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UN-Bombendrohung gegen Libyen

Kriegsszenario: Sicherheitsrat beschließt Flugverbotszone / Deutschland enthält sich / NATO bereitet Luftangriffe vor *

Unter dem Druck eines bevorstehenden Militäreinsatzes des Auslands hat Libyen ein sofortiges Ende aller Kampfhandlungen verkündet. Der libysche Außenminister Kussa sagte am Freitag, sein Land müsse als UN-Mitglied die Resolution des Sicherheitsrats »gezwungenermaßen« akzeptieren. Die Vorbereitungen zur Einrichtung einer Flugverbotszone über Libyen liefen derweil auf Hochtouren.

Nach der vom UN-Sicherheitsrat beschlossenen Flugverbotszone über Libyen zum Schutz der Zivilbevölkerung hat die Regierung in Tripolis die sofortige Feuereinstellung angekündigt. Außenminister Mussa Kussa erklärte am Freitag die Einstellung aller Kampfhandlungen.

Wenige Stunden zuvor hatte das höchste UN-Gremium in New York einer Flugverbotszone über Libyen zugestimmt. Kussa verurteilte diese Maßnahme bei seiner im Fernsehen übertragenen Erklärung in Tripolis. Die Resolution schloss die Ermächtigung zu anderen militärischen Maßnahmen ein, um den Schutz der Zivilbevölkerung zu gewährleisten. Ausgeschlossen wurde lediglich der Einsatz von Bodentruppen.

»Die Republik Libyen unternimmt alles, um die Zivilbevölkerung zu schützen und ihr die benötigte humanitäre Hilfe zukommen zu lassen«, führte Kussa weiter aus. »Als ein Mitglied der Vereinten Nationen akzeptieren wir es, dass wir verpflichtet sind, Sicherheitsratsresolutionen zu respektieren.« Libyen sei bereit zum Dialog »mit jedem, dem die territoriale Integrität Libyens ein Anliegen ist«, fügte er hinzu.

Noch kurz vor der Erklärung Kussas hatten regierungstreue Truppen einen neuen Angriff gegen die von Rebellen gehaltene Stadt Misurata gestartet. Nach Informationen der Rebellen wurden dabei vier Personen getötet. Misurata, 210 Kilometer östlich von Tripolis, ist mit rund 400 000 Einwohnern die drittgrößte Stadt des Landes. Die Worte Kussas standen in deutlichem Widerspruch zu den Ankündigungen des libyschen Staatschefs Muammar al-Gaddafi. Kurz vor der Billigung der Sicherheitsratsresolution hatte dieser in der Nacht zum Freitag gedroht, die Aufständischen-Hochburg Bengasi zu erobern und »ohne Gnade« gegen »Verräter« vorzugehen. Das libysche Verteidigungsministerium hatte mit Angriffen auf die zivile Seefahrt im Mittelmeer gedroht. Beobachter gehen davon aus, dass Gaddafi mit der raschen Feuerpause versucht, einen ersten Militärschlag der NATO gegen Ziele in seinem Land abzuwenden. Ein Vertreter der libyschen Opposition erklärte, die Regierungstruppen setzten ihre Angriffe auch nach Verkündung der Waffenruhe fort.

Kanada schickte bereits Kampflugzeuge nach Europa. Italien ist bereit, Militärbasen sowie Flugzeuge für den Kampfeinsatz zur Verfügung zu stellen. Die Bundesregierung will sich nicht an einem Militäreinsatz in Libyen beteiligen und enthielt sich im Sicherheitsrat der Stimme. Erwogen wird aber, die NATO durch den Einsatz deutscher Soldaten bei den AWACS-Aufklärungsflügen in Afghanistan zu entlasten, wie Bundeskanzlerin Angela Merkel am Freitag sagte. Außenminister Guido Westerwelle sprach von einem »schwierigen Abwägungsprozess«. Der Einsatz deutscher Soldaten bei den AWACS-Flügen in Afghanistan könnte Einheiten der NATO für einen möglichen Einsatz über Libyen freigeben. Die Bundesregierung führe bereits entsprechende Gespräche mit dem Bündnis, sagte Merkel. Es werde darüber beraten, »ob wir im Rahmen der Gesamtbelastung der NATO Aufgaben übernehmen könnten«. Merkel nimmt am Samstag an einem Gipfeltreffen europäischer und arabischer Staaten zu Libyen in Paris teil.

