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Jagd auf Journalisten

Kritische Berichterstattung über den Krieg in Libyen unerwünscht. Sorge um Reporter von Russia Today und Red Voltaire

Von André Scheer *

Tripolis versinkt im Chaos. Die Kämpfe um die libysche Hauptstadt halten an, und eine klare Übersicht über die Lage fehlt. Die Gefangenenhilfsorganisation Amnesty International warnte am Freitag (26. Aug.) vor schweren Menschenrechtsverletzungen durch die verschiedenen Konfliktparteien. Die Truppen des langjährigen Staatschefs Muammar Al-Ghaddafi wurden von der in London ansässigen Menschenrechtsorganisation unter anderem beschuldigt, gefangengenommene Jungen im Gefängnis Abu Slim in Tripolis vergewaltigt zu haben. Insgesamt seien während des Konflikts Tausende Männer nach ihrer Festnahme durch die Regierungstruppen »verschwunden«. Auch den Rebellen warf Amnesty International vor, Gefangene unter unmenschlichen Bedingungen festzuhalten und zu mißhandeln. So würden 125 Menschen in einer einzigen Zelle eingesperrt. Opfer von Übergriffen würden auch zahlreiche Immigranten aus dem südlichen Afrika, die beschuldigt würden, Söldner Ghaddafis zu sein. Tatsächlich handelte es sich bei ihnen jedoch um Arbeiter, die lediglich aufgrund ihrer Hautfarbe in das Visier der Rebellen geraten und von diesen mit ihrer »Beseitigung« oder Hinrichtung bedroht worden seien.

Vor diesem Hintergrund wächst die Sorge um ein halbes Dutzend unabhängiger Journalisten, die in den vergangenen Wochen alternative Nachrichten aus Libyen verbreiteten. Der Internetdienst Red Voltaire berichtete, Aufständische hätten während der Evakuierung der im Hotel Rixos in Tripolis festsitzenden Journalisten am Mittwoch versucht, den französischen Journalisten Thierry Meyssan zu verhaften. Das sei jedoch von Vertretern des Roten Kreuzes verhindert worden. Die Reporter seien von den Helfern dann in das Hotel Corinthia gebracht worden, das in dem von den Rebellen kontrollierten Teil der libyschen Hauptstadt liegt. Dort stünden sie nun nicht mehr unter dem Schutz der internationalen Hilfsorganisation, warnte Red Voltaire. Neben Meyssan befinden sich dem Portal zufolge auch seine Mitarbeiter Mahdi Darius Nazemroaya, Mathieu Ozanon und Julien Teil unter den Pressevertretern,

Seit mehreren Tagen fehlt zudem jede Spur von Lizzie Phelan, die als Korrespondentin für den russischen Nachrichtensender Russia Today und das iranische Press TV arbeitete. Ihr Internetblog ist abgeschaltet, ihr Konto beim Kurznachrichtendienst Twitter und ihre Seite bei Facebook sind gelöscht worden. Ob sie dies selbst veranlaßt hat, oder ob die Abschaltung auf eine Intervention durch die Rebellen oder die NATO zurückzuführen ist, war unklar. Am Freitag war ihre Seite unter der neuen Adresse lizziesliberation.dk wieder erreichbar. Phelan soll zu den 36 am Mittwoch in Tripolis befreiten Journalisten gehört haben. Am Freitag kursierten Gerüchte, sie befände sich auf einem der zwei von der Internationalen Organisation für Migration (IOM) gecharterten Schiffe, mit denen am Donnerstag und Freitag insgesamt knapp 500 Menschen aus der Hauptstadt evakuiert wurden. Eine Bestätigung dafür gab es nicht.

Die NATO und der »Nationale Übergangsrat« in Bengasi hatten den staatlichen Medien Libyens in den vergangenen Monaten wiederholt vorgeworfen, durch ihre Berichterstattung über die Aggression und die zahlreichen Opfer eine »Gefahr für die Zivilbevölkerung« darzustellen. Das westliche Militärbündnis begründete so auch die Bombardierung des libyschen Fernsehens Ende Juli. Befürchtet wird jetzt, daß die Rebellen die betroffenen Journalisten zu einer ebensolchen »Bedrohung« erklären könnten, weil sie sich der von den meisten internationalen Medien verbreiteten Darstellung der Ereignisse verweigert hatten. Sie berichteten seit Beginn des NATO-Angriffskrieges gegen das nordafrikanische Land regelmäßig auch über die zivilen Opfer, die die bis heute anhaltenden Bombenangriffe forderten.

