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Libyengespräche in Berlin?

Russischer Gesandter verweist auf Kontakte Regierung–Rebellen *

Zwischen der libyschen Staatsführung und den Rebellen hat es nach Angaben des russischen Libyengesandten Michail Margelow auch in Deutschland direkte Gespräche gegeben.

Libyens Ministerpräsident Bagdadi Mahmudi habe ihm gesagt, dass Regierungsbeamte aus Tripolis in europäischen Hauptstädten Kontakt mit Vertretern aus der Rebellenhochburg Bengasi aufgenommen hätten, sagte Margelow am Freitag (17. Juni) nach einem Treffen mit dem tunesischen Außenminister Mohamed Mouldi al-Kefi in Tunis. Entsprechende Gespräche habe es in Paris, Berlin, Oslo und weiteren Städten gegeben. Der russischen Nachrichtenagentur ITAR-TASS zufolge gab es ebenfalls Kontakte in Tunis. Der Bericht wurde in Berlin nicht bestätigt.

Auch aus Paris hieß es, es lägen »keine Informationen« über ein Treffen von Gaddafi-Getreuen und Rebellen in der französischen Hauptstadt vor. Der libysche Übergangsrat bestritt ebenfalls, dass es Gespräche mit Vertretern der Regierung von Muammar al-Gaddafi gegeben habe. Mahmudi habe ihm sagen wollen, dass es »eine Art Kommunikationssystem mit dem Nationalen Übergangsrat« der Rebellen gebe, sagte Margelow, der am Donnerstag mit dem libyschen Regierungschef in Tripolis zusammengekommen war, zunächst aber nur von Paris als Verhandlungsort gesprochen hatte.

Margelow betonte zugleich, alle Anstrengungen Libyens für eine nationale Aussöhnung müssten unterstützt werden. »Eine politische Krise kann nicht mit militärischen Mitteln gelöst werden.« Er sei überzeugt, dass sich die verschiedenen libyschen Parteien an den Verhandlungstisch begeben müssten. Die Libyer bedürften eines Mechanismus, der sie vereine, »und wenn die internationale Gemeinschaft zu einem solchen Mechanismus beitragen kann, wäre das eine gute Sache«, erklärte Margelow. Neben libyschen Regierungsvertretern und Rebellen müssten auch »libysche Eliten im Ausland« beteiligt werden.

Unterdessen lehnen die USA Neuwahlen zur Lösung der Krise in Libyen ab. Derartige Vorschläge aus dem Umfeld des libyschen Staatschefs Muammar al-Gaddafi kämen »ein bisschen spät«, sagte die Sprecherin des US-Außenministeriums, Victoria Nuland, in Washington. Sie forderte Gaddafi erneut zum Rücktritt auf. »Es ist Zeit für ihn zu gehen«, sagte sie. Gaddafi sei mehr und mehr isoliert, seine Tage seien gezählt.

Der Gaddafi-Sohn Seif al-Islam hatte in einem Interview mit der italienischen Zeitung »Corriere della Sera« Neuwahlen innerhalb von drei Monaten und spätestens bis Ende des Jahres angeboten. Dabei rechnete er mit einem Sieg der jetzigen Führung. Als Wahlbeobachter würde Tripolis nach seinen Worten die EU, die Afrikanische Union, die UNO und »selbst die NATO« akzeptieren.

Die NATO hat am Freitagmittag (17. Juni) Ziele im Osten von Tripolis bombardiert. Mehrere Explosionen wurden in den Stadtteilen Ain Sara und Tadschura registriert, berichteten Augenzeugen. Zunächst war nicht klar, was getroffen wurde und ob es Opfer gab. Die Flugzeuge des nordatlantischen Bündnisses fliegen ihre Angriffe meist nachts oder in den frühen Morgenstunden. Vor einigen Wochen ging die NATO dazu über, gelegentlich auch am Tag zu bombardieren.

Gaddafi hält nach Schätzungen des kanadischen Generals Charles Bouchard Tausende Clan-Chefs und andere einflussreiche Persönlichkeiten als Geiseln in seiner Gewalt. Er wolle damit einen Massenaufstand der Bevölkerung verhindern, erklärte der Oberbefehlshaber der NATO-Militäraktion gegen Libyen der Pariser Zeitung »Le Figaro«.