* Aus: Neues Deutschland, 19. März 2011


NATO eröffnet neue Front

UN-Sicherheitsrat ermächtigt Westen zu Angriffen auf Libyen. Aufständische jubeln über Waffenhilfe, Bevölkerung in Tripolis reagiert mit Entsetzen

Von Rüdiger Göbel **


Zum Jahrestag der US-Invasion im Irak hat sich der Westen zu einem weiteren Krieg gegen ein ölreiches arabisches Land ermächtigt. Acht Jahre nach der Bombardierung von Bagdad wird Libyen ins Visier genommen. In der Nacht zum Freitag hat der UN-Sicherheitsrat in New York unter der Führung der USA, Großbritanniens und Frankreichs mehrheitlich eine namentlich nicht genannte Koalition der Willigen dazu ermächtigt, den dortigen Bürgerkrieg zu internationalisieren. Resolution 1973 autorisiert »alle notwendigen Maßnahmen«, um die libysche Zivilbevölkerung vor Angriffen Muammar Al-Ghaddafis zu schützen. Ausgeschlossen wird zunächst nur die Präsenz von »Besatzungstruppen«.

Frankreich bekräftigte, umgehend zuschlagen zu können. Großbritannien und Belgien stellten Kampfflugzeuge bereit. Spanien und Italien stellten Militärstützpunkte für die Angriffe zur Verfügung. Auch NATO-Partner Griechenland wurde als Basis genannt. Schon jetzt ist die westliche Kriegsarmada vor ­Libyen größer als in den 90er Jahren vor der Küste Jugoslawiens, das fast auf den Tag genau vor zwölf Jahren Ziel einer NATO-Aggression war.

Die in den vergangenen Tagen in die Defensive gezwungenen Aufständischen jubelten in der von ihnen gehaltenen Stadt Bengasi über die in Aussicht stehende militärische Großunterstützung wie 1999 die kosovo-albanische Untergrundarmee UCK. Neben Luftangriffen auf Stellungen der libyschen Regierungstruppen stehen Ghaddafi-Gegnern laut Spiegel online auch Waffenlieferungen via Ägypten in Aussicht – was, nur nebenbei bemerkt – gegen UN-Resolution 1973 verstößt. In der libyschen Hauptstadt Tripolis reagierten die Menschen auf die UN-Resolution mit einer »Mischung aus Fanatismus und Angst«, wie Korrespondenten des lateinamerikanischen TV-Sendeverbund Telesur berichteten. Die libysche Regierung bekräftigte am Freitag ihre Bereitschaft zu Gesprächen mit den Aufständischen und verkündete eine sofortige einseitige Waffenruhe.

Wenige Stunden nach der UN-Entschließung hatten sich die 28 Mitglieder der NATO in Brüssel zu ersten Gesprächen über die Durchsetzung einer Flugverbotszone in Libyen getroffen. Die großen westlichen Nachrichtenagenturen verbreiteten erste Übersichten zu möglichen Angriffszielen in dem nordafrikanischen Land. Am Wochenende soll das genaue Kriegsprozedere abgestimmt werden. Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel nimmt am Samstag auf Einladung des französischen Staatspräsdenten Nikolas Sarkozy an einem Libyen-Gipfel in Paris teil. Deutschland habe sich bei der Abstimmung im Sicherheitsrat zwar enthalten und werde sich »nicht an militärischen Maßnahmen beteiligen«, so Merkel. Tatsächlich will die schwarz-gelbe Regierung das deutsche Kriegskontingent in Afghanistan aufstocken – konkret sollen Soldaten der Bundeswehr die Luftüberwachung mit AWACS-Flugzeugen übernehmen– um NATO-Kräfte am Hindukusch für den Krieg in Libyen abkommandieren zu können.

