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Die NATO in Libyen: Völkerunrecht

Von Arno Klönne

In der Weltpolitik geht Macht vor Recht – diesem alltagsphilosophischen Satz liegen langzeitige historische Erfahrungen zugrunde. Dennoch ist es nicht gleichgültig, welche Normen für den Umgang von Staaten miteinander in mehr oder weniger verbindlicher Weise vereinbart und festgeschrieben sind, als sogenanntes Völkerrecht. Internationale "Gesetze" oder Vereinbarungen geben politische Zielsetzungen an, die regierende Politik muss sich dem Publikum gegenüber mit ihnen legitimieren, an ihnen messen lassen – und sie können Impulse setzen, gegen Handlungen der Machthaber zu opponieren, Widerstand zu entwickeln.

Das "Völkerrecht" ist ein ziemlich lockeres Gebilde. Immerhin hat die Charta der Vereinten Nationen einige feste Punkte gesetzt: Unter der "Geißel des Krieges" soll die Welt nicht mehr leiden, Angriffskriege sollen als Verbrechen behandelt werden, kein Staat soll das Recht haben, in das Selbstbestimmungsrecht eines anderen Staatsvolks einzugreifen. Das klingt gut, aber in der Konkretisierung wird es dann heikel: Erlaubt sind Kriege, so sagen Interpreten des "Völkerrechts", wenn sie der "Verteidigung" dienen, auch der "präventiven", oder wenn sie einen Völkermord verhindern. Auch dann müsse allerdings die "Verhältnismäßigkeit" von militärischem Einsatz und dessen Folgen beachtet werden; das militärische Handeln dürfe nicht mehr Schaden an Leib, Hab und Gut anrichten als beim Nicht-Handeln zu erwarten wäre.

Nun heißt es auszudeuten: Was ist "präventive Verteidigung"? Wann droht "Völkermord"? Wie schätzt man die "Verhältnismäßigkeit" ab? Wer entscheidet darüber, ob diese Kriterien für eine "gerechten" Krieg vorliegen oder eingehalten werden?

Juristische Gedankenspielerei ist das nicht, es verbinden sich damit möglicherweise massenhafte Tötungen und Zerstörungen. Und selbstverständlich kommen in solchen Ausdeutungen massive Machtinteressen zum Zuge.

In der Rechtswissenschaft ist, wenn es um die Fortentwicklung allgemein gehaltener Normen geht, von zwei Methoden die Rede: von der "normativen Kraft des Faktischen" und vom "Präzedenzfall". Die erstgenannte läuft darauf hinaus, dass Fakten ohne Rechtsgrundlage gesetzt werden, die Gesellschaft sich allmählich daran gewöhnt und daraus am Ende womöglich gesetztes Recht wird.

Die zweite bedeutet: Im Rahmen einer undeutlichen allgemeinen Norm treffen Institutionen (hier: Gerichte) eine Entscheidung im konkreten Fall – und diese verallgemeinert sich, sie macht Schule. Die eine wie die andere Methode funktioniert am besten, wenn die öffentliche Meinung Rückhalt für diese Normierung gibt.

Und im Völkerrecht? Der Sachverhalt oder Tatbestand im Falle Libyen: NATO-Staaten haben einen Angriffskrieg geführt, auf ein Recht zur "präventiven Verteidigung" hab en sie sich erst gar nicht berufen, anders als im Irakkrieg, wo die "Bedrohung" behauptet wurde und sich später als erlogen herausstellte. Der militärische Zugriff in Libyen wurde als "humanitäre Intervention" definiert und stützte sich auf eine Resolution des UN-Sicherheitsrats. Diese ermächtigte zu Aktionen, die dem "Schutz der Zivilbevölkerung" dienen sollten.

Die Betreiber des militärischen Angriffs beteuerten zunächst, ein Regimewechsel sei damit nicht angezielt; die innere Entwicklung in Libyen sei Angelegenheit des libyschen Volkes selbst, das nur vor dem Vernichtungswillen eines Diktators behütet werden müsse.

"Resolutionen des UN-Sicherheitsrats sind meistens interpretationsfähig", sagte zufrieden Ex-Außenminister Joschka Fischer dem "Spiegel", er finde es nur höchst ärgerlich, dass die Bundesrepublik sich am Vorstoß gegen Libyen nicht beteiligt hat.