* Aus: Neues Deutschland, 18. Juni 2011


Schwere Vorwürfe an NATO

Luftangriffe sollen in Tripolis neun Zivilisten getötet haben **

Die libysche Regierung hat der NATO vorgeworfen, bei einem Luftangriff auf ein Wohngebiet in der Hauptstadt Tripolis neun Zivilisten getötet zu haben, darunter zwei Kinder.

Libysche Behördenvertreter führten ausländische Journalisten in der Nacht zum Sonntag zu den Trümmern eines zweistöckigen Hauses im Wohnviertel Al-Arada, aus denen Rettungskräfte zwei Leichen bargen. In einem Krankenhaus wurden den Reportern zudem die Leichen von zwei Kleinkindern und einer Frau gezeigt. Nach libyschen Angaben wurden insgesamt neun Menschen getötet, darunter fünf Mitglieder einer Familie, und 18 weitere verletzt. Ein Sprecher der Führung von Staatschef Muammar al-Gaddafi beschuldigte die NATO, bewusst auf Zivilisten zu zielen. Er betonte, die Toten und die Zerstörung seien keine »Propaganda«.

Die NATO bestätigte am Sonntag (19. Juni), dass in den vergangenen 24 Stunden Angriffe in Tripolis geflogen worden seien. Dabei wurde laut NATO ein Raketenlager in der libyschen Hauptstadt zerstört. Weitere militärische Einrichtungen seien in der Umgebung getroffen worden, darunter ein Befehlszentrum. Ein NATO-Sprecher erklärte, das Bündnis nehme »alle Berichte über den Tod von Zivilisten ernst«. Sollte sich bei der Prüfung der Vorwürfe herausstellen, dass tatsächlich Zivilisten durch NATO-Beschuss umgekommen seien, würde das Bündnis dies »sehr bedauern«. Bereits am Sonnabend hatte sich die NATO für den versehentlichen Beschuss libyscher Rebellen in dem Gebiet um die ostlibysche Ölstadt Brega entschuldigt.

In einer am Freitagabend (17. Juni) vom Staatsfernsehen übertragenen Audiobotschaft drohte Gaddafi der NATO einen erbitterten Kampf an. Gleichzeitig bekräftigte sein Regierungschef Baghdadi Mahmudi russische Angaben über Gespräche zwischen der libyschen Führung und den Rebellen. Diese wurden vom Chef des Nationalen Übergangsrates, Mahmud Dschibril, umgehend dementiert.

In Kairo sprach sich eine Libyen-Konferenz für einen »politischen Prozess« zur Beilegung des Konflikts aus. Dieser Prozess müsse den »legitimen Bestrebungen des libyschen Volkes« entsprechen, hieß es in der Abschlusserklärung der Konferenz, an der neben der Arabischen Liga Vertreter von UNO, EU, der Afrikanischen Union und der Organisation der Islamischen Konferenz teilnahmen.

** Aus: Neues Deutschland, 20. Juni 2011


"Friendly fire"

NATO bombardiert Zivilbevölkerung

Von Werner Pirker ***


Der vorgeblich zum Schutz der libyschen Zivilbevölkerung geführte Bombenkrieg der NATO fordert zunehmend zivile Opfer. In der Nacht zum Sonntag sind nach Angaben der libyschen Regierung mehrere Zivilisten bei einem Luftangriff getötet worden. Auch wenn Sprecher der NATO gezielte Angriffe auf Wohngebiete bestreiten, deutet doch einiges darauf hin, daß die High-Tech-Hunnen zu einem Zermürbungskrieg gegen die Zivilbevölkerung übergegangen sind. Man erhofft sich so, die Bewohner von Tripolis zu regierungsfeindlichen Handlungen aufstacheln zu können. Nach dem Muster des Jugoslawien-Krieges soll durch die Zerstörung der Lebensgrundlagen der Menschen ein Regimewechsel erzwungen werden, der in Belgrad freilich nicht unter dem unmittelbaren Eindruck der militärischen Niederlage, sondern erst eineinhalb Jahre später erfolgte. Die Rolle der NATO-Bodentruppen war damals von der kosovo-albanischen UCK übernommen worden.

