Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Gaddafis Machtbasis weicht immer mehr auf

Diktator lehnt in Fernsehansprache Rücktritt ab / Sicherheitsrat berät über Lage / Tausende Ausländer auf der Flucht *

Nach einer Woche Aufstand und vielen hundert Todesopfern haben die Gegner von Staatschef Muammar al-Gaddafi nach eigenen Angaben fast ganz Libyen unter ihre Kontrolle gebracht.

Überall im Land seien Armee-Einheiten und Sicherheitskräfte übergelaufen, erklärten ranghohe libysche Funktionäre, die auf Distanz zu Gaddafi gegangen sind, am Dienstag (22. Feb.). Die Aufständischen beherrschten bereits 90 Prozent des Landes.

Derweil lehnte Gaddafi am Dienstag in einer Fernsehansprache den von seinen Gegnern geforderten Rücktritt ab. »Ich bin kein Präsident, der zurücktreten kann«, sagte er. Er bleibe als »Revolutionsführer« und sei bereit, als »Märtyrer« zu sterben. Seine Anhänger rief er auf, »Straße um Straße« zu erkämpfen. Er erklärte, Aufständische hätten in der östlichen Stadt Bengasi den Innenminister Abdulfattah Junis getötet.

Die Opposition geht von bislang 560 Toten bei den Ausschreitungen und brutalen Übergriffen der Sicherheitskräfte aus. In Tripolis sollen jetzt afrikanische Söldner die Bevölkerung terrorisieren.

Zum Auftakt einer Dringlichkeitssitzung im UNO-Sicherheitsrat forderte Deutschland eine Verurteilung der Gewalt gegen Demonstranten in Libyen. Das Vorgehen der libyschen Führung sei »wirklich schockierend«, sagte der deutsche UN-Botschafter Peter Wittig, der die Bundesrepublik im Sicherheitsrat vertritt, am Dienstag in New York. Der Rat müsse »eine schnelle und klare Botschaft« an die libysche Führung senden. Die Gewalt in Libyen habe »regionale und internationale Auswirkungen« und sei »ein Fall für den Sicherheitsrat«, so Wittig.

Die Ratssitzung war von Libyens Vizebotschafter bei der UNO, Ibrahim Dabbashi, beantragt worden. Dabbashi zählt zu jenen libyschen Diplomaten im Ausland, die sich öffentlich von der Führung in ihrem Heimatland losgesagt haben.

Die LINKE forderte, der Sicherheitsrat müsse unverzüglich die Entsendung einer internationalen Mission nach Libyen beschließen und damit der Bevölkerung beistehen. »Eine deutsche Initiative dahin gehend ist mehr als überfällig«, so Wolfgang Gehrcke, außenpolitischer Fraktionssprecher.

Der kubanische Revolutionsführer Fidel Castro warnte unterdessen davor, dass die USA Libyen mit Hilfe der NATO besetzen wollen. Die US-Regierung sorge sich nicht um den Frieden dort, schrieb Castro in einem am Dienstag veröffentlichten Kommentar für kubanische Staatsmedien.

Tausende von Ausländern fliehen angesichts der zunehmenden Gewalt aus Libyen. Passagierflugzeuge, Militärmaschinen und Schiffe nahmen am Dienstag aus allen Richtungen Kurs auf Libyen, um möglichst viele Ausländer in Sicherheit zu bringen.

In der Hauptstadt Tripolis landeten am Dienstag (22. Feb.) gleich drei Sondermaschinen, um Deutsche nach Hause zu bringen. Erwartet wurde, dass der Großteil der etwa 400 Bundesbürger, die sich noch in Libyen aufhielten, ausreisen wollten. Frankreich schickte drei Militärmaschinen nach Tripolis, um von dort die rund 550 Franzosen in Sicherheit zu bringen. Zwei türkische Fähren waren bereits in Begleitung eines Kriegsschiffs unterwegs zur Küste Nordafrikas. In Libyen halten sich insgesamt etwa 25 000 Türken auf, viele sind Mitarbeiter von Baufirmen. Nach einem Bericht der chinesischen Nachrichtenagentur Xinhua aus Tripolis stürmten und plünderten »bewaffnete Räuber« die Baustelle der chinesischen Huafeng Construction Company. Fast 1000 chinesische Bauarbeiter hätten ihre Unterkünfte verlassen müssen.