SPD und Bündnis 90/Die Grünen begrüßten die Kriegsresolution des UN-Sicherheitsrats. Die Sozialdemokraten kritisierten die »Zurückhaltung« und »Mutlosigkeit« der Bundesregierung, weil sie sich bei der Abstimmung in dem UN-Gremium enthalten hatte.

** Aus: junge Welt, 19. März 2011


Die Schwelle zum Krieg

Von Roland Etzel ***

Wenn es auch so aussieht, als hätte die UN-Resolution gegen Libyen zunächst für ein Einhalten im Bürgerkrieg gesorgt: Diese Hoffnung – wenn sie denn tatsächlich der Intention der Initiatoren des Beschlusses entspricht – ist trügerisch. Die Schwelle zum offenen Krieg ist noch niedriger geworden. Ähnlich der Handgranate, deren Splint gezogen ist, lässt sich die nun herbeigestimmte Eskalationsstufe im Libyen-Konflikt nur schwer rückgängig machen. Die NATO kann jetzt, wann immer sie will, beschließen loszuschlagen.

Was Libyens Staatschef Gaddafi, der einen Tag zuvor noch Kapitulationsultimaten an die Rebellen von Bengasi stellte, tatsächlich beabsichtigt, ist wenig durchschaubar. Man hat aber von seiten der NATO auch keinen erkennbaren Versuch unternommen, es in Erfahrung zu bringen. Das wäre das mindeste gewesen, wenn es tatsächlich, wie behauptet, in Libyen um die Abwendung einer »humanitären Katastrophe« ginge. Vermittelnd eingreifen kann man jetzt noch immer, wenn wirklich Interesse an einer nachhaltigen Entschärfung der inneren Konflikte besteht. Aber die Zweifel an diesem Interesse sind größer geworden. Die schon aus den Fällen Milosevic/Jugoslawien und Saddam/Irak bekannten Dämonisierungsmuster fanden für Gaddafi und Libyen ihre Wiederholung, zum Beispiel durch die verantwortungslose Behauptung, in Libyen müssen einem Völkermord durch einen »irren Diktator« Einhalt geboten werden.

Deutschland hat sich zu dem gewiss weisen Entschluss durchgerungen, dem Beschluss für ein Kriegsszenario gegen Libyen seine Zustimmung zu versagen. Klar Nein gesagt hat von den Bundestagsparteien aber allein die LINKE. Westerwelle versichert, dass mit der Stimmenthaltung im Sicherheitsrat eine Absage an jede Präsenz deutscher Truppen in Libyen verbunden ist. Das ist zu begrüßen. Den Eindruck, dass man die Intentionen beispielsweise Frankreichs dennoch im Grunde teilt, haben FDP und Union gestern aber nicht ausräumen können – nicht hinsichtlich strategischer Ziele wie der Flüchtlingsabwehr und auch nicht, was die Beteiligung am möglichen Kriegseinsatz betrifft. Denn über AWACS-Angebote auf dem anderen Kriegsschauplatz Afghanistan zur Entlastung der NATO ist man auf leisen Sohlen dennoch im Mittelmeer dabei.

Dass Merkel und Westerwelle für ihr Nicht-Ja zur Flugverbotszone in der UNO ausgerechnet von Rot und Grün gestern im Bundestag angezählt wurden, verwundert nur insofern, als dass sich mit Gabriel und Trittin zuvor beide Parteichefs lobend zu Westerwelles Enthaltung geäußert hatten – wie auch die LINKE. Tatsächlich erlebten in der Parlamentsdebatte viele Reflexe der rot-grünen Kriegskoalition ihre Auferstehung, mit denen 1999 die deutsche Bevölkerung für den ersten Kriegseinsatz seit dem zweiten Weltkrieg reifgeredet werden sollte. Die bizarre Situation, dass sich Schwarz-Gelb faktisch gegen »Friedensvorwürfe« ausgerechnet seitens der einstigen Ökopaxe zur Wehr setzen muss, ist eine bisher kaum erlebte Perversion des Wahlkampfes.

* Aus: Neues Deutschland, 19. März 2011


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