Der französische Reporter Meyssan hatte etwa über die Unterstützung der Aufständischen durch Spezialeinheiten der britischen und französischen Armee berichtet, was mittlerweile von London bestätigt wurde. Auch noch nach dem Sturm auf Tripolis, als fast alle europäischen und nordamerikanischen Medien bereits den Sieg über Ghaddafi meldeten, widersprachen die Reporter den Jubelberichten und informierten über anhaltenden Widerstand der Regierungstruppen.

Weiter aus Tripolis berichten kann hingegen der Korrespondent des lateinamerikanischen Nachrichtensenders TeleSur, Rolando Segura. Am Freitag informierte er aus der libyschen Hauptstadt über die anhaltenden Gefechte zwischen Aufständischen und Regierungstruppen. Die Einwohner von Tripolis hätten sich weiterhin in ihren Häusern verbarrikadiert, die Geschäfte blieben geschlossen, meldete der TeleSur-Korrespondent.

* Aus: junge Welt, 27. August 2011


Gefesselt und mit Kopfschuß

In Tripolis stapeln sich die Leichen. Dutzende Tote in verlassenem Krankenhaus und vor Regierungssitz **

Die von der NATO unterstützten Aufständischen in Libyen machen offensichtlich gezielt Jagd auf schwarzafrikanische Gastarbeiter, die sie für »Söldner« im Dienst Muammar Al-Ghaddafis halten. Berichten westlicher Nachrichtenagenturen zufolge werden sie, einmal gefangen, gefoltert und ermordet. Über 40 Tote wurden am Freitag (26. Aug.) in einem verlassenen Krankenhaus im Viertel Abu Salim entdeckt, berichten die AP-Reporter Karin Laub und Hadeel Al-Shalchi aus Tripolis. Weitere lagen auf Grünstreifen vor dem eroberten Regierungssitz Bab Al-Asisija. »Der Anblick dieser Toten – teils die Hände mit Plastikbändern gefesselt und mit Kopfschüssen – weckt den Verdacht, daß Zivilpersonen regelrecht hingerichtet wurden«, berichtet das Journalistenduo.

Die Identität der Toten vor dem Bab-Al-Asisija-Gelände sei unklar. Vermutlich aber handele es sich um Anhänger Ghaddafis, die zum Zeichen der Solidarität mit diesem seit Monaten auf den Grasflächen campiert hatten. Fünf oder sechs Leichen lagen demach in einem Zelt auf einer Verkehrsinsel. Einer der Toten hatte noch einen Infusionsschlauch im Arm. Ein anderer war vollkommen verkohlt und hatte keine Beine mehr. Der Leichnam eines Arztes, noch im grünen OP-Anzug, war in den Kanal geworfen worden.

Im Stadtviertel Abu Salim, wo in den vergangenen Tagen besonders heftig gekämpft wurde, war das viergeschossige Krankenhaus am Freitag morgen vollkommen leer, der Boden mit Glasscherben und Blut bedeckt, Ausrüstung und Material verstreut. »In einem Raum lagen 21 Leichen auf Bahren. Weitere 20 lagen mit Decken zugedeckt auf dem Hof neben dem Parkplatz«, melden Laub und Al-Shalchi. Alle Toten hätten dunkle Hautfarbe gehabt. Als würde das Lynchmorde rechtfertigen, berichteten die AP-Kollegen weiter: »Ghaddafi hatte viele Schwarzafrikaner als Söldner angeworben. Andere waren als Gastarbeiter ins Land gekommen und in dem Durcheinander des Aufstands häufig fälschlich als Söldner verdächtigt und schikaniert worden.«

In einer an eine Feuerwache angeschlossenen Ambulanz in Abu Salim waren Männer zurückgelassen worden, mutmaßlich Kämpfer oder Anhänger Ghaddafis. »Sie stöhnten und baten um Wasser«, so Laub und Al-Shalchi. Die AP-Reporter stoppten ein Taxi, um einige der Verletzten aus der Ambulanz in ein Krankenhaus zu bringen. Der Fahrer willigte zunächst ein. Doch Männer aus der Nachbarschaft schritten ein und erklärten, die Leute müßten erst »vernommen« werden, bevor man sie wegbringen könne.
(dapd/jW)

* Aus: junge Welt, 27. August 2011


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