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Zerfallender Staat

Libyen ein Jahr nach dem Lynchmord an Ghaddafi

Von Knut Mellenthin *

Ein Jahr nach der Ermordung von Staatschef Muammar Al-Ghaddafi am 20. Oktober 2011 bietet Libyen ein Bild der Zerrüttung: Unregierbarkeit, Dutzende rivalisierende Milizen und die Zerstörung Jahrhunderte alter Bauwerke aus Fanatismus und Intoleranz sind kaum zu übersehende Zerfallserscheinungen. Und dennoch gibt es in dem anscheinend unkontrollierbaren Chaos eine Insel der Stabilität: Die Ölproduktion hat, nachdem sie während des Bürgerkriegs zeitweise fast komplett eingestellt worden war, wieder ihre frühere Höhe von 1,6 Millionen Barrel pro Tag erreicht. Wo die Einnahmen aus dem Ölexport – es sind in diesem Jahr vermutlich mehr als 40 Milliarden Dollar – bleiben und wie sie verteilt werden, ist nicht bekannt. Der libysche Staat, soweit von einem solchen überhaupt gesprochen werden kann, gibt vor, er sei so klamm, daß er ohne US-amerikanische Hilfsgelder nicht einmal die Gehälter seiner Angestellten regelmäßig bezahlen kann.

In der politischen Realität sind die radikalen islamischen Traditionalisten, die sogenannten Salafisten, in Libyen erheblich schwächer, als es angesichts spektakulärer Aktionen und schriller Äußerungen den Anschein hat. Von den 80 Sitzen in der Nationalversammlung, die bei der Wahl im Juli an Parteikandidaten zu vergeben waren, fielen 39 an das säkularistische Bündnis von Mahmud Dschibril und nur 17 an die Gerechtigkeits- und Aufbaupartei der nicht einmal besonders extremen Muslimbrüder. Das ist freilich nicht das ganze Bild, da weitere 120 Mandate von örtlichen Abgeordneten ohne erklärte Parteizugehörigkeit eingenommen werden. Die bisherigen Abstimmungen der Nationalversammlung zeigen aber, daß Säkularisten und gemäßigte Muslime in der Mehrheit sind.

Das Hauptproblem des Landes ist gegenwärtig nicht der Salafismus, sondern das Unwesen der zahlreichen Milizen, deren Loyalitäten mehr lokal, tribal oder kriminell motiviert sind als durch religiösen Extremismus. Der ehemalige US-Sicherheitschef in Tripolis, Oberstleutnant Andrew Wood, behauptete dieser Tage in der Anhörung eines Kongreßausschusses, daß die »Präsenz« von Al-Qaida in Libyen von Tag zu Tag wachse, und setzte hinzu: »Sie sind bestimmt mehr verankert als wir.« Indessen sind die amerikanischen Dienststellen zwar überhaupt nicht zurückhaltend, irgendwelche Milizen, über die man kaum etwas weiß, als »mit Al-Qaida verbunden« zu bezeichnen. Sie passen aber vollständig, wenn es darum geht zu definieren, was »Al-Qaida« eigentlich ist, welche Stärke und welche Aktivitäten ihr heute noch zuzuschreiben sind.

Der Sturm auf das US-Konsulat im ostlibyschen Bengasi am 11. September, bei dem vier US-Amerikaner, darunter Botschafter Christopher Stevens, getötet wurden, hat vordergründig zu einem Rückschlag für die Milizen geführt, auch wenn diese sich alle von den Vorgängen distanziert haben. In mehreren Städten, vor allem aber in Bengasi, gab es Massendemonstrationen gegen bestimmte Milizen, angeblich mit mehreren Zehntausend Teilnehmern, die eine klare proamerikanische und antisalafistische Prägung hatten. Während dieser Aktionen wurden mehrere Miliz-Hauptquartiere belagert und angeblich »gestürmt«. Einige Milizen erklärten sogar ihre Selbstauflösung – zumindest wurde dies in den Medien so interpretiert. Anschließend ordnete Übergangspräsident Mohammed Al-Magariaf die Auflösung und Entwaffnung aller »illegalen« Milizen innerhalb von 48 Stunden an.

Das Wort »illegal« zeigt, wo das Problem liegt: Etliche Milizen gelten als regierungsnah, werden geduldet oder sogar unterstützt und waren auch an den Demonstrationen gegen ihre Konkurrenten beteiligt. Was »legal« und »illegal« ist, hängt nicht immer von einer speziellen religiösen Orientierung ab, sondern von der Kooperation oder Nicht-Kooperation mit den Regierungsstrukturen. Außerdem: Die meisten Milizen, die während der Demonstrationen ihre Stützpunkte räumten, taten das freiwillig und unter Mitnahme aller Waffen. Ihnen ging es hauptsächlich darum, ein für ihr Ansehen und ihren Zusammenhalt schädliches Blutvergießen »unter muslimischen Brüdern« zu vermeiden. Wie berichtet wird, hat kaum eine Miliz ihre Mitglieder wirklich nach Hause geschickt. Die meisten haben lediglich ihre Standorte gewechselt oder sind »in der Wüste untergetaucht«.

Unterdessen bereitet die US-Regierung offenbar Militärschläge gegen Gruppen und Personen vor, die sie der Beteiligung an dem Sturm auf das Konsulat in Bengasi beschuldigen will. CIA und Militär haben ihre während des Bürgerkriegs begonnenen Drohnenflüge über Libyen wieder aufgenommen. Die Washington Post meldete am Freitag, daß CIA-Chef David Petraeus das Weiße Haus drängt, dem Geheimdienst zehn zusätzliche Drohnen zu bewilligen, die in Libyen und anderen Ländern Nordwestafrikas stationiert werden sollen.

* Aus: junge Welt, Samstag, 20. Oktober 2012


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