Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Massenflucht aus dem umkämpften Libyen

Beratung über Venezuelas Vermittlungsvorschlag / LINKE kritisiert deutsche Rüstungslieferungen *

Mit Boden- und Luftangriffen versuchen die Anhänger des libyschen Machthabers Muammar al-Gaddafi, die Aufständischen zurückzudrängen. Unterdessen geht die Evakuierung von Flüchtlingen weiter.

Das libysche Staatsfernsehen meldete am Sonntag die Rückeroberung der Städte Ras Lanuf, Tobruk und Misrata, was die Aufständischen umgehend dementierten. Am Sonntagmorgen flog die Luftwaffe zwei Angriffe auf Posten der Aufständischen in der strategisch wichtigen Hafenstadt Ras Lanuf, wobei nach Angaben der Gaddafi-Gegner jedoch niemand verletzt wurde. Das Zentrum der drittgrößten Stadt Misrata wurde nach Angaben eines Bewohners mit Panzerfeuer angegriffen. Wenn die internationale Gemeinschaft nicht eingreife, werde es ein Blutbad geben, warnte der Bewohner.

Die EU entsandte zur Einschätzung der nötigen Hilfsmaßnahmen ein Expertenteam nach Libyen.

Unterstützt von USA und EU, haben Tunesien, Algerien und Ägypten am Wochenende ihre Bemühungen verstärkt, Flüchtlinge aus dem benachbarten Libyen aufzunehmen und nach Hause zu bringen. An der Evakuierung beteiligten sich Schiffe und Flugzeuge der Bundeswehr. Drei Schiffe der Deutschen Marine nahmen in Tunesien mehr als 400 ägyptische Flüchtlinge aus Libyen an Bord.

Das linke lateinamerikanische Staatenbündnis Alba beriet den Vorschlag von Venezuelas Staatschef Hugo Chávez zur Entsendung einer Friedenskommission nach Libyen. Tripolis unterstütze einen Dialog, sagte der venezolanische Außenminister Nicolás Maduro bei der Sitzung in Caracas. »Sie haben uns bevollmächtigt, die Mitglieder auszusuchen und die Teilnahme an diesem Dialog zu koordinieren«, betonte Maduro unter Hinweis auf ein Schreiben des libyschen Außenministeriums. »Wir sind für die Einheit Libyens, die Diplomatie des Friedens und gegen die kriegerische Version, die die NATO und die USA dem libyschen Volk aufdrängen wollen.«

Die LINKE-Fraktion im Bundestag übte scharfe Kritik an der Aufrüstung libyscher Sicherheitskräfte durch deutsche Firmen. Fraktionsvize Jan van Aken wies darauf hin, dass mit Genehmigung der Bundesregierung allein im Jahr 2009 Rüstungsgüter im Wert von 53,2 Millionen Euro an Libyen geliefert worden seien. Im Zeitraum von 2005 bis 2009 betrug das Volumen demnach insgesamt 83,5 Millionen Euro. Van Aken berief sich auf die Rüstungsexportberichte der Bundesregierung sowie auf eine Antwort auf eine parlamentarische Anfrage der Fraktion.

* Aus: Neues Deutschland, 7. März 2011


Sprungbrett Kreta

Von Arnold Schölzel **

Auf der griechischen Mittelmeerinsel Kreta haben die USA und andere NATO-Staaten in den vergangenen Tagen starke Militäreinheiten zusammengezogen. Wie griechische Medien und Augenzeugen am Sonnabend (5. März) berichteten, sind zwei große US-Schiffe in der Bucht von Souda eingelaufen, der Hubschrauberträger »USS Kearsarge« mit rund 1200 Besatzungsmitgliedern, darunter 800 Marineinfanteristen, und das amphibische Landungsschiff »USS Ponce«. Weitere Schiffe der Sechsten US-Flotte, die mit einem Personal von insgesamt 21000 Soldaten im Mittelmeer operiert, werden nach Presseberichten erwartet. Zudem sollen auf dem kretischen Flughafen Souda-Akrotiri Spezialeinheiten aus verschiedenen NATO-Staaten, darunter auch Deutschland, eingetroffen sein.

