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Wie billig wird libysches Öl?

Von Gerd Bedszent *

Als in den vergangenen Wochen die Welle sozialer Unruhen in den arabischen Staaten die Libysch-Arabische Volks-Jamahirija erreichte, gab der Westen seine beim Sturz der Regimes in Tunesien und Ägypten geübte Zurückhaltung schnell auf. Was nicht verwundert: Der libysche Diktator hatte jahrzehntelang als Be-standteil des „Reichs des Bösen“ gegolten. Daß die libysche Führung ihrem einstigen Antiimperialismus längst abgeschworen und sich den westlichen Indu-strienationen angenähert hat, will plötzlich niemand mehr wahrhaben. Die meis-ten Medien unterlassen es auch, die komplizierte und widersprüchliche Ge-schichte des Landes zu thematisieren.

Die heutige Republik Libyen ist ein Produkt der italienischen Kolonialmacht, die mehrere bis dahin eigenständige Landesteile – die Cyrenaika im Osten, Tri-politanien im Westen und den Fessan im Süden – ab dem Jahre 1911 schrittwei-se unter ihre Kontrolle brachte. Zuvor waren diese Gebiete jahrhundertelang Provinzen oder Randstaaten des Osmanischen Reiches gewesen. Erbitterten Wi-derstand gegen die italienische Landnahme organisierte der islamische Sanûsîya-Orden, der im Zuge des Niederganges des Osmanischen Reiches weite Teile Nordafrikas unter seine Kontrolle gebracht hatte. Faschistische Truppen kämpften bis zum Jahre 1935 den Widerstand der Sanûsîya nieder; danach wurde Libyen eine italienische Agrarkolonie. Im zweiten Weltkrieg erlitt Libyen schwere Zerstörungen – die Stadt Benghasi wechselte fünfmal den Besitzer. Der militärischen Niederlage Italiens folgte eine kurze Zeit unter britisch-französischer Militärverwaltung, bis das Land im Jahre 1951 als Vereinigtes Königreich Libyen unter dem Sanûsîya-König Idrîs I. unabhängig wurde.

Das Erbe der Kolonialära war grauenhaft: Im Jahre 1949 betrug die Analpha-betenrate 90 Prozent, einziges Exportgut war Militärschrott, der auf den verlas-senen Schlachtfeldern aufgesammelt wurde. Die Bevölkerung bestand im we-sentlichen aus bettelarmen Nomaden und Oasenbauern. Seit 1961 wurde zwar Erdöl gefördert, das aber durch Pipelines in Richtung Europa floß, ohne irgend-welche ökonomischen Spuren im Land zu hinterlassen. Gegen die monarchis-tisch konservierte Rückständigkeit organisierte sich der „Bund der Freien Unio-nistischen Offiziere“. Im Jahre 1969 stürzte er mit einem Militärputsch Idrîs I. und setzte unter der Losung „Freiheit, Sozialismus, Einigkeit“ einen Prozeß ra-dikaler Modernisierung in Gang.

Der libysche Revolutionsführer Muammar al-Gaddafi, der ab 1969 die Ge-schicke des Landes lenkte, ist zweifelsfrei eine widerspruchsvolle Persönlichkeit. Zu seinen Verdiensten gehört die Beendigung der westlichen Militärpräsenz im Lande: 1970 wurden die britischen und US-Stützpunkte geschlossen. Gestützt auf die reichen Erdöl- und Erdgasvorkommen gelang ihm der Aufbau eines für arabische Verhältnisse vorbildlichen Sozialsystems. Der staatliche Sektor dominiert die Wirtschaft, etwa eine Million Libyer sind Staatsangestellte. Gegenwärtig hat Libyen das höchste Pro-Kopf-Einkommen im nördlichen Afri-ka. Die durchschnittliche Lebenserwartung stieg in den vier Jahrzehnten von knapp 53 auf 75 Jahre. In Anbetracht dessen, daß die Öl- und Gasreserven des Landes begrenzt sind und es sonst nach wie vor nichts zu exportieren gibt, womit sich Importe bezahlen ließen, wurde ein gigantischen Bewässerungsprojekt begonnen, dessen ökologische Folgen allerdings umstritten sind.

