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"Die Bundesregierung wird sich nicht zwangsläufig an militärischen Aktionen beteiligen"

Ein aufschlussreicher Wortwechsel im Anschluss an eine dringliche Frage der Abgeordneten Sevim Dağdelen (Die Linke) zur deutschen Libyen-Politik


D O K U M E N T I E R T


Deutscher Bundestag - Berlin, Mittwoch, den 6. April 2011

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:

(...) Wir kommen zum Geschäftsbereich des Auswärtigen Amtes. Zur Beantwortung steht Frau Staatsministerin Cornelia Pieper zur Verfügung. Es handelt sich um die dringliche Frage 4 der Kollegin Sevim Dağdelen:

Aus welchen Gründen hat die Bundesregierung am 1. April 2011 im Rat der Europäischen Union einer Militäroperation der Europäischen Union, EUFOR Libya, im schriftlichen Verfahren zugestimmt, und beabsichtigt die Bundesregierung die Entsendung von Bundeswehreinheiten im Rahmen dieser Militäroperation?

Cornelia Pieper, Staatsministerin im Auswärtigen Amt:

Vielen Dank, Herr Präsident. - Sehr verehrte Frau Abgeordnete Dağdelen, ich beantworte Ihre Frage wie folgt: Nach dem Beschluss des Rates vom 21. März 2011 und der Annahme des Krisenmanagementkonzepts war ein weiterer Ratsbeschluss erforderlich, um Planungen der Europäischen Union weiterführen zu können. Dieser Ratsbeschluss bedeutet allerdings nicht, dass es automatisch zu einer Operation kommt. Der Beginn einer Operation setzt nämlich die Vorlage und Billigung eines Operationsplanes durch den Rat voraus sowie eine separate Entscheidung des Rates, die Operation auch tatsächlich zu beginnen.

Dies kann im konkreten Fall einer militärischen Operation zur Unterstützung von humanitärer Hilfe erst dann finalisiert und beschlossen werden, wenn eine Anfrage des Büros der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten - in Kurzform OCHA - vorliegt. Die geplante Operation EUFOR Libya soll, wenn OCHA darum ersuchen sollte, die Mandate der Resolutionen 1970 und 1973 des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen untermauern, indem sie erstens einen Beitrag zum sicheren Transport und zur Evakuierung von Staatsangehörigen dritter Staaten leistet und zweitens die humanitären Hilfsorganisationen bei ihrer Arbeit durch die Bereitstellung von spezifischen militärischen Fähigkeiten unterstützt.

Im Laufe der Eventualfallplanung wird das mit den operativen Planungen beauftragte Hauptquartier in Rom bei den EU-Mitgliedstaaten abfragen, ob und gegebenenfalls welche Kräfte sie zur Verfügung stellen würden. Für eine Antwort würde den Mitgliedstaaten natürlich eine gewisse Zeitspanne gegeben werden. Eine offizielle Anfrage nach Kräften würde voraussichtlich erst nach Annahme eines Operationskonzepts durch den Rat im Rahmen der Streitkräftegenerierungskonferenz stattfinden. Die Bundesregierung würde sich einer Anfrage von OCHA zur Absicherung und Unterstützung von humanitären VN-Hilfsleistungen durch die EU nicht verschließen. Auch die Nutzung der in Bereitschaft stehenden Verbände zur schnellen Krisenreaktion, der sogenannten EU-Battle-Groups, oder von Teilfähigkeiten ist möglich. Mit der Frage eines deutschen Beitrags wird sich die Bundesregierung im Lichte der zum Zeitpunkt einer eventuellen OCHA-Anfrage durch die EU anzustellenden Risiko- und Bedrohungsanalyse befassen. Zum jetzigen Zeitpunkt ist daher noch nicht klar, ob es sich dabei gegebenenfalls um einen mandatierungspflichtigen Einsatz handelt. Sollte dies der Fall sein, wird die Bundesregierung den Deutschen Bundestag zeitgerecht um Erteilung eines Mandates ersuchen.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:

Gibt es Nachfragen, Frau Dağdelen? - Bitte schön.

Sevim Dağdelen (DIE LINKE):

Vielen Dank, Herr Präsident. - Frau Kollegin Pieper, wir haben heute im Auswärtigen Ausschuss ganz kurz über Libyen gesprochen. Staatssekretär Born ist in diesem Zusammenhang auch kurz auf die EU-Battle-Groups eingegangen. Die Zuschauerinnen und Zuschauer möchte ich darauf hinweisen, dass Battle Group wörtlich übersetzt Schlachtgruppe heißt. Das ist ein Kampfverbund, also eine militärische Einheit.