Das »friendly fire« ist ein in NATO-Kriegen immer wieder zu beobachtendes Phänomen. Die Befreier bringen die »Gepeinigten« um, noch bevor sie sie befreit haben. Nicht wenigen Kosovo-Albaner ist ihr Jubel über die NATO- Bomben im Hals steckengeblieben. Da kommt es dann auch schon mal vor, daß verbündete Truppen als feindliche identifiziert werden. In der vergangenen Woche wurde in Libyen, »um«, wie es offiziell hieß, »die Zivilbevölkerung zu schützen«, eine Fahrzeugkolonne vermeintlicher Ghaddafi-Getreuer von Kampfflugzeugen angegriffen. Getroffen wurde eine Rebellen-Patrouille.

Überhaupt scheint es um das Verhältnis zwischen Bodentruppen und Luftwaffe nicht zum besten zu stehen. Nicht nur, daß die Rebellen den ihnen von der NATO-Luftwaffe erbombten Vorteil kaum zu nutzen verstehen, klagen sie nun auch noch über Geldnöte. Der Westen sei die versprochenen Zahlungen aus den eingefrorenen Konten Ghaddafis schuldig geblieben, ließ der für Finanzen und Öl verantwortliche Rebell Ali Tarhuni wissen.

Es ist schon eine seltsame Befreiungsbewegung, die da ihre totale Abhängigkeit von westlicher Unterstützung öffentlich kundtut und sich auch noch ungerecht behandelt fühlt. Man kann es den imperialistischen Warlords nicht einmal verdenken, gegenüber solchen Gestalten Vorsicht walten zu lassen. Das sollte aber auch jenen zu denken geben, die sich den arabischen Aufstand als Gesamtkunstwerk erträumen und zwischen Revolution und Konterrevolution nicht mehr zu unterscheiden wissen.

*** Aus: junge Welt, 20. Juni 2011 (Kommentar)

Auch das noch! RIA Novosti meldet:

Kein Geld mehr: Libyens Rebellen fürchten Fiasko im Krieg gegen Gaddafi

Die libyschen Rebellen, die sich seit Monaten erbitterte Gefechte gegen die Truppen von Machthaber Muammar al-Gaddafi liefern, haben nach eigenen Angaben ihre Finanzen ausgeschöpft und stehen nun vor einem Debakel.

"Uns geht alles zur Neige. Das ist ein volles Fiasko", sagte der Öl- und Finanzminister der Rebellen, Ali Tarhouni, in einem Gespräch mit der Agentur Reuters.

Er beschuldigte die westlichen Verbündeten, die den Rebellen Zahlungen aus den gesperrten Konten Gaddafis versprochen hatten, ihre Zusagen nicht eingehalten zu haben. "Entweder verstehen sie (die westlichen Staaten) es nicht oder ihnen ist egal", sagte Tarhuni. "Wir reden mit so vielen Menschen in all diesen Ländern und auf all diesen Konferenzen und sie halten großartige Reden. Politisch begrüßen wir das, aber was die Finanzen anbetrifft, wird gar nichts getan. Unsere Leute sterben."

Laut Reuters liegt die Ölproduktion in den von den Rebellen kontrollierten Gebieten wegen schweren Kämpfen lahm, was die Finanzlage der Aufständischen deutlich erschwert.

In Libyen liefern sich die Truppen des langjährigen Machthabers Muammar al-Gaddafi seit Februar erbitterte Gefechte mit der Opposition, die Gaddafis Rücktritt fordert. Die Rebellen werden von westlichen Staaten militärisch unterstützt und kontrollieren viele Gebiete in Ostlibyen.

Der UN-Sicherheitsrat öffnete am 17. März mit der Resolution 1973 Tür und Tor für ein internationales Eingreifen, um die Zivilbevölkerung in Libyen zu schützen und Waffenimporte für Gaddafi unmöglich zu machen. Seitdem hat die Nato mehr als 3 000 Luftangriffe gegen vom Gaddafi-Regime kontrollierte Militäranlagen und Städte in Libyen geflogen.

Außerdem verhängte das Weltgremium finanzielle und andere Strafmaßnahmen gegen Gaddafi. Die Konten des libyschen Machthabers in den USA und vielen weiteren Staaten wurden gesperrt. Bereits im Mai kündigte US-Außenministerin Hilary Clinton an, die USA würden das gesperrte Vermögen anzapfen, um die libyschen Rebellen finanziell zu unterstützen.

** Aus: Russische Nachrichtenagentur RIA Novosti, 19. Juni 2011; http://de.rian.ru




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