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NATO übernimmt Leitung des Libyen-Kriegs

Entscheidung des Paktes setzt Deutschland weiter unter Druck / Auch Flugzeuge Katars jetzt an Militäraktion beteiligt *

Die NATO will in Kürze die Leitung aller internationalen Militäraktionen in und um Libyen übernehmen. Die Allianz gegen Gaddafi flog weitere Luftangriffe auf Ziele in Libyen, so im Süden der Hauptstadt Tripolis.

Nach der Seeblockade gegen Waffenschmuggel und der Überwachung der Flugverbotszone sollen schon in der kommenden Woche sämtliche Einsätze der bisherigen Koalition gegen das Regime von Revolutionsführer Muammar al-Gaddafi unter das Kommando der NATO gestellt werden. »Wir prüfen aktiv, ob wir eine größere Rolle übernehmen können«, sagte Pakt-Sprecherin Oana Lungescu am Freitag (25. März) in Brüssel. »Ich erwarte eine Entscheidung darüber in den nächsten Tagen.« Diplomaten sagten, die NATO wolle am Sonntag (27. März) die Übernahme des gesamten Militäreinsatzes beschließen. »Wir handeln als Teil eines breiten internationalen Bemühens zum Schutz der Zivilbevölkerung gegen Angriffe des Gaddafi-Regimes.«

Bisher habe lediglich Deutschland erklärt, dass es sich an der Kontrolle der Flugverbotszone und auch an anderen Militäreinsätzen in Libyen nicht beteiligen wird, sagte ein NATO-Diplomat. Einige Staaten können nicht teilnehmen, weil sie keine Kampfflugzeuge haben. Der NATO-Rat hatte sich am späten Donnerstagabend (24. März) nach sechs Tagen erbitterten Streits vor allem zwischen der Türkei und Frankreich auf die Übernahme des Militäreinsatzes zur Kontrolle der Flugverbots über Libyen geeinigt. Diese Einigung sah vor, dass die »Koalition« unabhängig davon ihre Einsätze fortsetzen kann. Dies bedeutet, dass beispielsweise Luftangriffe gegen Einrichtungen der libyschen Armee zulässig sind, um die Bevölkerung zu schützen. »Wir haben die Verantwortung für die Flugverbotszone übernommen, während die Koalition ihre Aktivitäten fortsetzt«, sagte NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen in Brüssel.

Unmittelbar nach diesem Beschluss kündigte US-Außenministerin Hillary Clinton an, die USA übergäben das Kommando über die Einsätze in der Flugverbotszone an die NATO. Clinton hatte zuvor mit ihren Kollegen William Hague (Großbritannien), Alain Juppé (Frankreich) und Ahmet Davutoglu (Türkei) den Kompromiss ausgearbeitet. Die Türkei wollte den Militäreinsatz ursprünglich nur auf die Flugverbotszone beschränken. Frankreich lehnte es hingegen ab, sich von der NATO andere Einsätze als jene in der Flugverbotszone verbieten zu lassen.

Der NATO-Oberkommandeur, US-Admiral James Stavridis, begann am Freitag damit, Beiträge der Paktmitglieder für die Flugverbotszone zu sammeln. Benötigt würden »mehrere Dutzend« Kampfflugzeuge, 10 bis 15 Tankflugzeuge und mindestens fünf Aufklärungsflugzeuge vom Typ AWACS, hieß es.

In der Nacht zum Freitag (25. März) hatten auch die Staats- und Regierungschefs der EU ihre Rücktrittsforderung an Gaddafi erneuert. Die EU sicherte einem »neuen Libyen« ausdrücklich politische und wirtschaftliche Unterstützung zu. Sie kündigte weitere Sanktionen an. Der EU-Gipfel begrüßte die Militärangriffe der »Koalition der Willigen«. Der Einsatz habe erheblich dazu beigetragen, Zivilisten zu schützen. Er solle beendet werden, falls die Zivilisten sicher vor Angriffen und die Ziele der UN-Resolution zu Libyen erreicht seien.

