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Größere Brutalität

Die "no-fly-zone" in Libyen erinnert an Flugverbote über Irak und Bosnien-Herzegowina. Allerdings bomben USA und NATO heute von Anfang an massiver

Von Knut Mellenthin *

Die Verhängung eines Flugverbots im gesamten libyschen Luftraum durch die Resolution 1973 des UN-Sicherheitsrats hat zwei historische Vorbilder aus den 1990er Jahren: Irak und Jugoslawien. In beiden Fällen hatte aber das militärische Vorgehen des Westens zumindest in der Anfangszeit nicht die Brutalität der Bomben- und Raketenangriffe, denen Libyen dieser Tage ausgesetzt ist. Punkt 8 der Entschließung vom 17.März 2011 erteilt lediglich Vollmacht, »alle erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen«, um die »Befolgung« des Flugverbots durchzusetzen. Das setzt jedoch nicht automatisch voraus, daß »vorbeugend« im großen Stil Flughäfen zerstört und Anlagen der Luftabwehr ausgeschaltet werden. In der Vergangenheit erfolgten keine militärischen Aktionen, solange sich die betroffenen Länder an das Flugverbot hielten und ihre Luftabwehr nicht gegen die westlichen »Patrouillenflüge« aktivierten.

Angriffe auf Luftabwehr

Freilich kommt das jetzige Vorgehen der NATO nicht überraschend. US-Kriegsminister Robert Gates hatte schon am 2. März in der Anhörung eines Kongreßausschusses vorgetragen, daß die Errichtung einer Flugverbotszone über Libyen mit Angriffen auf die Luftabwehr beginnen müsse. Das war damals als Warnung an die eigenen Politiker verstanden worden, sich nicht ohne umfassende Analyse aller Aspekte in ein nicht berechenbares militärisches Abenteuer zu stürzen. Sachlich zwingend war die These von Gates eigentlich nicht, und sie ergibt sich auch nicht aus dem äußerst vagen und knappen Wortlaut der Resolution 1973. Aber die Welt wußte spätestens seit dieser Erklärung, womit zu rechnen war.

Über Irak wurden unter Führung der USA nach dem Krieg von 1991 zwei Flugverbotszonen militärisch durchgesetzt. Die eine, schon im April des Jahres eingerichtete, betraf das gesamte, überwiegend von Kurden bewohnte Gebiet nördlich des 36. Breitengrades. Angeblich sollte so die Bevölkerung vor Angriffen der irakischen Streitkräfte geschützt werden. Tatsächlich erreichten die USA und ihre Verbündeten auf diese Weise, in Verbindung mit Waffenlieferungen und dem Einsatz von Spezialeinheiten am Boden, das Entstehen einer weitgehend zugriffsfreien kurdischen Autonomie.

Im August 1992 ordnete die US-Regierung die Einrichtung einer zweiten Flugverbotszone an. Sie wurde mit dem Schutz des schiitischen Bevölkerungsteils begründet und lag südlich des 32. Breitengrades. Im August 1996 wurde sie bis zum 33. Breitengrad ausgedehnt. Unterstützt wurden die USA bei der Durchsetzung des Flugverbots hauptsächlich von Großbritannien und Frankreich. Letzteres zog sich allerdings 1997 ganz aus diesem Unternehmen zurück, weil seine Führung die weitere feindselige Isolierung des Irak für kontraproduktiv hielt. Zu keinem Zeitpunkt handelte es sich um eine NATO-Operation.

Die US-Regierung und ihre Verbündeten beriefen sich zur Legitimierung ihres Vorgehens auf die Resolution 688, die der UN-Sicherheitsrat am 5. April 1991 gegen die Stimmen Kubas, Simbabwes und Jemens verabschiedet hatte. Darin war zwar die Rede von »Sorge über die Unterdrückung des irakischen Volkes, einschließlich der Bevölkerung von Irakisch-Kurdistan« und von der Forderung nach Respektierung der Menschenrechte. Ein Flugverbot oder andere Zwangsmaßnahmen waren jedoch nicht einmal andeutungsweise erwähnt.

Erster Kampfeinsatz

Mit der Resolution 781 wurde ein Flugverbot über Bosnien-Herzegowina – nicht etwa auch über anderen Teilen Jugoslawiens – vom UN-Sicherheitsrat am 9.Oktober 1992 beschlossen. Es galt zunächst lediglich für Militärmaschinen und sah nur eine Überwachung, aber keine Erzwingungsmaßnahmen vor. Einzig und allein China enthielt sich der Stimme. Durch die Resolution 816 wurde das Verbot am 31. März 1993 auch auf alle zivilen Flüge – sofern keine Ausnahmegenehmigungen der UNO vorlagen – ausgeweitet. Außerdem wurden alle Staaten autorisiert und aufgefordert, »alle notwendigen Maßnahmen zu ergreifen«, um die Einhaltung des Flugverbots durchzusetzen. China hatte sich bei der Abstimmung erneut enthalten. Ab April 1993 nahm sich die NATO unter dem Namen »Operation Deny Flight« der Sache an. Deutsche Soldaten waren als Besatzung von AWACS-Aufklärungsflugzeugen dabei.

