag übertrug das Staatsfernsehen eine Rede des 68jährigen. Ghaddafi hielt sie am Eingang eines Gebäudes in Tripolis, das die US-Luftwaffe 1986 bombardiert hatte. Damals waren 36 Zivilisten getötet worden – darunter auch seine Adoptivtochter. In seiner Ansprache appellierte der Staatschef an die Einheit des Landes. »Wir Libyer haben uns schon früher gegen die USA und Großbritannien aufgelehnt, wir werden nicht kapitulieren.« Und er stellte klar: »Es ist nicht möglich, daß ich Libyen verlasse.« Er werde notfalls die Armee zum Einsatz bringen und als »Märtyrer sterben«. Bereits in der Nacht hatte Ghaddafi von Großbritannien gestreute Gerüchte zurückgewiesen, er sei angesichts der Massenproteste außer Landes geflüchtet. Als Zielort war Venezuela lanciert worden.

UN-Menschenrechtskommissarin Navi Pillay verlangte am Dienstag eine internationale Untersuchung des brutalen Vorgehens libyscher Sicherheitskräfte. UN-Generalsekretär Ban Ki Moon forderte Ghaddafi in einem Telefonat zur Zurückhaltung auf. Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen und die Arabische Liga kamen zu Sondersitzungen zusammen.

US-Außenministerin Hillary Clinton verlangte von der libyschen Führung, das »nicht hinnehmbare Blutvergießen« sofort zu beenden. US-Senator John Kerry, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses im Senat, forderte, Washington solle neue Sanktionen gegen Tripolis erwägen. Auch Bundesaußenminister Guido Westerwelle erklärte: »Sollte Libyen weiter mit Gewalt gegen das eigene Volk vorgehen, werden Sanktionen unvermeidlich sein.« Nach Angaben aus Diplomatenkreisen in Brüssel beraten die EU-Mitgliedstaaten über mögliche Strafmaßnahmen, eine Einigung scheiterte aber zunächst an Italien und Malta. Beide Länder sorgen sich um neue Flüchtlingsströme. EU-Handelskommissar Karel De Gucht sprach sich dagegen klar für den Rücktritt des libyschen Staatschefs aus. Auf die Frage des belgischen Senders VRT Network, ob es gut wäre, Ghaddafi würde verschwinden, sagte der Belgier: »Ich denke ja. Denn Gaddafi ist ein Despot, der sein Volk unterdrückt hat.«

Kubas früherer Staatspräsident Fidel Castro fürchtet derweil, westliche Staaten könnten die Krise in dem ölreichen Land zu einer Intervention nutzen. »Man kann mit Ghaddafi einverstanden sein oder nicht«, noch sei unklar, was in Libyen wirklich vorgehe, »was Wahrheit und was Lüge ist«. Aber: »Für mich ist offenkundig, daß die US-Regierung keinerlei Interesse am Frieden in Libyen hat«, schrieb Castro in einem vom Internetportal cubadebatte veröffentlichten Kommentar. Washington werde nicht zögern, das Land mit Hilfe der NATO zu besetzen. Venezuelas Außenminister Nicolás Maduro bekundete seine Hoffnung, »daß das libysche Volk in Ausübung seiner Souveränität eine friedliche Lösung seiner Probleme finden möge, welche die Unantastbarkeit des Volkes und des Landes schützt, ohne Einmischung des Imperialismus«.

** Aus: junge Welt, 23. Februar 2011


Zurück zur Libyen-Seite

Zurück zur Homepage