Am ägyptisch-libyschen Grenzübergang Sollum trafen ununterbrochen neue Konvois mit Ägyptern ein, die den Landweg zur Flucht nutzten. Aber auch Libyer nahmen teilweise kilometerlange Fußmärsche in Kauf, um Schutz in Ägypten zu suchen.

* Aus: Neues Deutschland, 23. Februar 2011

Regenrisiko heute

Tripolis, Libyen: 95 Prozent Caracas, Venezuela: 25 Prozent

Das libysche Fernsehen zeigte am Montagabend (21. Feb.) einen als (Noch-)Staatschef Muammar al-Gaddafi vorgestellten Mann beim Einstieg in ein Geländefahrzeug. Dabei erklärte dieser: »Ich wollte mit den jungen Leuten auf dem Grünen Platz reden und mit ihnen die Nacht verbringen, doch dann kam der Regen. Hiermit zeige ich: Ich bin in Tripolis und nicht in Venezuela. Hört nicht auf die Ansagen der streunenden Hunde.« Die ganze Szene dauerte 22 Sekunden, der arabische Fernsehsender Al Dschasira sprach von einer comicreifen Veranstaltung.

Zine el-Abidine Ben Ali in Tunesien und Husni Mubarak in Ägypten teilten in ihren letzten öffentlichen Erklärungen jeweils mit, sie würden nicht ab-, aber zur nächsten Präsidentschaftswahl nicht mehr antreten – die Flucht folgte im ersten Fall einen Tag, im zweiten neun Tage später. Für Gaddafi kommt eine vergleichbare Ankündigung nicht in Frage: Er hat sich seit über 41 Jahren keiner Wahl gestellt und eine solche ist auch nicht vorgesehen. Dass seine Herrschaft sich dem Ende neigt, ist jedoch offenkundig. Das Regime lässt auf Demonstranten feuern und bombardiert bereits eigene Kasernen und Waffendepots, damit sie nicht in die Hände der Aufständischen fallen. Berichtet wird auch von Söldnern aus anderen Ländern, die angeheuert worden seien, weil Gaddafi sich der Loyalität der Armee nicht mehr sicher sein könne. Trotz Informationssperre scheint sicher: Der nächste Despotensturz in der arabischen Welt steht bevor.

jrs

Aus: Neues Deutschland, 23. Februar 2011



Angriffe aus der Luft

Berichte über anhaltende Attacken auf Demonstranten in Libyen. Immer mehr Diplomaten gehen auf Distanz zu Ghaddafi

Von Karin Leukefeld, Damaskus **


Nach einem bizarren Auftritt des früheren Revolutionsführers Muammar Al-Ghaddafi im staatlichen Fernsehen in der Nacht zum Dienstag hat sich die Lage in der libyschen Hauptstadt gestern weiter verschärft. Ghaddafi sagte, er habe vorgehabt, »mit der Jugend im Grünen Park« im Zentrum der Stadt zu demonstrieren, doch der Regen habe ihn davon abgehalten. »Der ist aber auch gut für das Land«, sagte er. Der Auftritt dauerte 20 Sekunden und zeigte Ghaddafi in einem Militärfahrzeug. Er hielt einen großen Schirm über sich und trug eine Fliegermütze.

Berichten zufolge setzten Kampfflugzeuge der libyschen Luftwaffe auch am Dienstag Angriffe auf verschiedene Stadtteile von Tripolis fort, Kampfhubschrauber sollen wahllos Fahrzeuge und Menschen auf den Straßen unter Beschuß genommen haben. Der Sohn und mögliche Nachfolger Ghaddafis, sein Sohn Seif al-Islam, sagte im staatlichen Fernsehen, die Luftwaffe bombardiere lediglich Munitionsdepots, die »weit von der Bevölkerung entfernt am Rande der Stadt« lägen. Luftangriffe in Tripolis und Bengasi dementierte er. Augenzeugen sagten hingegen im arabischen Nachrichtensender Al-Dschasira, »wir erleben heute etwas Unglaubliches. Kriegsflugzeuge und Hubschrauber bombardieren rücksichtslos ein Gebiet nach dem anderen«, sagte Adel Mohamed Saleh. Es gebe »viele, viele Tote«. Der frühere libysche Botschafter in Indien, Ali Al-Essawi sprach von einem »Massaker«, Kampfjets bombardierten Zivilisten. Der stellvertretende Botschafter Libyens bei den Vereinten Nationen, Ibrahim Dabbashi, sagte Al-Dschasira, Ghaddafi habe einen »Völkermord gegen das libyische Volk begonnen«. Der libysche Botschafter in den USA, Ali Aujali, erklärte, er quittiere seinen Dienst für das »diktatorische Regime«, aber nicht für das Volk«.