Unterdessen ist Katar als erstes arabisches Land aktiv in den Militäreinsatz in Libyen eingestiegen. Wie die katarische Armee am Freitag erklärte, überflogen mehrere ihrer Kampfflugzeuge das nordafrikanische Land. Dies sei im Zuge der »Teilnahme an der internationalen Koalition« erfolgt, hieß es. Angaben über den genauen Zeitpunkt sowie die Zahl der an dem Einsatz beteiligten Flugzeuge machte das Militär nicht.

Neben Katar hatten auch die Vereinigten Arabischen Emirate angekündigt, sich mit zwölf Kampfflugzeugen an den Angriffen zu beteiligen. Das Außenministerium in Abu Dhabi erklärte, der Einsatz werde »in den kommenden Tagen« beginnen.

Der US-Nachrichtensender CNN berichtete, alliierte Kampfjets hätten Stellungen in den Außenbezirken der Hauptstadt Tripolis bombardiert. Kurzfristig habe es Gegenfeuer der Luftabwehr gegeben, das dann aber wieder aufgehört habe. Ein französisches Kampfflugzeug zerstörte nach Angaben des Generalstabs in Paris eine Artilleriestellung. Nach Berichten libyscher Staatsmedien wurde am Vortag eine nicht näher genannte Zahl Menschen bei Luftangriffen auf die Stadt Tadschura bei Tripolis getötet.

* Aus: Neues Deutschland, 26. März 2011


NATO auf Kriegskurs

Von Olaf Standke **

Es ist noch keine vier Wochen her, da erklärte Generalsekretär Rasmussen nach einem NATO-Sondertreffen, dass die Allianz nicht gedenke, in Libyen militärisch einzugreifen. Acht Tage später war das größte Militärbündnis der Welt »bereit für jeden Eventualfall«. Und nachdem der zähe Streit um Führungsfragen beigelegt wurde, überschlagen sich nun die Entscheidungen. Erst einigte sich der Nordatlantikpakt auf eine Seeblockade gegen Waffenschmuggel, wenig später folgte der Formelkompromiss über die Kontrolle der immer weiter ausgedehnten Flugverbotszone, und dann kam gestern die Nachricht, dass man den Militäreinsatz in Libyen ausweiten und in der nächsten Woche auch das Kommando über alle Bombardements übernehmen wolle. Schon am Sonntag könnte darüber endgültig entschieden werden. Eine Lösung für die politische Führung, die Frankreichs innenpolitisch unter Druck stehender Präsident Sarkozy so gern übernommen hätte, dürfte sich finden. Wahrscheinlich wird ein Leitungsgremium, in dem alle elf bisher an den Luftangriffen beteiligten Staaten vertreten sind, die Allianz politisch beraten. Damit stünde die NATO dann endgültig in einem neuen Krieg – ohne dass die Bundesregierung im NATO-Rat widersprochen hätte. Und Sarkozy hat auf dem EU-Gipfel schon unverhohlen weiteren arabischen Staaten mit Militärschlägen gedroht. So muss man befürchten, dass wir schon bald den nächsten NATO-Beschluss dazu haben werden.

** Aus: Neues Deutschland, 26. März 2011 (Kommentar)


Neue kreative Kriege

Frankreich meldet Libyen "unter Kontrolle". NATO soll Kommando übernehmen. Sarkozy droht anderen arabischen Ländern, und die Presse räsonniert über den Tyrannenmord