Die repressiven Methoden, mit denen Gaddafi seine Herrschaft absicherte, hoben sich allerdings nicht sonderlich von anderen Präsidialdiktaturen dieser Region ab. Gaddafis außenpolitische Kapriolen riefen regelmäßig Kopfschütteln selbst bei hartgesottenen Unterstützern hervor. Libyen förderte militant-linksradikale Gruppen in anderen Ländern und wurde deswegen seit dem Jahre 1973 regelmäßig mit Wirtschaftssanktionen belegt; in den 1980er Jahren erfolg-ten immer wieder Zusammenstöße mit dem US-Militär, das sogar einmal die Hauptstadt Tripolis bombardierte. Nach dem Zusammenbruch der Staaten des Warschauer Pakts suchte er neue Verbündete auf der Rechten, schloß Duz-freundschaft mit dem italienischen Premier Berlusconi und dem österreichischen Rechtsaußen Jörg Haider. Spätestens seit der Kooperation libyscher Sicherheits-kräfte mit der westeuropäischen Agentur Frontex degradierte sich Gaddafi selbst zum Handlanger des von ihm einstmals bekämpften Imperialismus. Hunderte von Booten mit über das Mittelmeer in Richtung Europa strebenden afrikani-schen Elendsflüchtlingen wurden seitdem von der libyschen Marine aufgebracht, zehntausende Migranten in Lagern interniert und zurück in Richtung Hunger und Bürgerkriegschaos abgeschoben.

Hauptursache für Gaddafis seit dem Jahre 2003 beginnende Annäherung in Richtung Westen dürfte die wirtschaftliche Stagnation im Lande gewesen sein: 30 Prozent der Bevölkerung sind derzeit arbeitslos, Tendenz stark steigend. Vor allem die Jugend – ein Drittel der Libyer ist derzeit jünger als 15 Jahre – sah für sich keine Perspektive. Viele westliche Unternehmen okkupierten seitdem den libyschen Markt, wodurch sich die soziale Lage nicht besserte. Im Gegenteil: Die Kluft zwischen arm und reich vergrößerte sich, Gaddafis Familienclan entfernte sich immer weiter von der Mehrheit der Bevölkerung, die Unzufriedenheit im Lande wuchs.

Trotz des im Vergleich zu den Nachbarstaaten relativen Wohlstandes der li-byschen Bevölkerung war es also folgerichtig, daß die derzeitige Revolte gegen repressive Regimes in der arabischen Welt auch auf Libyen übergriff. Die natio-nalstaatliche Modernisierung in dieser Region ist an ihre Grenzen gestoßen, die von der Profitmaschine aussortierten Überflüssigen lehnen sich gegen die Sinn-losigkeit ihres Daseins auf. Gesellschaftlichen Fortschritt bringt diese Auflehnung allerdings nicht ohne Weiteres und schon gar nicht unter Garantie. Ein Wechsel im Präsidentenamt bedeutet eben noch keine Morgenröte der Demokratie. Da die wirtschaftlichen Probleme bleiben und sich eher noch verschärfen, wird auch das nächste Regime die aufbegehrenden Zukurzgekommenen gewaltsam niederhalten. Wenn einer politischen Emanzipation nicht eine soziale folgt, wird von solchen Umstürzen letztlich die religiöse Rechte profitieren.

Der außergewöhnlich blutige Zusammenbruch des Gaddafi-Regimes erklärt sich allerdings primär aus dem Krieg ums Öl. Gewesene Würdenträger des un-tergehenden Regimes neideten offensichtlich dem herrschenden Clan seine Bankkonten und hätten die Überschüsse aus dem Ölgeschäft lieber für sich selbst.

Es ist auch kein Zufall, daß der Westen sehr schnell ein Eingreifen in den li-byschen Bürgerkrieg forderte; bei den Umstürzen in Tunesien und Ägypten war das nicht einmal erwogen worden. Gaddafi galt trotz seiner politischen Schwenks noch immer als unsicherer Kantonist, dem man seine antiimperialistische Vergangenheit übelnimmt. Ein Regimewechsel in Libyen ist außerdem eine gute Gelegenheit, das im Land noch immer halbwegs funktionierende Sozialsys-tem zu zerschlagen und so den Ölpreis zu drücken. Ebenso wenig ist es ein Zu-fall, daß ausgerechnet in der Cyrenaika, einstmals Sanûsîya-Hochburg, zuerst das Militär die Fronten wechselte und sich von der Gaddafi-Diktatur lossagte. Mit feudal-klerikalen Regimes, wie beispielsweise in Saudi-Arabien, konnten die Ölkonzerne noch immer störungsfrei ihre Geschäfte abwickeln. Die Zukunft dürfte für die Libyer, die sich jetzt noch dem Freudentaumel hingeben, dunkel werden. Hoffentlich nicht pechschwarz.

* Aus: Zweiwochenschrift "Ossietzky", Heft 5, März 2011; www.sopos.org


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