Unterstützt würden die Luftangriffe von Truppen, die weiterhin loyal zu Ghaddafi stünden. Essawi sprach von »Ausländern«, die angeheuert worden seien, um für die Regierung gegen das Volk zu kämpfen. Diese »Söldner« seien von Hubschraubern unter anderem im Bezirk Fashlum abgesetzt worden und feuerten an vorderster Front gegen Demonstranten. Unterstützt wurden sie dabei von Scharfschützen auf Dächern und von Unterstützern Ghaddafis, die schwerbewaffnet durch die Straßen von Tripolis fuhren und auf »alles schossen, was sich bewegte«. Die offizielle Armee fordere die Bevölkerung über Lautsprecher auf, ihre Häuser nicht zu verlassen. Einwohner des Viertels Tajura im Osten Tripolis’ berichteten von Toten, die seit Tagen auf den Straßen lägen.

Demonstranten erklärten mittlerweile die Kontrolle über Bengasi und andere Städte im Osten des Landes. Mindestens ein Grenzübergang nach Ägypten wurde von ihnen geöffnet, so daß Ägypter, die in Libyen arbeiteten, die Grenze zu Fuß mit ihrem Gepäck überqueren konnten.

Angaben verschiedener Ärzte zufolge wurden seit Beginn der Proteste in Libyen am 14. Februar allein in der Hafenstadt Bengasi 300 Menschen getötet, mindestens 61 Tote meldeten Krankenhäuser in Tripoli in der Nacht zu Montag. Der Arzt Dr. Ahmed aus einem der Krankenhäuser in Bengasi sagte, es fehle an Blutkonserven und Medikamenten. In den vom Militär aufgegebenen Kasernen seien weitere Tote gefunden worden, offensichtlich Soldaten, die wegen ihrer Weigerung, auf die Demonstranten zu schießen, hingerichtet worden seien. Der Flughafen der Stadt wurde zerstört, so daß Maschinen mit Hilfsgütern dort nicht landen können.

** Aus: junge Welt, 23. Februar 2011


Feine Unterschiede

Von Olaf Standke ***

Empörung ist angesagt in Washington, und scharf protestierte Außenministerin Hillary Clinton jetzt gegen die Eskalation der Gewalt in Libyen. So schnell und massiv haben die USA bisher noch nie öffentlich reagiert, seit der Aufruhr in der arabischen Welt seinen Anfang nahm. Da dauerte es, bis man die Zeichen der Zeit richtig deutete und Husni Mubarak dann doch fallen ließ. Zwar kommt die Beschwörung von Demokratie wie universellen Menschenrechten im Nahen Osten und in Nordafrika der Obama-Regierung inzwischen viel leichter von den Lippen, feine Unterschiede freilich existieren weiter. Während man beim »Schurkenstaat« par excellence kein Blatt vor dem Mund nimmt, pflegt man zum Beispiel im Falle Bahrains lieber die stille Diplomatie, obwohl die Armee auch dort brutal gegen Demonstranten vorgegangen ist. Kein Wunder, ist das kleine Königreich doch Stützpunkt der 5. Flotte der US-Marine und einer der wichtigsten Verbündeten Washingtons in der Region. Und in Sachen Sanaa wandelt man ebenfalls auf einem fragwürdigen Grat: Wer im Weißen Haus weiß denn, ob die millionenschweren Hilfen für den jemenitischen Kampf gegen Al Qaida nicht auch dem Vorgehen gegen die friedlichen Proteste im Lande dienten? Die in der Vergangenheit allein auf die eigenen geostrategischen Interessen ausgerichtete Sicherheitsarchitektur der Supermacht in dieser Region gerät heftig ins Rutschen. Schlechter Autokrat hier, guter Autokrat da – diese Strategie hat ausgedient.

*** Aus: Neues Deutschland, 23. Februar 2011 (Kommentar)


Zurück zur Libyen-Seite

Zurück zur Homepage