In meiner dringlichen Frage habe ich vor allen Dingen gefragt, aus welchen Gründen die Bundesregierung dem Vorratsbeschluss, der besagt - das haben Sie richtig dargestellt -, dass erst einmal eine Anfrage vorliegen muss, im schriftlichen Verfahren, was sehr ungewöhnlich ist, zugestimmt hat. Sie haben noch nicht erklärt, warum man das gemacht hat. Ich möchte die Gelegenheit aber auch nutzen, um folgende Nachfrage zu stellen: Gibt es konkretere Planungen bezüglich des Einsatzes einer EU-Battle-Group? Bisher wurden sie ja noch nie eingesetzt, sondern sie waren immer nur im Stand-by-Modus. Wenn überhaupt, welche Battle Group soll dann zum Einsatz kommen? Laut Vorratsbeschluss kann es mit Zustimmung der Bundesregierung auch zu Einsätzen in Grenzregionen - Ägypten oder Tunesien - kommen. Ist aber auch ein militärischer Einsatz in Libyen in Erwägung gezogen worden, und wie steht die Bundesregierung zu dieser Frage?

Cornelia Pieper, Staatsministerin im Auswärtigen Amt:

Frau Abgeordnete, zu den Gründen will ich noch einmal ganz klar sagen: Wir wollen nicht, dass es zu einer humanitären Katastrophe in Libyen kommt. Ich glaube, dass Sie das auch nicht wollen. Es geht hier nicht um die Zustimmung zu einer militärischen Aktion, die Sie hinterfragen. Wir wollen die Durchführung einer humanitären Aktion ermöglichen. Der Weg bis dahin ist aber noch weit. Ich habe Ihnen das Verfahren gerade vorgestellt. Ich könnte das jetzt auch noch einmal vorlesen. Ich will an dieser Stelle aber daran erinnern, dass sich die UN eindeutige Richtlinien gegeben haben, die Sie kennen: die Osloer Richtlinie und die Richtlinie für "Military and Civil Defence Assets". Darin heißt es, dass der Einsatz militärischer Mittel "the last resort" ist. Es ist also das letzte Mittel, um humanitäre Katastrophen zu verhindern. Das will ich noch einmal eindeutig herausstellen. Zu Ihrer Bemerkung, "Battle Group" einfach wörtlich zu übersetzen, möchte ich Folgendes sagen: Eine Battle Group besteht aus insgesamt 2 000 Personen. Deutschland stellt für eine der beiden derzeit aktiven Battle Groups umfangreiche Komponenten zur Verfügung, insgesamt 990 Soldaten, darunter für den humanitären Einsatz besonders geeignete Kräfte wie Sanitäter und Pioniere. Ich möchte noch einmal ausdrücklich sagen: Die OCHA hält eine Anfrage nach militärischer Unterstützung für humanitäre Aktionen für derzeit nicht erforderlich, da eine ausreichende Bewegungsfreiheit der Helfer gegeben ist. Dennoch kann es eine solche Anfrage geben. Daher befasst man sich nun vorsorglich mit diesen Planungen. Das bedeutet nicht, dass diese dann auch umgesetzt werden. Bis dahin ist es noch ein weiter Weg. Es bedarf eines Operationskonzeptes und vieles andere mehr; aber das wissen Sie auch, Frau Abgeordnete. Deswegen stellen sich diese Fragen aktuell nicht.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:

Frau Kollegin Dağdelen, eine zweite Nachfrage. Bitte schön.

Sevim Dağdelen (DIE LINKE):

Vielen Dank, Herr Präsident. - Frau Staatsministerin, wir als Fraktion legen selber fest, ob eine Frage sinnvoll ist oder nicht. Sie sagen, die OCHA hält einen militärischen Einsatz mit Blick auf die humanitäre Situation im Moment für nicht notwendig. Da fragt man sich schon, warum ein Ministerrat, bevor er überhaupt zusammenkommen kann, im schriftlichen Verfahren einen solchen Vorratsbeschluss für einen Militäreinsatz fasst. Diese Frage ist durchaus legitim. Sie meinten, der Grund dafür wäre, dass man eine humanitäre Katastrophe verhindern wolle; das ist auch in unserem Sinne; da haben Sie recht. Es ist in unser aller Interesse, eine humanitäre Katastrophe abzuwenden.

Ich möchte dennoch gern wissen, inwiefern für die Bundesregierung dieser Vorratsbeschluss und ein eventueller militärischer Einsatz zur Unterstützung der Umsetzung humanitärer Hilfe vereinbar ist mit der alltäglichen Zurückweisung von Flüchtlingen an der Seegrenze durch die EU-Grenzschutzagentur FRONTEX - sofern sie nicht völlig seeuntüchtige Boote verwenden - und mit der Tatsache, dass mehrere EU-Mitgliedstaaten zeitgleich Luftangriffe auf Libyen durchführen, bei denen Menschen getötet werden, dabei die Lebensgrundlagen dieser Menschen zerstören, zu einer Eskalation und Verlängerung des Bürgerkrieges beitragen, was wiederum mehr Flüchtlinge und Hilfsbedürftige erzeugt.