Es war der erste Kampfeinsatz des westlichen Bündnisses seit seiner Gründung. Die meisten Kriegshandlungen der NATO gegen die bosnischen Serben hingen allerdings nicht mit dem Flugverbot zusammen, sondern wurden mit der Verteidigung der sogenannten Schutzzonen gerechtfertigt, die der UN-Sicherheitsrat seit April 1993 geschaffen hatte.

* Aus: junge Welt, 6. April 2011

Dokumentiert: Russlands Position

"Die Leidenschaft einiger Ratsmitglieder für Methoden, die Gewaltanwendung einschließen, behielt die Oberhand **

Der UN-Sicherheitsrat verabschiedete am 17. März 2011 die Resolution 1973, die alle Länder der Welt zur Gewaltanwendung gegen Libyen ermächtigt. Rußland, China, Indien, Brasilien und Deutschland enthielten sich bei der Abstimmung. Anschließend gab der russische Vertreter Witali Tschurkin folgende Erklärung ab:

Rußland hat sich bei der Abstimmung wegen einer Reihe grundsätzlicher Überlegungen enthalten. Unsere Position bleibt unverändert, daß die Anwendung von Gewalt gegen die Zivilbevölkerung Libyens nicht hingenommen werden kann. Alle Angriffe gegen Zivilisten und andere Verletzungen der internationalen humanitären Gesetzlichkeit und der Menschenrechte müssen sofort und bedingungslos aufhören.

Wir verlangen, daß die wesentlichen Forderungen, die in der einstimmig angenommenen Resolution 1970 enthalten sind, von den libyschen Autoritäten schnell und vollständig erfüllt werden. Das ist noch nicht geschehen. Vor diesem Hintergrund hat sich die Arabische Liga an den Sicherheitsrat mit der Forderung gewandt, sofortige Maßnahmen zu ergreifen, um den Schutz der Zivilbevölkerung sicherzustellen. Das schließt die Errichtung einer Flugverbotszone im libyschen Luftraum ein. Wir haben dieser Forderung unsere volle Aufmerksamkeit gewidmet. Wir haben uns aktiv an den Diskussionen über den Resolutionsentwurf beteiligt. Leider wurde bei der Arbeit an diesem Dokument die übliche Praxis des Sicherheitsrats nicht eingehalten. Kurz gesagt, eine ganze Reihe von Fragen, die von Rußland und anderen Ratsmitgliedern vorgebracht wurden, blieben unbeantwortet. Diese Fragen waren konkret und legitim. Es ging darum, wie die Flugverbotszone durchgesetzt werden sollte, wie die Einsatzregeln aussehen würden und wo die Grenzen der Anwendung von Gewalt liegen würden.

Darüber hinaus verwandelte sich der Entwurf vor unseren Augen, wobei er über das ursprüngliche Konzept, wie es von der Arabischen Liga vorgelegt worden war, hinausging. In den Text wurden Klauseln eingefügt, die möglicherweise die Tür zu einer großangelegten Militärintervention öffnen könnten.

Während der Verhandlungen über den Entwurf hörten wir Erklärungen, in denen das Fehlen solcher Absichten beteuert wurde. Wir haben das zur Kenntnis genommen. Ich unterstreiche nochmals, daß wir konsequent und entschieden für den Schutz der Zivilbevölkerung eintreten. Geleitet von diesem Grundprinzip ebenso wie von gemeinsamen humanitären Werten, die wir mit den Initiatoren der Resolution und den anderen Ratsmitgliedern teilen, hat Rußland die Annahme dieser Resolution nicht verhindert.

Wir bleiben jedoch überzeugt, daß der rascheste Weg zur Erreichung einer robusten Sicherheit für die Zivilbevölkerung und für die langfristige Stabilisierung der Lage in Libyen eine sofortige Waffenruhe wäre. Dies vor allem war das Ziel des Resolutionsentwurfs, den wir am 16. März dem Sicherheitsrat vorgelegt haben. Er unterstützt die entsprechenden Bemühungen des Sonderbotschafters des Generalsekretärs, des Menschenrechtsrates und der Afrikanischen Union, und er betont die Notwendigkeit für eine friedliche Regelung der Situation in Libyen.

Die russische Delegation hat wiederholt vorgeschlagen, eine solche Resolution ohne Zeitverzögerung zu verabschieden, um zahlreiche Menschenleben zu retten. Wir wurden dabei von mehreren Ratsmitgliedern unterstützt und sind ihnen dankbar. Aber die Leidenschaft einiger Ratsmitglieder für Methoden, die Gewaltanwendung einschließen, behielt die Oberhand. Das ist äußerst unglücklich und bedauerlich.

Die ganze Verantwortung für die unvermeidlichen humanitären Folgen der exzessiven Gewaltanwendung von außen wird eindeutig auf den Schultern jener lasten, die eine solche Aktion unternehmen. Falls das geschieht, würden nicht nur die libysche Zivilbevölkerung, sondern auch die Aufrechterhaltung von Frieden und Sicherheit in der gesamten Region Nordafrikas und des Nahen Ostens leiden. Solche destabilisierenden Entwicklungen sollten vermieden werden.

(Übersetzung: Knut Mellenthin)

** Aus: junge Welt, 6. April 2011




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