Von Rüdiger Göbel ***


Die Luftangriffe der von Frankreich, Großbritannien und den USA geführten Kriegsallianz gegen Libyen gehen in die zweite Woche, jetzt übernimmt die NATO das Kommando. Mit welchem weitergehenden Ziel, das bleibt unklar. Die mit UN-Resolution 1973 geforderte Errichtung einer »no fly zone« für libysche Maschinen gilt offiziell als durchgesetzt. Der Flugraum über dem nordafrikanischen Land sei »unter Kontrolle«, erklärte der französische Generalstabschef Admiral Edouard Gauillaud am Freitag. Kampfjets der »Koalition der Willigen« griffen Stellungen der libyschen Armee bei Adschabija an. Mit den Luftattacken sollen die Aufständischen, die die Stadt seit Tagen belagern, in ihrem Kampf gegen Muammar Al-Ghaddafi unterstützt werden. Auch Tripolis wurde wieder bombardiert. Ein libyscher Militärsprecher erklärte, daß »mehrere zivile und militärische Einrichtungen« in der Hauptstadt angegriffen worden seien. Einzelheiten nannte er nicht.

Die Rebellen sind offensichtlich längst nicht so stark, wie dies in den vergangenen Wochen schien. Im Schnellverfahren versuchen sie in Bengasi im Osten des Landes bewaffnete Formationen aufzustellen. Nach Angaben des sogenannten Nationalrats, der sich als Gegenregierung zum Ghaddafi-Regime versteht, verfügen die Oppositionskräfte über nur rund 1000 eigene Milizionäre. Tatsächlich war es den Ghaddafi-Gegnern in den vergangenen Wochen nicht gelungen, in den von ihnen eroberten Gebieten für Sicherheit zu sorgen. Berichten zufolge standen selbst die Ölanlagen Plünderern offen.

Die militärische Unterstützung der Bürgerkriegspartei soll fortan von der NATO koordiniert werden. Die Vertreter der 28 Mitgliedsstaaten verständigten sich in der Nacht zum Freitag darauf, daß der Militärpakt zunächst die Überwachung der »no fly zone« übernimmt und sich nächste Woche auf das gesamte Libyen-Kommando verständigt. Noch ist nicht klar, ob das klappt. Frankreich, Großbritannien und die USA wollen bis auf weiteres Ziele in Nordafrika bombardieren.

Angesichts des enormen Rückhalts bei der Bevölkerung für die Libyen-Intervention und wohl mit Blick auf die bevorstehenden Regionalwahlen am Wochenende plädierte Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy für eine Ausweitung der Kampfzone und drohte mit Militärschlägen auch in anderen arabischen Ländern: »Jeder Herrscher muß verstehen, und vor allem jeder arabische Herrscher muß verstehen, daß die Reaktion der internationalen Gemeinschaft und Europas von nun an jedes Mal die gleiche sein wird.«

In der äthiopischen Hauptstadt Addis Abeba suchten am Freitag unterdessen Vertreter der Afrikanischen Union nach einer Friedenslösung für Libyen. Die AU plädiert für eine Übergangsphase und anschließende freie Wahlen. An dem Treffen nahmen eine Delegation der libyschen Regierung sowie die Staatschefs von fünf afrikanischen Ländern teil. Ob auch Repräsentanten der Aufständischen teilnahmen, war zunächst nicht bekannt. Die Ghaddafi-Gegner müssen allerdings auch auf keine Verhandlungslösung orientieren, solange sie die westliche Militärallianz hinter sich wissen.

Der Westen selbst teilt ihr Ziel eines »Regime change« in Tripolis. Für Ghaddafi ist kein Platz mehr, so die einhellige Kriegsmaxime. Was tun mit dem Tyrannen, fragte am Freitag passend Spiegel online, »wäre ein Volltreffer auf Ghaddafis Residenz die Lösung?« Und dann der Hinweis: Die Tötung des Staatschefs könne aufgrund der UN-Resolution »nicht offensiv« vertreten, sondern »höchstens als Kollateralschaden eines Luftangriffs dargestellt werden«. Und: »Es würde eine sehr kreative Auslegung des UN-Mandats erfordern.«

*** Aus: junge Welt, 26. März 2011


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