Cornelia Pieper, Staatsministerin im Auswärtigen Amt:

Frau Abgeordnete, Sie wissen, dass sich die Bundesregierung, was die Flugverbotszone anbelangt, im UN-Sicherheitsrat bewusst der Stimme enthalten hat. Trotzdem sage ich Ihnen eindeutig: Wir werden nicht wegschauen, wenn es zu einer humanitären Katastrophe kommt. Die Lage der Flüchtlinge macht uns sehr betroffen. Wir haben das im Auge. Und weil wir das im Auge haben, hat der Außenministerrat vom 21. März 2011 Planungen für eine gemeinsame Unterstützung von humanitären Hilfsmaßnahmen der Vereinten Nationen und der OCHA aufgenommen; auch die Hohe Vertreterin Ashton wurde ersucht, Schlussfolgerungen zu ziehen. Das steht im Vordergrund unserer Bemühungen. Ich bitte Sie, nicht immer wieder zu unterstellen, dass die Bundesregierung dort militärische Aktionen beabsichtigt. Das ist nicht unser Ziel. Das haben wir bereits mehrmals deutlich gemacht.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:

Jetzt gibt es eine Frage der Kollegin Kolbe.

Daniela Kolbe (Leipzig) (SPD):

Vielen Dank, Herr Präsident. - Die Nachfrage, die sich mir aufdrängt, betrifft die Strategie der Bundesregierung im Fall von Libyen. Die Bundesregierung hat sich im UN-Sicherheitsrat enthalten, und zwar mit der Begründung, dass man sich nicht in diesen Konflikt einmischen möchte und auch nicht mit Truppen dort eingreifen will. Ich habe es so verstanden, dass es bei dem Beschluss zur Flugverbotszone und dem dort erteilten Mandat darum geht, humanitäre Katastrophen und Massaker des Diktators Gaddafi am eigenen Volke zu verhindern. Die Bundesregierung hat sich enthalten. Jetzt aber gibt es einen Vorratsbeschluss. Ich habe Sie so verstanden, dass eine militärische Beteiligung, also eine Beteiligung von deutschen Soldaten in Libyen, nun doch denkbar ist. Kann ich daran erkennen, dass sich die Bundesregierung in ihrer Strategie zum Thema Libyen korrigiert?

Cornelia Pieper, Staatsministerin im Auswärtigen Amt:

Nein. Wir haben deutlich gemacht - und das sage ich jetzt noch einmal -, dass wir nicht wollen, dass es dort zu einer humanitären Katastrophe kommt. Wir werden uns aber nicht an der internationalen Flugverbotszone beteiligen. Das zum einen. Zum anderen ist es auch wichtig, dass die Bundesregierung den Bündnispartnern zeigt, dass wir entsprechend unseren Möglichkeiten alles tun werden, um humanitäre Hilfe zu leisten. Wir haben die notwendigen Mittel dafür aufgestockt; das wissen Sie, Frau Abgeordnete. Sie wissen auch, dass die Bundesregierung sehr deutlich gemacht hat, dass Gaddafi weg muss, dass wir mit Sanktionen, die wir von Anfang an eingefordert haben, Druck auf Gaddafi und sein Regime ausgeübt haben. Die Bundesregierung hatte in Europa hier eine Vorreiterrolle eingenommen. Ich glaube, das ist der beste Weg, um Gaddafi zum Rücktritt zu zwingen. Sie können sicher sein, dass wir das auch weiter im Auge behalten werden.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:

Eine Frage der Kollegin Inge Höger.

Inge Höger (DIE LINKE):

Frau Pieper, meines Erachtens haben Sie die Frage meiner Kollegin Dağdelen immer noch nicht beantwortet. Im UN-Sicherheitsrat hat sich die Bundesregierung enthalten und bewusst gesagt, sie wolle nicht militärisch in den Konflikt in Libyen eingreifen, sondern sehe, ganz im Gegenteil, andere außenpolitische Maßnahmen als sehr viel wichtiger und erfolgversprechender an. Jetzt stimmen Sie einem EU-Einsatz zu. Das erschließt sich mir nicht. Für mich ist das ein Widerspruch. Ist das ein Strategiewechsel, oder gibt es eine konkrete Anforderung vonseiten der UN, dass sich nicht nur die NATO, sondern jetzt auch die EU militärisch an diesem Projekt beteiligen soll? Will sich die Bundesregierung an einer Militäroperation beteiligen?

Cornelia Pieper, Staatsministerin im Auswärtigen Amt:

Nein, es gibt keine konkreten Anforderungen. Die Bundesregierung wird sich auch nach diesem Vorratsbeschluss nicht zwangsläufig an militärischen Aktionen beteiligen. Hier geht es nicht um einen Automatismus. Ich will Ihnen noch einmal ganz klar sagen, was die VN-Leitlinien vorsehen: Diese fordern unter anderem, dass alle zivilen Möglichkeiten ausgeschöpft sein müssen, bevor überhaupt militärische Unterstützung für humanitäre Aktionen gewährleistet wird; das habe ich bereits gesagt. Militärische Unterstützung ist erst als letztes Mittel anzuwenden. Dafür - das habe ich auch schon gesagt - gibt es derzeit keine Anfragen.

Quelle: Stenografische Berichte des Deutschen Bundestags, Sitzung vom 6. April 2011, S. 26; www.bundestag.de


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