Der außenpolitische Sprecher der Partei Die Linke im Bundestag, Wolfgang Gehrcke, forderte am Sonntag angesichts des militärischen Aufmarschs ein Ende des »unverantwortlichen Geredes« von FDP- und Grünen-Politikern: »Vor dem Hintergrund der Truppenkonzentration der NATO bei Kreta werden alle Zweideutigkeiten, die einen Militäreinsatz und eine deutsche Beteiligung daran offenhalten, zu einem Spiel mit dem Feuer. All das hilft dem Ghaddafi-Clan.« Gehrcke weiter: »Eine Militärintervention gegen Libyen, die in der NATO ganz offensichtlich vorgeplant und kalkuliert wird, würde zu einem zweiten Irak-Krieg führen. Das kann kein vernünftiger Mensch wollen.«

Allerdings finden weiter Kom­mando­unternehmen westlicher Streitkräfte in Libyen statt. Darauf deutet die Meldung vom Sonntag, wonach ein britischer Diplomat und mehrere britische Soldaten von Aufständischen festgenommen wurden. Die Männer seien nach ihrer Ankunft in einer von Rebellen kontrollierten Zone gefaßt worden und befänden sich derzeit »in Sicherheit«, erklärte ein Sprecher der libyschen Opposition in Bengasi. Laut Sunday Times hatten die bis zu acht Mitglieder der britischen Spezialeinheit SAS den Diplomaten zu einem Gespräch mit Aufständischen durch Rebellengebiet begleitet. Das unerwartete Auftauchen der Spezialeinheit habe die Aufständischen verärgert, worauf die Männer festgesetzt worden seien.

Laut Agenturberichten versuchten Anhänger des libyschen Machthabers Muammar Al-Ghaddafi am Sonntag (6. März) in schweren Kämpfen die Aufständischen zurückzudrängen. Das Staatsfernsehen meldete die Rückeroberung der Städte Ras Lanuf, Tobruk und Misrata, was die Aufständischen umgehend dementierten. Zurückziehen mußten sich die Aufständischen aus Bin Dschawad, etwa 300 Kilometer südwestlich von Bengasi. Der oppositionelle »Nationalrat« unter Vorsitz von Ex-Justizminister Abdel Dschalil erklärte sich am Sonnabend auf seiner ersten Sitzung in Bengasi zum »einzigen Repräsentanten Libyens«. Ghaddafi warnte in einem Interview mit der französischen Zeitung Le Journal de Dimanche den Westen vor Chaos, sollte er gestürzt werden. Er forderte eine Untersuchung der Vorfälle in Libyen durch eine Kommission der UNO oder der Afrikanischen Union.

Die Europäische Union entsandte am Sonntag (6. März) ein Erkundungsteam nach Libyen. Ziel sei es zu prüfen, welche zusätzlichen Hilfen vor Ort benötigt würden. In den vergangenen Tagen wurden Tausende Flüchtlinge mit Flugzeugen und Schiffen verschiedener Länder, darunter drei der deutschen Marine, vor allem von Tunesien aus in Nachbarstaaten Libyens gebracht. Nach Schätzungen der UNO sind inzwischen 191000 Menschen aus dem Land geflohen.

** Aus: junge Welt, 7. März 2011


Libyen

Von Bernd Zeller ***

Man kann gar nicht erkennen, wessen Rückhalt schneller schwindet, der von zu Guttenberg oder der von Gaddafi. Der Druck auf Gaddafi wird immer größer, er nimmt sich den Anwalt von Kachelmann.

Die EU will keine Waffen mehr nach Libyen liefern, was sehr couragiert ist, da gerade jetzt der Bedarf sehr hoch wäre und viele Arbeitsplätze sichern könnte. Geldflüsse werden gestoppt und Familienmitglieder am Einreisen gehindert, wovon diese menschlich enttäuscht sein könnten, nachdem sie immer gern gesehene Gäste waren.

Es könnte sich zu einer Affäre auswachsen, wenn sie auf den Fragebögen, wozu sie die Waffen erwerben möchten, vielleicht Standardfloskeln aus dem Internet eingesetzt haben. Der Schutz vor wildgewordenen Kamelen galt als genehmigungsfähiger Grund, Einsatz zur Niederschlagung des eigenen Volkes wurde nicht angekreuzt. Hier wäre zu prüfen, ob vorsätzlich getäuscht wurde, oder ob man einfach überfordert war.

