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Lockerbie-Akte publiziert

Dokument aus dem Jahr 2007 untermauert die Zweifel an der Verantwortung des libyschen Geheimdienstes für den Absturz eines Passagierflugzeugs im Jahr 1988

Von Knut Mellenthin *

In den Lockerbie-Fall kommt möglicherweise noch einmal Bewegung. Die schottische Zeitung Sunday Herald hat am 25. März einen Geheimbericht veröffentlicht, der den als angeblichen Täter zu lebenslanger Haft verurteilten Libyer Abdel Baset al-Megrahi zu entlasten scheint. Zweifel an dem vor elf Jahren gesprochenen Urteil gab es allerdings schon von Anfang an. Megrahi, der im August 2009 aufgrund einer schweren Krebserkrankung im Gnadenweg aus der Haft entlassen wurde und seither in Libyen lebt, bestreitet nach wie vor jede Verwicklung in den Fall.

Am 21. Dezember 1988 explodierte in einer Passagiermaschine der PanAm, die sich auf dem Weg nach New York befand, eine Bombe. Die brennenden Trümmer des Flugzeugs stürzten auf den schottischen Ort Lockerbie. Alle Insassen des Flugzeugs – 243 Passagiere und 16 Crew-Mitglieder – sowie elf Anwohner starben.

Seit 1991 beschuldigten die US-amerikanischen Ermittler Megrahi, an der Tat beteiligt gewesen zu sein. Ausschlaggebend dafür waren die Aussagen eines maltesischen Händlers, bei dem Megrahi angeblich kurz vor dem Anschlag Kleidungsstücke gekauft hatte, die sich in dem Bombenkoffer befunden haben sollen. Megrahi war Leiter der Sicherheitsabteilung der libyschen Fluglinien und arbeitete nach US-amerikanischer Darstellung angeblich auch für den Auslandsgeheimdienst seines Landes. Nachdem die libysche Regierung jahrelang alle Auslieferungsbegehren zurückgewiesen hatte, wurde Megrahi im April 1999 als Bauernopfer der von Muammar al-Ghaddafi begonnenen Annäherung an den Westen in die »neutralen« Niederlande überstellt. Die Vereinbarung sah vor, daß dort ein schottisches Gericht den Fall verhandeln sollte.

Megrahi wurde schließlich am 31. Januar 2001 verurteilt. Er legte gegen das Urteil sofort Berufung ein, die jedoch im März 2002 abgewiesen wurde. Der Libyer stellte einen zweiten Antrag, dem vom zuständigen schottischen Berufungsausschuß (SCCRC) im Juni 2007 stattgegeben wurde.

Zu einem erneuten Prozeß kam es jedoch nicht mehr: Bevor er im August 2009 in die Heimat entlassen wurde, mußte Megrahi seine Berufung gegen das Urteil zurückziehen. Der Libyer, dem Ärzte damals nur noch eine Lebenserwartung von etwa drei Monaten prognostizierten, tat es – wie er bis heute beteuert – schweren Herzens. Nicht auszuschließen ist, daß die Absicht, ein neues Aufrollen des Falles zu vermeiden, bei der Begnadigung eine wichtige Rolle spielte.

Das 821 Seiten umfassende Dokument, das der Sunday Herald am vergangenen Sonntag veröffentlichte, ist die Begründung des SCCRC für die Zulässigkeit der von Megrahis Anwälten geforderten Revision. Die sechs Punkte, auf die der Ausschuß seine Ansicht gründete, daß das Gericht im Prozeß gegen den Libyer erhebliche Verfahrensfehler begangen habe, waren – in knappen Zusammenfassungen – inzwischen schon bekannt, doch der gesamte Bericht war und ist Verschlußsache.

In vier der sechs vom SCCRC beanstandeten Punkte geht es darum, daß der Verteidigung vom Gericht Aussagen, Dokumente und Sachverhalte vorenthalten und verschwiegen wurden, die im Prozeß von großer Bedeutung hätten sein können. Sie betreffen vor allem die Glaubwürdigkeit des Hauptzeugen, des maltesischen Händlers Tony Gauci. Seine Angaben waren widersprüchlich, zum Teil nachweislich falsch und offenbar nicht unbeeinflußt von dem – im Prozeß nicht zur Sprache gekommenen – Umstand, daß er von der US-Regierung zwei Millionen Dollar Belohnung erhalten hatte.

Durch eine Entlastung Megrahis kämen voraussichtlich wieder Theorien ins Spiel, die schon vor dem Prozeß diskutiert wurden: Diesen zufolge könnte der Lockerbie-Anschlag von der äußerst obskuren palästinensischen Terrorgruppe PFLP-Generalkommando begangen worden sein. Möglicherweise habe es sich um eine Vergeltungsaktion für den Abschuß eines iranischen Passierflugzeugs durch ein US-Kriegsschiff im Persischen Golf gehandelt. Dabei waren am 3. Juli 1988 alle 290 Passagiere und die Crew getötet worden.

* Aus: junge Welt, 31. März 2012


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