Der Militäreinsatz der NATO allerdings wurde rasch zu einer extrem "kreativen Auslegung" des Beschlusses im UN-Sicherheitsrat: Mit allen militärischen Mitteln und unterstützt durch geheimdienstliche Operationen sowie durch Fremdverwaltung des libyschen Volksvermögens wurde ein Systemwechsel in dem Land von außen durchgesetzt. Die "libyschen Rebellen" gerieten dabei in die Rolle von Hilfswilligen für die geopolitischen und wirtschaftlichen Absichten der intervenierenden NTO-Staaten. Das legitimatorisch so nützliche Bild von einem "Diktator mit seinen Schergen", der "sein ganzes Volk ausrotten" wolle, bestätigte sich keineswegs. Die Zivilbevölkerung in Libyen erlitt durch die Militärschläge hohe Verluste, die Infrastruktur des Landes ist schwer beschädigt.

Ein Ablauf und ein Resultat, die bei der politischen Klasse und in den vorherrschenden Medien der NATO-Staaten Zweifel aufkommen lassen, ob dieser Umgang mit dem "Völkerrecht" vernünftig war? Überhaupt nicht. Auch in der Bundesrepublik dominiert bei Politikern und Publizisten die lauthals verkündete Botschaft, die NATO habe es goldrichtig gemacht, nur stehe Deutschland durch Westerwelles Dummheit nun leider als “Drückeberger” da. Die meisten deutschen Rechtsgelehrten preisen den “rechtsschöpferischen” Charakter der NATO-Militärschläge; eine “Schutzpflicht” sei dort wahrgenommen worden. "Ein historisches Ruhmesblatt " hätten Frankreich, Großbritannien und die USA sich mit ihrem militärischen Einsatz in Libyen erworben, schreibt der "Zeit"-Redakteur Jan Ross; im Verständnis internationaler Politik sei nun "der Weg frei", jetzt wisse man auch in Damaskus und in Teheran, "vielleicht sogar in Havanna und in Peking", dass "die Bomber kommen können".

Das "Völkerrecht", so das Signal des Falles Libyen, bedarf der Interpretation; zuständig dafür sind jene Staaten, die kriegsfähig genug sind, um ihre Ausdeutung zu einem Bombenerfolg zu machen. Staaten, die in ihrer militärischen Ausstattung noch nicht auf dem modernsten Stand sind, werden das als eine Lehre ansehen. Die Rüstungsindustrie hat allen Grund zu Freude. Wenn das alles so weitergeht, wird jedes Volk eine "völkerrechtlich" daherkommende Ankündigung externer Mächte, ihm solle "humanitärer Schutz" zukommen, als lebensgefährlich wahrnehmen müssen. Für die Exporteure und Investoren auf Seiten der militärisch intervenierenden Mächte hingegen ist dieses "modernisierte Völkerrecht" eine stetige Konjunkturspritze: "schöpferische Zerstörung", um mit Schumpeter zu reden. In Libyen werden jetzt schon die Aufträge für den Wiederaufbau und die Besitztümer an den fossilen Ressourcen unter den NATO-Staaten verteilt.

Die Eingriffe der NATO-Staaten in Libyen waren offensichtlich auch motiviert von dem Bestreben, in diesem Land die sich anbahnende "Rebellion" unter Außenkontrolle zu bringen und zu einem Resultat zu führen, das den externen Interessen entsprechen sollte.

In dem gegen das Gaddafi-System rebellierenden Potenzial traten politisch sehr unterschiedliche Kräfte auf. Eine solche aufrührerische Situation birgt das "Risiko" in sich, dass sozial progressive, auf reale Demokratie hinzielende Bewegungen Boden gewinnen. Da gilt es im Sinne der wirtschaftlichen und geostrategischen Verfügungsgewalt der NATO-Staaten "zu sortieren", das "richtige Personal" nach vorne zu schieben, den eigenen Einfluss abzusichern oder wieder herzustellen. Militärische "Schutzhilfe", geheimdienstliche Operationen, diplomatische Taktiken und Steuerung des Geldzuflusses sind dazu geeignete Mittel.

Etwas störend ist, dass sich beim Wahrnehmen der "Schutzverpflichtung" innerkapitalistische Konkurrenz bemerkbar macht, die Ausbeutung von Ressourcen und profitable Aufträge für den Wiederaufbau betreffend. Aber es bleibt ja alles in der "Familie westliche Wertegemeinschaft". Auch als Übernahme des "Patronats" bei zu bändigenden Rebellionen erweist sich Libyen als Mustermethode. Das Völkerrecht wird auf diese Weise in sein Gegenteil verkehrt. Die Berufung auf die Charta der Vereinten Nationen wird zum Zynismus.


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