Unkundige Beobachter könnten sich wundern, wieso man unsererseits so lange äußerst nachsichtig mit den Despoten umgegangen ist. Es war gerade die Gewissheit, dass sie hauptsächlich die eigenen Leute bekämpfen, was dem Frieden zuträglich ist. Da verhält man sich besser nicht provokativ und versucht, durch Geschäfte und persönliche Beziehungen zu den Chefs die Lage zu deeskalieren. Weil unsere Regierungen und damit die Gesprächspartner regelmäßig wechseln, kann man die Zeit nur überbrücken und versuchen, nichts zu verschlimmern.

Gerade wir mit solchen Plagiatsaffären haben nicht das Recht, andere Länder zu bevormunden, wie man eine Demokratie organisiert. Dezente Vorschläge wären aber zu machen: Ein Bundesrat mit Oppositionsmehrheit und eine unübersichtliche Aufteilung behördlicher Zuständigkeiten und die damit verbundene Blockade von Entscheidungen kann gerade in einer Despotie harmonisierend wirken.

*** Aus: Neues Deutschland, 5. März 2011 (Kolumne)


Fragen an die Bundesregierung

Wie kommen G-36-Gewehre nach Libyen? ****

Mehr als 150000 Menschen befinden sich zur Zeit auf der Flucht vor Ghaddafis Soldaten und Söldnern. Diese können die Demokratiebewegung auch dank deutscher Waffentransfers bekämpfen. »In der Amtzeit von Kanzlerin Merkel genehmigte die Bundesregierung die Lieferung militärischer Geländewagen, Hubschrauber, Kommunikationstechnik und Störsender«, sagte Jürgen Grässlin, Bundessprecher der DFG-VK (Deutsche Friedensgesellschaft– Vereinigte Kriegsdienstgegnerinnen und -gegner) und Vorsitzender des RüstungsInformationsBüros (RIB e.V.) am Freitag. »Wenn die Demokratiebewegung in Tripolis unterdrückt wird und Menschen aus Libyen fliehen müssen, dann trifft die Bundesregierung Mitschuld.«

»Nähme die Bundesregierung die eigenen ›Politischen Grundsätze zum Rüstungsexport‹ ernst, dann hätte das Regime Ghaddafi niemals Waffen und Rüstungsgüter aus Deutschland erhalten dürfen«, erklärte Paul Russmann, Sprecher der Kampagne gegen Rüstungsexport bei Ohne Rüstung Leben (ORL). »Libyen wird seit vielen Jahren als kritisch zu bewertendes Empfängerland von der Fachgruppe Rüstungsexport der Gemeinsamen Konferenz Kirche und Entwicklung, GKKE, angesehen.« Dennoch habe die Bundesregierung »den Genehmigungswert deutscher Rüstungstransfers an Libyen von 2008 zu 2009 auf 53 Millionen Euro verdreizehnfacht«.

In diesen Tagen tauchen erste Bilddokumente auf, die sogar den Einsatz von G-36-Gewehren in den Händen der Familie Ghaddafi belegen. Die Sturmgewehre von Heckler & Koch kommen in mehr als 30 Staaten zum tödlichen Einsatz, darunter Georgien und Mexiko – und jetzt sogar noch Libyen, so Grässlin. Die Gewehrlieferungen erfolgten offenbar auf legalem und illegalem Wege.

Grässlin und Russmann fordern die Bundesregierung auf, »den Export und die Lizenzvergaben von G-36-Lieferungen in jedwede Krisen- und Kriegsgebiete zu unterbinden, vergebene G-36-Lizenzen zurückzuziehen und keine neuen zu vergeben«. Die Sprecher der DFG-VK, ORL und RIB e.V. sehen die Bundesregierung in der Pflicht, drängende Fragen zum Tatort Libyen sofort zu beantworten: »Hat die Firma Heckler & Koch GmbH eine G-36-Ausfuhrgenehmigung für Libyen erhalten? Wenn nein: Auf welchem Weg gelangten die Sturmgewehre in die Hände des Ghaddafi-Regimes?«
(jW)

**** Aus: junge Welt, 5. März 2011


Zurück zur Libyen-Seite

Zur Seite "Flucht, Migration"

Zur Seite "Rüstungsproduktion, Rüstungsexport, Waffenhandel"

Zurück zur Homepage